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Die Stell-Dich-nicht-so-an-Krankheit

Ich hatte Rücken.
Bei uns im Ruhrgebiet hat man bekanntlich keine Rückenschmerzen, sondern man hat schlicht und ergreifend Rücken.
Der Rücken wuchs sich zu einer echten Ischias-Geschichte aus, mit Spritzen und Trallala.


Wenn ich stöhnte oder ächzte waren mir interessierte Gesichter sicher und ich musste nur sagen: „Ich hab‘ Rücken“.
Schon war mir das Mitgefühl aller Umstehenden sicher.
Deutsche zeigen ihre Anteilnahme an der Krankheit eines anderen ja immer gerne dadurch, dass sie gleich repetieren, wann sie das auch schon mal hatten, oder wer gerade eine noch viel schlimmere Krankheit hat.

Am besten ist ja Matze. Egal was Du hast, er hat immer so eine ähnliche Antwort parat: „Meine Tante Luzie ist an Fußpilz gestorben. Ganz furchtbar! Ganz eklig! Der ganze Körper war am Ende total verfault!“

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Immerhin, die Leute nehmen Anteil an Deiner Erkrankung, sei es Rücken, Hals oder Knie.

Es gibt aber eine Erkrankung, die sieht keiner, weil man weder humpelt, noch niest, noch schlecht aussieht. Man muß nicht stöhnen und nicht ächzen, denn es tut einem nichts weh.

Diese Erkrankung ist seelischer Art. Man nennt sie gemeinhin Depression.

Na klar, jeder fühlt sich mal depressiv.
Da stellt man sich halt einfach nicht so an.
Trink doch ab und zu mal einen, dann geht das weg!
Fahr mal ein paar Tage weg, dann ist das vorbei.
Nimm mal ein paar Tabletten oder Vitamine, das hat der Emma auch geholfen.
Das ist doch sowieso alles nur Einbildung.
Das ist dasselbe wie Burnout und Stress, da muss man sich besser organisieren.
Ist man sowieso selbst Schuld dran.
Am besten gleich in die Klappsmühle.

Aber, ich neige nicht dazu, mir irgendetwas einzubilden. Ich stelle mich bei Erkrankungen auch nicht an. Im Gegenteil, ich bin ostpreußischen Ursprungs und uns kann man Zähne auch ohne Betäubung ziehen.

So eine Depression ist etwas ziemlich Gemeines.
Sie kommt vielleicht nicht von ungefähr, aber sie ist auf einmal da.

Ich fahre 320 Kilometer zu einer geschäftlichen Besprechung. Am Zielort angekommen freue ich mich, dass mein Gastgeber auf seinem Firmenparkplatz ein Schild aufgestellt hat „Reserviert für Peter Wilhelm“.
Und dann parke ich da, sitze im Auto und kann nicht aussteigen. Ich kann es einfach nicht. Panische Angst steigt in mir auf. Keine begründete Angst, keine konkrete Angst vor irgendwas. Ich sehe keine gefährlichen Tiere und fühle mich nicht von geheimnisvollen schwarzen Männern verfolgt. Nein, ich habe einfach nur Angst, panische Angst.
Sie schnürt mir den Hals zu, sie bringt mein Herz zum Pochen, als ob es meine Brust sprengen wolle. Mir steht eiskalter Schweiß auf der Stirn und ich beginne am ganzen Leib zu zittern.

20 Minuten dauert das. Dann lässt diese Attacke nach. Sie ist nicht weg, das Scheißgefühl bleibt, aber ich kann wenigstens aussteigen und meinen Termin wahrnehmen.
Ich muß lustig sein, ich muß in die Kamera lächeln. Alles geht gut.

Komische Sache. Kam dann auch nicht wieder. Vielleicht die Nebenwirkung von irgendwas?

Kam dann aber doch wieder. Monate später. Gemein und hinterhältig eben.
Eine tiefe Todessehnsucht beschleicht mich. Nein, ich suche nicht nach Stricken, Gift oder Schusswaffen. Ich könnte mir nie etwas antun, ich hab doch nur mich, zumindest hier innen drin.

Aber das ganze Leben, diese ganzen Umstände, die Widrigkeiten, das ständige Aufstehenmüssen, das ständige Schlafenmüssen, das Träumenmüssen, andere Menschen, die Anforderungen des Lebens, das ist doch alles viel zu viel. Wie schön wäre es, jetzt in einem schönen Grab seine Ruhe zu haben. Endlich mal nur Ruhe haben.

Nachts werde ich von den fürchterlichsten Träumen geplagt. Ich streite mich mit fremden, bekannten und geliebten Menschen, ich schreie sie im Traum an, sie bedrohen und verfolgen mich und ich erwache stets mit einem wutschnaubenden Zorn in den Adern, schlechter Laune und bis in den Hals klopfendem Puls.
Die Träume nehmen zu, reißen mich 4-5 x pro Nacht aus dem Schlaf und halten mich auch lange Zeiten wach.

Erinnerungen aus meiner Kindheit, Banalitäten, Kleinigkeiten, Notlügen, Alltagserleichterungslügen, kleine Vernachlässigungen, Läßlichkeiten, alles das verfolgt mich als schwere Schuld. Ich kann die ganze Last nicht tragen.
Aus mikrogrammschweren Erinnerungslüftchen werden tonnenschwere Lasten, die mich erdrücken.

Ich kann mit niemandem darüber sprechen. Mache ich auch nur ansatzweise den Versuch, mich zu erklären, heißt es: „Nimm doch mal was zum Einschlafen“ oder „Ruh Dich mal richtig aus“.

Ich kann mir das alles auch nicht erklären. Leute, ich hab das studiert, ich weiß genau, was mit mir los ist und dennoch verstehe ich es nicht, kann mir nicht helfen.
Arbeiten kann ich schon lange nicht mehr. Ich sitze vor dem Bildschirm und kann keine konkrete Aufgabe wahrnehmen. Was wichtig ist, schiebe ich weit von mir.
Was mir lieb und teuer geworden ist, erscheint mir ablehnungswürdig und fremd.

Kinkerlitzchen und Blödsinn sind es, die mir die Zeit vertreiben. Nach vier Stunden habe ich keine Zeile zu Papier gebracht.
Post stapelt sich. Ich kann nicht mehr ans Telefon gehen. Wenn das Ding klingelt, bekomme ich Schweißausbrüche und die Tränen laufen mir über das Gesicht.
Angefangene Projekte bekomme ich nicht fertig. Das Geld wir knapper.
So geht das seit Monaten. Kaum Schlaf, Ängste, Panik, Bluthochdruck.
Panik schüttelt mich, wenn ich in der Garage im Auto sitze und auf den Knopf für das Garagentor drücken soll, damit ich raus- und losfahren kann. Ich kriege das nicht hin, kämpfe jedesmal mit mir und brauche oft 30 Minuten…

Man hat mich für Auftritte gebucht. Seltsam, da klappt alles. Ich kann beschwingt hier losfahren, habe die ganze Fahrt über keine Probleme und komme heiter und freudig dort an. Keinerlei Lampenfieber, ich ziehe das Programm durch und fahre ebenfalls heiter wieder heim. Das hält für anderthalb Tage.
Dann sitze ich wieder im Büro, trübsinnig, voller Gram und Dunkelheit.

Ich habe Angst vor nichts.
Ich gerate in panische Zustände wegen nichts.
Es ist dunkel und düster.
Wochenlang kann ich nicht durchatmen.
Monatelang schlafe ich kaum.
Ich kann keine Freude empfinden.
Freunde sind mir eine Last.
Ich habe das Gefühl, als ob man mir die Lebensfreude nicht gönnt.
Sagt einer was, vermute ich gleich eine Intrige.
Sagt keiner was, fühle ich mich allein gelassen.
Dabei bin ich der Starke, der für alles verantwortlich ist und sich um alle und alles kümmern muss.

Ich muss zum Arzt. So kann es nicht weitergehen.

Der Arzt nimmt sich Zeit. Er schickt drei andere Patienten heim, um lange mit mir sprechen zu können.
Am Ende besprechen wir eine Therapie. Die beginnt noch am selben Tag und sie hilft mir.
Sie hilft mir über die schlimmsten Symptome hinweg. An der Ursachenbekämpfung arbeiten wir.

Nur, falls jemand Fragen wegen dem Wieso und Weshalb hat.

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