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Eukalyptusbonbons

„Ich will jetzt den Westerwald!“ ruft der alte Mann im Rollstuhl und stampft mit seinem Stock auf den Boden. Der alte Mann ist Herr Brömmelkamp, ehemaliger Inhaber der Spirituosenhandlung Brömmelkamp am Marktplatz und jetzt Bewohner des Altenwohnheims „St. Balduin“. Auf den Rollstuhl ist er nicht wirklich angewiesen, wenn er aber in ihm herumfährt, stakst er sich mithilfe seines Gehstocks, unterstützt von den Füßen voran.

„Ich will jetzt den Westerwald!“ reklamiert er zum wiederholten Male und erntet die breite Zustimmung der übrigen Anwesenden, nur Schwester Helga ist da anderer Meinung, sie findet den Westerwald und das Eukalyptusbonbon politisch nicht korrekt und will lieber „Fuchs, Du hast die Gans gestohlen“ singen. Deshalb greift sie nach ihrem Akkordeon und haut sowohl links, als auch rechts in die Tasten und ich stelle mir instinktiv die Frage, wie Schwester Helga es vermeidet, beim Zusammenschieben des Instrumentes größeren Schaden an ihrer doch recht beträchtlichen Oberweite zu vermeiden.

Die Anwesenden stimmen in den Gesang der Altenpflegerin ein, nur eine hartnäckige Fraktion um Opa Brömmelkamp singt an den unpassendsten Stellen lautstark „Eukalyptusbonbon“.

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Viel weiter als die erste Strophe beherrscht keiner das Lied, deshalb beginnt Schwester Helga immer wieder von vorne und das wenigstens elf oder zwölf Mal, dann wird das idyllische Sangestreiben in höchster, zitternder Stimmlage jäh unterbrochen, Frau Saperstein ganz vorne links ist mit dem Gesicht in einen Teller Rote Grütze gefallen und Schwester Helga legt sogar die Quetschkommode beiseite um gemeinsam mit Pfleger Rolf, einem 35jährigen Pädaogikstudenten, der nebenher hier arbeitet, nachzuschauen, ob Frau Saperstein noch lebt. Das tut sie und ist ganz erschrocken, als sie aus der Grütze befreit wird. Rolf wischt ihr das Gesicht sauber, während Helga den unteren Teil von Frau Sapersteins Ersatzkauleiste aus der Grütze klaubt.

Wir befinden uns, wie bereits erwähnt, im Altenwohnheim „St. Balduin“ und ich bin dort zu Gast, um den alten Herrschaften etwas über das Thema Patientenverfügung und Bestattungsvorsorge vorzutragen. Wie immer bei solchen Gelegenheiten hat unser Haus Kaffee und Kuchen gestiftet und ich habe ein ganzes Köfferchen voll mit Werbegeschenken und Prospekten.

Von früheren Veranstaltungen dieser Art weiß ich, daß die Ausbeute für uns nur sehr gering ist. Die Alten müssen schon beim Einzug ins Heim eine Vorsorge nachweisen, sonst werden sie gar nicht erst aufgenommen und wer keine hat, dem wird mehr oder weniger vollautomatisch ein Vertrag mit der Pietät Eichenlaub aufgenötigt. Aus Angst, sonst keinen Heimplatz zu bekommen und weil man denkt das sei alles so Vorschrift, wehrt sich niemand.
Trotzdem mache ich diese Nachmittage, denn ein oder zwei Mal im Jahr kommt es vor, daß irgendein alter Mensch sich an den gemütlichen Mann vom Bestattungshaus erinnert und zu uns wechselt oder einem Neuzugang von uns erzählt.

Außerdem fleht mich Schwester Nichtsnucia, die einzige noch dort tätige Nonne und Pflegedienstleiterin, immer förmlich auf Knien an. Ich weiß aber auch, daß sie weniger meinen geschäftlichen Vorteil, als vielmehr einen weiteren bunten Nachmittag mit Kaffee und Kuchen im Auge hat.

Ein Herr von weit über 90 Jahren hat sich eingenäßt und muß weggebracht werden, während der alte Brömmelkamp völlig unmotiviert ein einzelnes „Eukalyptusbonbon“ hören läßt.
„Wann gibt’s denn die Geschenke“, will eine ältere Dame freundlich wissen und ich sage: „Bald.“
„Wissen Sie, es ist nämlich so, daß Sie direkt vor unserem Fernsehapparat stehen und da kommt jetzt gleich ‚Rote Rosen‘.“

„Bis dahin muss’er fertig sein!“ ruft eine andere ältere Dame und ich muß erkennen, daß der vorangegangene knapp 10minütige Vortrag das Höchste der Gefühle war und ich nun nahtlos zum Verteilen der Geschenke übergehen sollte. Also gebe ich Kugelschreiber und kleine Leselupen her, in meinem Köfferchen ist alles Mögliche. „Was haben Sie denn da noch?“ will eine Frau wissen und nimmt sich einfach eine Trillerpfeife aus dem Koffer. Man frage mich bitte nicht, wozu die gut sein sollen, die waren in dem bunt gemischten Geschenkartikelpaket eben einfach so dabei.
„Trillerpfeifen?“ kräht ein Mann und eben konnte er noch kaum laufen, doch die Hoffnung auf eine Gratis-Trillerpfeife beflügelt ihn förmlich. Kurz darauf ist der ganze Saal mit Trillerpfeifen versorgt und man kann sich unschwer vorstellen, was die Alten machen…
An „Rote Rosen“ denkt hier keiner mehr, alle blasen in die Plastikpfeifen, was das Zeug hält. Rolf, Helga und ich verlassen fluchtartig den Saal und Helga meint nur lakonisch: „In fünf Minuten haben die sowieso keine Luft mehr. Nächstes Mal bringen Sie aber bitte wieder was anderes mit, ja?“

„Versprochen!“

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