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Die grossen Augen der Barbara Dickow

Gegen 11 Uhr heute Vormittag ist sie gestorben. Stählerne Klauen beendeten nach über 65 Jahren ihr Leben und nun sind ihre Überreste abtransportiert, liegen draußen vor den Toren der Stadt auf dem Acker des Vergessens und mir ist ehrlich gesagt, eine kleine Träne die Wange heruntergelaufen, als es dann vorbei war.

Sie, das ist die Filmbühne, das alte Kino vorne an der Bebelstraße Ecke Mönkersweg. Meine Güte, wieviele Stunden mag ich da wohl zugebracht haben?
Das erste Mal daß ich im Kino war, ich erinnere mich noch ganz genau daran, das war in einem anderen Kino in der Stadt. Es war einer jener Filmpaläste mit dicken roten Teppichen und einer ebenso dicken Platzanweiserin mit Taschenlampe. Sie spielten damals „Pippi Langstrumpf“, der Film war gerade herausgekommen. Meine Mutter hatte mir den Kinobesuch spendiert, was etwas ganz Besonderes war, denn sie ging nicht gerne ins Kino. Mein Großvater hatte nämlich immer gesagt: „Im Kino, auf dem Jahrmarkt und bei den Kommunisten, da holt man sich Läuse.“
Umso wertvoller war damals dieser Kinobesuch für mich, zumal es hinterher noch Eis im Café Reulenberg gab.

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Ganz im Gegensatz zu meiner Mutter hat mir der Kinobesuch so gut gefallen, daß ich von da an Stammkunde in der „Filmbühne“ vorne an der Ecke wurde. 80 Pfennige kostete der Eintritt und der Kinobesitzer ließ einen auch manchmal rein, wenn man nur 70 Pfennige hatte. Gespielt wurden unsäglich schlechte Frankenstein-Filme aus Japan, die mit Frankenstein überhaupt nichts zu tun hatten und bei denen ganze Quadratkilometer von Modelleisenbahnlandschaften von immer neuen und immer größeren Monsterkreaturen aus Gummi zermalmt wurden. Auch die ganzen „Pauker-Filme“ liefen dort rauf und runter und natürlich alles von Old Shatterhand und seinem roten Bruder Winnetou.

Sonntag nachmittags war dort in der Filmbühne die Kinder- und Jugendvorstellung und nur notdürftig hatte der Kinobesitzer die Plakate im Eingangsbereich zugehängt, damit uns Kindern durch die dort abgebildeten barbusigen Damen und alten geilen Männern in Lederhosen nicht der Appetit aufs spätere eheliche Pflichtprogramm verdorben wurde. Popcorn? Daran war gar nicht zu denken, das kannte man noch gar nicht, Eiscreme von Langnese gab’s und keiner von uns Kindern hatte Geld, um auch nur ein einziges Mal Jutta, die Tochter des Kinobesitzers, herbeizurufen, wenn sie nach dem Vorfilm und der Langnese-Reklame mit ihrem Bauchladen ins kurzfristig wieder erleuchtete Kino kam. Drei Minuten ging sie auf ihren langen Beinen umher und rief: „Langnese!“, doch keiner winkte sie herbei und dabei hätte doch so manch einer ganz gerne mal zu ihr hinübergewunken…

In Reihe 17, der vorletzten Reihe, saßen immer die hübschen Mädchen, die die schon Brüste hatten und sich somit als Frau fühlen durften und somit war klar, daß alle Jungs, die schon ganze Kerle waren, unbedingt in Reihe 18 sitzen mußten, denn so konnte man im Dunkeln, von hinten ein wenig munkeln. Sex, da wußten wir damals noch gar nicht was das war, und während heute 11- und 12-jährige von überbesorgten Eltern zum Psychologen geschleift werden, weil sie noch keinen Sex hatten, waren wir damals auf dem Gipfel der erotischen Glückseligkeit, wenn wir im Dunkeln mal der, zugegebenermaßen nicht besonders intelligenten, Barbara Dickow von hinten an die Brüste grapschten.

Wir? Nunja, ich gebe zu, ich habe nie bei Dickows Bärbel gegrapscht, aber es war schon spannend genug, zu wissen, daß da hinten irgendeiner das goldene Los der Reihe 18 gezogen hatte und eventuell, wenn alles gut ging, einmal hingreifen konnte.
Ich erinnere mich noch ganz genau an jenen denkwürdigen Tag im November des Jahres 1971 als eine ganze Horde junger Burschen aus dem Nachbarort so frühzeitig an der Kinokasse waren, daß sie alle Karten für die Reihe 18 abgreifen konnten. Als dann in gewohnt lässiger Marnier die üblichen 18er-Kandidaten auf ihren Bonanza-Rädern (für Österreicher: High-Riser) angeradelt kamen und sich mit der verpflichtend in der linken hinteren Tasche der Jeans mitgeführten Haarbürste durchs mädchenhafte Flatterhaar gefahren waren, mußten sie an der Kasse enttäuscht erfahren, daß durch den frühzeitigen Ausverkauf der 18er-Karten dieses Mal keiner von ihnen eine Chance auf Bärbels dicke Tittchen haben würde.
Dietmar Losseck war es, dem die rettende Idee kam und so kauften sich die Bonanza-Burschen alle Karten für Reihe 13 und malten mit einem schwarzen Kuli die Dreier zu Achten um.
Man kann sich sicherlich leicht vorstellen, was das für eine Keilerei in Reihe 18 gab…

Die Vorstellung begann an diesem Tag eine ganze Stunde später.

Eine Stunde später?
Au weia!

Ich muß kurz erzählen, daß ich von meinem Elternhaus zum Kino einen nur kurzen Weg zurückzulegen hatte. Dieser führte aber unabdingbar über den alten Friedhof. Am frühen Nachmittag, auf dem Weg hin zum Kino, da war das kein Problem. Die schiefen Grabsteine auf längst verfallenen Gräbern wurden von der Sonne beschienen, die Vögel zwitscherten und alte Leute saßen auf den Bänken längs des Weges.
Auch beim Rückweg nach der Vorstellung war es immer noch hell.

Doch an diesem Tag im November fing die Vorstellung, wegen der denkwürdigen Keilerei um Bärbels Tittchen, eine Stunde später an und sie zeigten einen so schrecklichen Monsterfilm, daß ich meinen damals besten Freund, meinen dunkelblauen Anorak, mehrmals zur Hilfe nehmen mußte. Diesen dunkelblauen Anorak zog ich nämlich während der Vorstellung niemals aus. Wurde der Film gar zu schrecklich und wurden die Bedrohungen von Monstern, Mördern und Halunken auf der Leinwand gar zu real, dann zog ich einfach die Kapuze über, wurde kurz zum kleinen blauen Kapuzenmönch, und mußte das Schreckliche nicht mitansehen.

Durch die einstündige Verspätung aber endete der Film an diesem Tag so spät, daß es schon dunkel war als ich über den Friedhof mußte. Kein Vogel sang mehr, keine alten Leute grüßten von den Parkbänken und die schiefen Grabsteine warfen grauenerregende Schatten im Licht der altersschwachen Laterne am Eingang.
Wenn an der Südseite des Friedhofes Autos vorbeifuhren, bildeten sich Schatten, die wie Finger nach mir zu greifen schienen und ich gestehe freimütig, ich hatte eine Heidenangst.
Eben noch hatte das Monster der Südsee zahlreiche harmlose Menschen gefressen und mit seinen schleimigen, krallenbewehrten Klauen nach schönen jungen Blondinen gegriffen und jetzt stand ich da auf diesem alten Friedhof und die Schatten der Gräber griffen nach mir. Mein Gott, ich war damals doch auch blond!

Ein Gutes hatte das Ganze, ich wurde im Laufe der Zeit ein wirklich guter 100-Meter-Läufer…

Später ging ich dann nicht mehr ins Kino.
Wir hatten dann auch das zweite Programm, das Kino wurde teurer und man zeigte Fassbinder. Das wollte keiner sehen.
Die Bärbel mit den dicken Augen bekam im Laufe der Zeit sechs Kinder von vier verschiedenen Männern, die alle feste zahlen mußten und jeder war froh, daß an dem Gerücht, vom Tittchenfassen könnt‘ man schwanger werden, nichts dran war. Die Filmbühne hat Fassbinder nicht überlebt… Aus ihr wurde ein Möbellager von Küchen Wolff, der immer damit Reklame machte, daß er Einbauküchen innerhalb von 14 Tagen komplett liefert und einbaut. Tante Ruth wartet heute, sieben Jahre nach der Bestellung, immer noch auf eine Kranzleiste für das kleine Schränkchen hinten links.
Ich glaub‘ der Küchen-Wolff ist inzwischen sogar gestorben.

Jetzt ist auch die Filmbühne gestorben, hat Platz gemacht für sechs Niedrig-Energie-Häuser und ich weiß jetzt schon, was da für Leute einziehen werden…


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Lesezeit ca.: 9 Minuten | Tippfehler melden | Peter Wilhelm: © 2. September 2009 | Revision: 28. Mai 2012

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15 Kommentare
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Marlene
15 Jahre zuvor

Ein Stück ganz große Erzählkunst!

Matthias
15 Jahre zuvor

Ganz großes Kino!
Und jetzt wohnen da die sechs Kinder der Barbara. So schließt sich der Kreis 🙂

Michael
15 Jahre zuvor

Schöne Geschichte. Den Film Cinema Paradiso kennst du? Wenn nicht, unbedingt ansehen, es gibt ihn mittlerweile auch auf DVD.

Ma Rode
15 Jahre zuvor

http://de.wikipedia.org/wiki/Cinema_Paradiso

Genauso sehenswert wie dieser Artikel hier lesenswert ist!

Christian
15 Jahre zuvor

Ich will nicht wissen wieviele Zugriffe Google heute auf folgende Suchbegriffe haben wird:

Bebelstraße
Mönkersweg
Cafe Reulenberg
Filmbühne

🙂

flavius
15 Jahre zuvor

Schöne Geschichte. Falls Cinema Paradiso, dann bitte gleich den Directors Cut, ganz grosses Kino. Es gibt auch ein Chinesisches Pendant (Meng ying tong nian/Electric Shadows), da wird aber nicht ganz soviel Unsinn im Kino gemacht.

Neuling
15 Jahre zuvor

Herrlich, die „Schlacht [strike]um die[/strike] am dicken Hügel“.

Gut erzählt, das Kino findet gerade nicht nur auf der Leinwand statt, die Vorstellung kommt auch ohne Projektor aus 🙂

Svnshadow
15 Jahre zuvor

*g* die ersten kinobesuche….. lang lang ists her… nicht so lange wie beim undertaker und auch nicht so interessant in den hinteren reihen…. aber irgendwie wars schon was besonderes ^^

15 Jahre zuvor

Super Geschichte. Wirklich! toll geschrieben 🙂

15 Jahre zuvor

Kennst du das Lied „Schraders Filmpalast“ von Reinhard Mey? Daran fühle ich mich gerade erinnert… Sehr schönes Lied, genauso wie dein Text im Übrigen!

bee
15 Jahre zuvor

Mit der Wegstrecke vom Lichtspiel nach Hause bewiesen: die ersten Beschäftigungen als Jugendlicher mit dem anderen Geschlecht sind für die spätere Berufswahl von entscheidender Bedeutung 😉

Kiki
15 Jahre zuvor

Ohhh… da werden Erinnerungen wach… *seufz*
Unser Kino damals hieß „Traumfabrik“ und gibt es leider schon seit über 10 Jahren nicht mehr!

Peter
15 Jahre zuvor

GAAANNZZ großes Kino!!!

Gogglebruder
15 Jahre zuvor
MacKaber
15 Jahre zuvor

Wir hatten hinten sogar Logen.
Wir schauten gern Heimatfilme wie Jägerblut, Unterm Dirndl wird gejodelt, Heimatlos mit Freddy oder die ersten Kolle-Filme.
Richtig aber toll war’s im Franzosenkino.
Da kostete es nur die Hälfte. Sämtliche bekannten Abenteuerfilme konnte man dort auf französisch sehen. Man durfte aber nur hinein, wenn man so tat als sei man ein Kind der französischen Offiziere, und dazu ein akzentfreies: „Un ticket s’il vous plait et un glace“ herausbrachte.




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