Wo ist das Problem?
Die Standesbeamtin hatte es gestern innerhalb weniger Sekunden kapiert: Herr und Frau Lohdenhos waren nicht verheiratet gewesen, obwohl es ihr Wunsch gewesen wäre. So wird Franziska Lohdenhos zwar nicht als Witwe in den Sterurkunden auftauchen, ansonsten wird sich für sie aber nichts ändern. Sie war immer Frau Lohdenhos und wird es immer bleiben; und die Tatsache, daß sie mit ihrem Ereminus nicht verheiratet war, geht niemanden etwas an.
Als Franziska Lohdenhos endlich hervorgebracht hatte, daß Ereminus ihr Bruder ist, begann sie fürchterlich zu weinen und ich hatte alle Mühe, sie wieder zu beruhigen. In ihrer Phantasie hatte sie sich ausgemalt, daß sie nun vielleicht ins Gefängnis müsse, die ganze Stadt über sich über sie das Maul zerreissen würde und sie fortan in Schande leben müsse.
Kinder hat das Paar nicht gehabt, im Bekanntenkreis hatten sie auf Drängen immer angegeben, um das Kriegsende herum geheiratet zu haben und ansonsten hatten sie nie etwas unternommen, das geeignet gewesen wäre, jemanden zu täuschen oder zu betrügen.
„Wir waren immer zusammen und ich habe meinen Bruder immer so bewundert. Für mich gab es auf der Welt niemanden, der mir näher war, den ich lieber bei mir gehabt hätte…“
Ich nicke nur und blicke sie aufmuntern an. Sie spricht weiter: „So berühmt war Ereminus ja nicht. Er wäre so gerne Heldentenor gewesen, hätte so gerne die großen Rollen als Liebhaber, Held und Verführer gespielt, doch er war meistens nur der Buffo. Ich war immer die Einzige, die ihn als den größten Tenor aller Zeiten gesehen hat und er hat sich einfach nur bei mir wohlgefühlt.“
Man kann und darf nicht tiefer dringen, doch Frau Lohdenhos läßt -obwohl sie nichts direkt sagt- keinen Zweifel daran, daß da mehr als nur Geschwisterliebe im Spiel war. Ich wüßte nicht, warum ich ihr Vorwürfe machen sollte, ja warum überhaupt irgendjemand ihr etwas vorwerfen könnte. Zwei Menschen waren viele Jahrzehnte glücklich und haben niemandem geschadet.
„Wenn Sie mal seine Stimme hören wollen“, unterbricht Frau Lohdenhos meine Gedanken, „dann bringe ich mal ein Tonband mit, ich habe ihn vor vielen Jahren mal aufgenommen. Sie werden staunen.“
Während sie über ihren Ereminus spricht, leuchten ihre Augen und die Angst vor der Enthüllung scheint einen Moment vergessen. Es ist an der Zeit, daß ich ihr ausdrücklich versichere, daß wir über die Hintergründe nichts weiter verlautbaren lassen und sie im Grunde von keiner Seite etwas zu befürchten hat. Sie nickt, hat Tränen in den Augen und meint: „Ich hatte immer Angst davor, daß wir mal mit irgendeiner Behörde zu tun bekommen oder das einer von uns stirbt…“
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Ein großes weißes Tuch bedeckt fast die gesamte vordere Fläche unserer Trauerhalle und genau in der Mitte liegt ein rechteckiges schwarzes Tuch, kaum größer als der mahagonifarbene Sarg des Ereminus Lohdenhos. Franziska hat ein großes weißes Bukett in Form eines Notenschlüssels bestellt, das rechts am Kopfende steht.
Die örtliche Musikschule ist für uns immer wieder der erste Ansprechpartner, wenn es um die musikalische Ausgestaltung von Trauerfeiern gibt und es hat uns gar nicht viel gekostet, ein Streichquartett und einen Tenor, sowie eine Sopranistin zu verpflichten. Ich habe das mit Frau Lohdenhos nicht abgesprochen, aber es schien mir wichtig und richtig zu sein. Sie hatte nur gesagt, daß ihr Musik bei der Trauerfeier sehr wichtig sei und das ruhig auch was kosten dürfe.
Viele Nachbarn und Bekannte sind gekommen, Frau Lohdenhos sitzt in der ersten Reihe. Frau Büser und ich haben uns fein gemacht und sitzen neben ihr. Diesen schweren Moment sollte niemand alleine durchstehen müssen.
Das Streichquartett spielt etwas Langsames von Schubert, dann tritt Herr Bosch durch die Seitentür ein. Herr Bosch war mal Pfarrer und arbeitet seit vielen Jahren als Mediator, Familienberater und Trauerredner. Er ist einer von der theatralischen, etwas langatmigen Sorte und damit für manche Trauerfeiern genau der Richtige, auch für Ereminus.
Die Rede von Herrn Bosch läßt Ereminus als großen Künstler dastehen, Franziska Lohdenhos nickt zufrieden. Ja, genauso hat sie ihren Ereminus gesehen, ganz genau so. Über zwanzig Minuten redet Herr Bosch, entzündet eine Kerze und erklärt anhand der Kerze in blumenreichen Worten das Werden, Leben und Vergehen des Menschen. Sehr schön macht er das.
Der Tenor singt auf Wunsch von Frau Lohdenhos „So nimm denn meine Hände“ und danach spricht Herr Bosch das Vaterunser. Die Sopranistin singt das „Ave Maria“ und ich höre, daß hinter mir schon heftig in die Taschentücher geschnieft wird. Frau Lohdenhos hat die Augen geschlossen, ein Lächeln umspielt ihre Lippen.
Als nächstes kommen unsere vier Männer herein, beziehen links und rechts vom Sarg Position und das Streichquartett spielt ein noch langsameres Stück. Während dieser Zeit kommt Herr Bosch, kondoliert der Witwe Lohdenhos und verlässt würdevollen Schrittes durch den Mittelgang die Trauerhalle.
Die letzten Töne des Streichquartetts sind eben verstummt, da heben unsere Männer den Sarg an, verharren, warten und als ein leises Krächzen aus den Lautsprechern der Trauerhalle kommt, gehen sie langsam los.
Es erklingt die Stimme von Ereminus Lohdenhos, von einer uralten Tobandspule singt er: „Ach ich hab in meinem Herzen da drinnen einen wundersamen Schmerz…“
…und endlich weint auch seine Frau während sein Sarg ganz langsam hinausgetragen wird.
Ich reiche ihr ein Taschentuch, die ersten Trauergäste kommen nach vorne, um ihr die Hand zu reichen und Frau Büser und ich begeben uns in den Hintergrund.
Fast eine halbe Stunde dauert die Kondolenzrunde, erst dann haben alle der Witwe die Hand geschüttelt, ihr ein paar tröstende Worte gesagt und erst dann leert sich die Halle.
„Haben Sie gesehen? Sogar ein Streichquartett und zwei Sänger hat das Stadttheater geschickt“, sagt Frau Lohdenhos stolz zum Abschied zu mir und ich drücke ihre Hand und nicke. „Da sehen Sie mal“, sage ich und beschließe genau in diesem Moment, daß ich den Einsatz der Musikschüler ganz gewiss nicht auf die Rechnung schreibe.
Ereminus und Franziska haben auch in mein Herz einen „gar wundersamen Schmerz“ gezaubert, das ist was wert.
Ich habe noch einmal die wichtigsten Schlagwörter (Hashtags) dieses Artikels für Sie zusammengestellt, damit Sie sich besser orientieren können:
Schlagwörter: ereminus, lohdenhos
*schnief*
echt rührend. Da will man die kleine ältere Dame doch tatsächlich einfach in den Arm nehmen und mal ganz fest drücken.
Eigentlich bemerkenswert, wenn man daran denkt, wie oft sie wohl in ihrem Leben dran gedacht haben muß, dass diese Geschichte mal herauskommt.
*seufz*
Wieder mal eine sehr rührende Geschichte vor allem der vorletzte Absatz!
Ach, schön….*schnief*
[…] wieder einmal eine nachdenklich machende Begebenheit aus dem Bestatterweblog. Die Geschichte der beiden hat nat?rlich auch noch einen Teil I, II und IV, aber der oben verlinkte […]
*auch schnief*
Muß bestimmt ein Trost für sie sein, als sie annahm, daß das Theater die Musikanten geschickt hat… Das nicht zu berechnen finde ich sehr menschlich. Respekt. *seufz*
🙂
*schnief*
*taschentuchzückt* Ich weine auch fast. Prima gemacht und geschrieben, Tom.
Wunderbar *schnief* Gut gemacht, Tom.
„Das nicht zu berechnen finde ich sehr menschlich. Respekt. *seufz*“
Also so wie ich das verstehe hat Tom das durchaus berechnet. Er hat die Musikanten bloß nicht aufgeführt sondern den Betrag einfach irgendwo anders mit einfließen lassen.. 😉
Soooo schööööön *schnief*
Schööööön … 🙂
Übrigens kann ich die ganze Aufregung um die … ähm … „Verbindung“ der Geschwister nicht wirklich nachvollziehen.
Die beiden hatten sich, dh waren nicht alleine, höchst wahrscheinlich glücklich mit ihrer Situation und haben auch niemandem geschadet.
Warum dann die ganze Aufregung um das, was hinter verschlossenen Türen möglicherweise statt fand, und eh niemanden was angeht?
@ Christina: Die einzigen, die sich aufgeregt haben, waren Leute, die meinten, es hätte sich jemand aufgeregt.
Keiner hier hat die Verbindung der beiden Geschwister negativ kommentiert. Es gab lediglich eine völlig unabhängige Diskussion über mögliche Erbschäden von Kindern aus inzestuösen Verbindungen, die aber nur aufgrund des Themas entstanden ist. Dem Paar Lohdenhos hat niemand auch nur irgendeinen Vorwurf gemacht.
Man zeige mir bitte die ‚anklagenden‘ Posts in den Kommentaren. Die würden mich wirklich mal interessieren.
Der einzige Streit, wenn man ihn so nennen will, entstand über die Existenz von Erbkrankheiten bzw. die Infragestellung der Gentechnik als solcher.
@Nina: You, genauso isses. Ein Steit ohne erkennbaren Grund.
Streit? Wohl eher ein emotional geführter „wissenschaftlicher“ (zumindest von einigen) Disput 🙂
„…daß ich den Einsatz der Musikschüler ganz gewiss nicht auf die Rechnung schreibe,“ und dafür lieber eine gehobene Sargausstattung verkaufe…
😉
„daß ich ihr ausdrücklich versichere, daß wir über die Hintergründe nichts weiter verlautbaren lassen“
🙂
> “dann bringe ich mal ein Tonband mit, ich habe ihn vor vielen Jahren mal aufgenommen. Sie werden staunen.”
Dass das alte Tonband zum Einsatz kommt, war sofort klar 😀
Bei iTunes im Store kann man nach
Ach ich hab
suchen und sich 30 Sekunden lange Ausschnitte diverser Interpreten reinziehen, u.a. eine Bombast-Version vom unvermeidlichen André Rieu 😉
An dieser Stelle möchte ich einen generellen Tipp wiederholen:
macht zu Lebzeiten Ton- und Film-Aufnahmen, zur Not auch mit dem Handy.
Später sind diese für die Erinnerung unglaublich wertvoll. Viel mehr als alle Fotos.
Speziell der Klang der Stimme verblasst schnell in der Erinnerung…
@Nina@Udo
Also ich interpretiere ‚georgs‘ post „hoffentlich haben die keine Kinder“ mit vielen bedeutungsvollen Pünktchen schon nicht als positiver Kommentar zu Lohdenhos’s Verhältnis. Ab diesem post wurde dann erst ‚die Sau durchs Dorf getrieben‘. Das ich meine just2Ct erst jetzt dazugebe liegt einerseits darin, daß ich erst vorhin den blog nachgelesen habe und andererseits ich meine eigene Position auf der wissenschaftlichen Seite schon sehr gut von Dir, liebe Nina, vertreten sah und meine Meinung zur moralischen Seite auch angesprochen war.
Jetzt möchte ich aber noch auf die rechtliche Problematik des § 173 hinweisen bzw. empfehle denjenigen, die daran interessiert sind, welche Rechtsverbiegungen (um nicht zu sagen Rechtsbeugungen) der Gesetzgeber unternimmt, um sein Junktim durchzusetzen, einen Besuch auf Udo Vetters ‚law blog‘ um unter dem Arcvhiveintrag ‚inzest‘ das dort zu findende Rechtsgutachten zur Verfassungsmäßigkeit des § 173 nachzulesen (sind nur 14 Seiten!).
😀 Ich glaube, daß mein obiger Schachtelsatz deine toppt, liebe Nina.
@Tom: ich beteilige mich gern an den Kosten für die Musikschule! mail mir mal deine Kto-Nr. 😉
@ bard jun.: Du hast Recht, dieser Kommentar drückt als einer der wenigen wohl wirklich Bedenken aus. Es gab noch ein paar andere, die aber ebenfalls nicht wirklich aufgeregt argumentierten, sondern eher ihre generellen Bedenken darlegten. Über das Paar Lohdenhos selbst wurde dabei aber nicht hergezogen.
Und ja, dein Schachtelsatz ist eindeutiger Sieger. 😉
Mann … beim Lesen feuchte Augen bekommen.