Geschichten

Die Muräne und der Heuschnupfen

Eine Geschichte von Leser Josef, der das so erlebt hat:

Ich möchte es vorweg sagen, ich schreibe diese Geschichte nicht, um Mitgefühl zu erregen.

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Es geht mir darum, die Situation eines Hartz-IV-Empfängers aufzuzeigen. Ich erzähle das auch, damit alle die noch nie davon betroffen waren, eine Vorstellung bekommen.

Ich habe gerade meine Frau verabschiede: Die Glückliche, sie geht zur Arbeit.
Ich hingegen erledige zu Hause den Abwasch. Danach schaue ich, wie jeden Tag, auf der Seite der Agentur für Arbeit nach Stellen. Die gibt es nicht.
Leider bin ich keine 24 Jahre mehr alt, habe keinen Bachelor und bin auch nicht der Richtige für eine kreative Teamarbeit in einem jungen Startup in Potsdam.
Und was ein After-sales-Keyaccount-Supervising-Controller-Management-Assistant-Hero-of-the-Burgerbar ist, weiß ich auch nicht, ich möchte es auch nicht herausfinden.
Trotzdem bewerbe ich mich bei allen Stellen, die für mich auch nur im Entferntesten geeignet sein könnten.

Auf zu Feinkost-Albrecht. Da ist es günstig. Dort wo sie Lebensmittel lieben, kann ich schon lange nicht mehr einkaufen, da ist es zu teuer.
Als ich von ALDI zurückkomme, war der Brief Zusteller schon da. Die Klappe des Briefkastens wird an ihren maximalen Öffnungswinkel gedrückt, so dick ist der Briefstapel.

Es sind heute außergewöhnlich viele Absagen, fünf an der Zahl.

„Leider haben wir in unserem jungen, dynamischen und an maximaler Effizienz orientierten Team keine passende Stelle mehr für sie.“

Als Krönung der guten Nachrichten fiel ein kleiner Umschlag aus dem Stapel. Das graue Recyclingpapier liess mich nichts Gutes ahnen.

Die Muräne hatte mir eine Einladung geschickt.

Die Muräne ist meine ganz persönliche, superfreundliche und ebenso super hilfreiche Betreuerin bei der Agentur für Arbeit.
Sie lädt mich ein zum alle sechs Monate stattfindenden Gespräch.
Manche nennen diese Gespräche auch Hausschlachtung.

Am Montag der darauffolgenden Woche war der große Tag.
Ich hatte keine Lust, überhaupt aufzustehen. Nicht wegen der Müdigkeit, nicht aus Faulheit, sondern weil ich wußte, daß dies ein höchst unangenehmer Termin werden würde.

Um acht Uhr war der Termin. Ich war schon zwanzig Minuten vorher da.

Bei diesen Gesprächen muss man sich rechtfertigen. Warum man noch keine Arbeit gefunden hat. Und was man aktiv dagegen unternimmt.
Die Muräne kontrolliert dann die Anzahl der Bewerbungen und spricht sie mit mir durch. Vierundzwanzig in sechs Monaten waren damals Pflicht.

Besser aber war, man hatte das Doppelte, dann war das Gemeckere weniger.
Auf gar keinen Fall darf man unter der vorgeschriebene Anzahl bleiben. Dann droht einem Geldkürzung.

Mit schlechtem Bauchgefühl ging ich auf das Gebäude zu.
Ich bin Musikfan und zu Alltagssituationen gehen mir manchmal Melodien durch den Kopf.
Ich hörte gerade die auf einer Mundharmonika gespielte Musik eines sehr bekannten Western-Films. Ich ging die Treppe hoch, und setzte mich auf die Bank. Während ich in meiner Tasche guckte, ob ich die Unterlagen vollständig habe, und nach Verbandsmaterial, um vielleicht später die Bisswunden von der Muräne notdürftig versorgen zu können, wurde es laut.

Der Kunde im Nachbarbüro hatte seinen Termin verschlafen und zu wenig Bewerbungen.
Er bekam zwanzig Prozent Geldkürzung und jede Menge Bewerbungsvorschläge.

Ich frage mich: Wie kann man, wenn so viel Zeit da ist, seinen Termin vergessen? Wie kann man, wenn man in das System eingebunden ist und die Spielregeln kennt, mit viel zu wenig Bewerbungen beim Gespräch aufkreuzen?

Zu dieser Zeit war die Muräne noch neu für mich. Ich kannte sie nur vom Hörensagen. Sie war mir vor ein paar Monaten als Sachbearbeiterin zugeteilt worden. Ich hatte sie noch nie gesehen.

Vor meinem geistigen Auge hatte ich eine Art Mutti-Typ, leicht adipös, die sich und die Welt aber vor allen Dingen ihre Kunden haßte.
Dann ging die Tür des Büros auf, in das ich hinein mußte. Mein Vorgänger hatte keine auffälligen Verletzungen, und ging noch aufrecht, das ließ sich ja gut an!

Als ich das Büro betrat, war ich sehr erstaunt, die Stimme die ich vom Telefon kannte, paßte nicht zu dieser Frau.
Sie war sehr hübsch, und als sie mir ihre Hand gab war es nicht unangenehm. Sie eröffnete das Gespräch, und erzählte mir daß sie aus dem Osten stammt, und Sozialpädagogik studiert hatte.
(Um das zu verdeutlichen: Ihre Stimme hätte sehr gut zu einer Mähdrescherfahrerin in der Ernst-Thälmann-Brigade-Getreide-Drusch gepasst).

Im weiteren Verlauf des Gesprächs erzählte sie mir freudestrahlend, dass sie für mich eine ganz tolle Maßnahme hätte!

Ich sagte, dass ich mich freue – die Wahrheit will dort niemand hören.

Sechs Monate soll die Maßnahme dauern.

„Und dann Herr XXX sehen wir uns ja auch schon wieder, und sprechen über die erreichten Ziele.“

Die Verabschiedung hielt mich davon ab, mich vor Vorfreude auf dem Boden zu wälzen.

Ich hatte schon zwei von diesen absolut nutzlosen Kursen zur statistischen Bereinigung mitgemacht.
Drei Ziele werden in diesen Maßnahmen auf jeden Fall immer erreicht: Die Arbeitslosen werden immer frustrierter, die Konten der Veranstalter immer voller und die Muräne hat mich 6 Monate von der Backe.

In der allerersten Maßnahme hatte ich gelernt mit einem Computer umzugehen.
„Nun fassen Sie mit der rechten Hand die Maus und schieben Sie sie auf dem Tisch hin und her. Zum Mitschreiben bitte: Linkshänder können die Maus auch mit der linken Hand bedienen.“

Der Rest ist Schweigen.

Jedenfalls hat mich diese Computer-Lehrgangsmaßnahme nicht weitergebracht.
Auch die neue Maßnahme wird mir nichts bringen. Diese Maßnahmen bringen niemandem was. Ganz beliebt ist ja auch der Staplerschein. Offenbar ist man seitens des Bundesarbeitsministeriums der Meinung, ganz Deutschland suche verzweifelt nach älteren Maurern, Tischlern, Dachdeckern, die einen niegelnagelneuen Staplerschein haben. Die Krönung sind die arbeitslosen Bürokaufleute, Männer, die keine körperliche Arbeit gewohnt sind, keine solche gelernt haben, die aber über ausreichende PC-Kenntnisse verfügen. Auch die schickt man in den EDV-Kursus und auch die lernen, daß man als Linkshänder auch links mausen darf, und auch die machen den Staplerschein…

Neben der Ankündigung einer neuen Maßnahme für mich hatte mir die Muräne auch acht Vermittlungsvorschläge mitgegeben. Es wären mehr gewesen, wenn nicht ihr Druckerpapier alle gewesen wäre. Den Rest würde sie mir am nächsten Tag dann zuschicken.
Es ist ein witzloses und von wenig Erfolg gekröntes Spiel. Sie erfüllt ihr Soll, wenn sie mir einen Haufen Stellenvorschläge schickt; und ich erfülle mein Soll, wenn ich mich brav darauf bewerbe. Daß da wieder nichts für mich dabei sein würde, das weiß sie, das weiß ich, aber wir sind in diesem System gefangen.

Aber schließlich war bei dem letzten Bombardement von Vermittlungsvorschlägen eine Stelle dabei. Nein, es war keine Stelle in meinem Beruf, es war auch kein Job, den ich schon mal gemacht hatte, aber es war wenigstens ein Job.
Ich habe ihn heute noch.
Ich wurde Sicherheitsmann.
Der alte, knorrige Vorgesetzte gab mir den Vorzug vor einem fast dreißig Jahre jüngeren Mann.
Was ihn von mir überzeugt hat, war die Tatsache, dass ich in meiner alten Firma zwanzig Jahre beschäftigt war, und mein sehr gutes Zeugnis.

Jetzt waren alle zufrieden, die Muräne, das sie mich doch noch losgeworden ist, und ich, weil endlich wieder eine Arbeit vorhanden war.

Manchmal, wenn ich von solchen Gesprächen nach Hause kam, setzte ich mich erstmal hin, und döste ein.

Ich hatte wieder einen Traum.
Ich stand mitten auf einem Weg, der durch riesige landwirtschaftliche Flächen führte. Eine Blaskapelle zog an mir vorbei, in der Mitte ein Aktivist-Traktor, der einen Anhänger zog.
Auf ihm stand der Arbeitsminister und warf Vermittlungsvorschläge in die nicht vorhandene Menschenmenge.
Er rief: „Kommt alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch Erleichterung verschaffen!“
Dahinter marschierten Soldaten, die sangen „Die ARGE hat immer Recht!“

Ich fing einen dieser Umschläge auf, und öffnete ihn. Ein weißer Zettel mit der Aufschrift „Niete“ war drin.

Als der Zug außer Sichtweite war, kehrte wieder Ruhe ein. Nach einer Weile hörte ich einen großen Motor dröhnen, ich blickte angestrengt in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Dann erkannte ich einen Fortschritt-Mähdrescher, der näher kam.
Als der Mähdrescher in meiner Höhe war, hielt er an, und ich fragte ob er mich in das nächste Dorf mitnehmen könnte.
Die Fahrerin sagte ja. Irgendwo hatte ich diese muränenartige Stimme schon mal gehört!?

Die Fahrerin war sehr hübsch, ein Kopftuch umhüllte ihr apartes Gesicht. Sie fragte, ob wir nicht eine Pause an der Scheune da hinten machen sollten. „Ja“, sagte ich, „ich bin auch sehr erschöpft!“
An der Scheune angekommen, stieg ich von dem Mähdrescher ab und rannte voller Vorfreude auf das Tor zu. Es öffnete sich plötzlich, und vor mir stand meine Frau! Sie trug eine Uniform der Volkspolizei, und drosch mit einem Gummiknüppel auf mich: „Du treuloser Hund!“

Ich blickte mich hilfesuchend zur Fahrerin des Mähdreschers um. Sie stand plötzlich hinter mir mit einem riesigen Schraubenschlüssel in der Hand, und rief: „Jetzt geben wir dir den Rest!“

Ich wachte schweißgebadet auf, und machte mich erstmal frisch inklusive Hemdenwechsel.
Dann kochte ich Kaffee, meine Frau würde gleich von der Arbeit nach Hause kommen.
Als ich ihr erzählte, dass ich wieder Arbeit hatte, war sie sehr glücklich.
Meine Augen wurden feucht! Aber das war natürlich nur eine Heuschnupfen Attacke, was trieb ich mich auch zur Erntezeit in einer Kolchose rum…….

von Josef

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    #arbeit #Heuschnupfen #Muräne

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