Geschichten

Fertigkeiten

Die Frau eines Stadtrates ist gestorben. Der Mann ist im Hauptberuf Oberstudienrat gewesen, jetzt schon etwas älter und wartet an der Haustüre auf mich.
Wie ich eintrete, sehe ich, daß sein rechter Schnürsenkel offen ist.
Freundlich weise ich ihn darauf hin, ich möchte ja nicht, daß er stolpert und auch noch in einem meiner schönen Särge Platz nehmen muß.

Trotz des traurigen Anlasses meines Besuchs huscht ein verlegenes Lächeln über sein Gesicht, er bittet mich, im Wohnzimmer Platz zu nehmen und erklärt dann sehr sachlich: „Das Binden von Schleifchen und Knoten ist so eine Sache. Diese Art der Fertigkeit hat man mir nie vermittelt. In diesem speziellen Punkt der handwerklichen Kunst bin ich völlig untalentiert, das gilt im übrigen auch für das Stricken, Häkeln, Nähen und Versäumen von Gardinenkanten und dergleichen.
Wenn mir mal ein Schnürsenkel aufgeht, dann mache ich immer das hier.“

Das sagt er, setzt sich, zieht sein Hosenbein etwas nach oben und steckt sich die Schnürsenkelenden oben in seine Socke.

Werbung

„Schauen Sie, so geht es doch auch. Diese Methode habe ich mir schon in jungen Jahren erdacht, sie bewahrt mich vor der doch beträchtlichen Gefahr des Stolperns und Langhinschlagens. Anders kann ich es nicht. Ab und zu, wenn ich meine werte Frau Mutter besuche, bringe ich ihr alle Schuhe mit offenen Schnürsenkeln mit, das können bereits benutzte sein, bei denen die Senkel sich geöffnet haben, und solche die ich neu angeschafft habe, und sie macht dann überall Schleifen rein. Das kann sie besonders gut, Frauen sind da sehr geschickt.
Wie halten Sie das denn?“

Auf diese Frage bin ich nicht gefaßt, mir steht der Sinn mehr nach einer zu planenden Trauerfeier und nicht nach einem Gespräch über die Belanglosigkeit der abendländischen Senkelphilosophie.
Aber gut, der Mann will es wissen, also ziehe ich nun meinerseits ein Hosenbein etwas hoch und präsentiere ihm meine Schuhe; es sind Slipper.
Ich trage sonst nie Slipper, habe nur dieses eine Paar und mag es nicht einmal besonders, aber aus irgendeinem Grund trage ich sie eben an diesem Tag.

Der Herr Stadtrat schlägt die Hände vors Gesicht und ruft dann erstaunt aus „Meine Güte, was für praktische Dinger! Solche habe ich ja noch nie gesehen! Wo haben Sie denn die um Himmels Willen her?“

„Aus dem Schuhgeschäft.!

„Die gibt es da? Is‘ ja ein dolles Ding. Ich war noch nie in meinem Leben in einem Schuhgeschäft; vielleicht einmal als kleiner Bub, aber sonst hat meine Mutter immer die Schuhe für mich gekauft und die letzte 27 Jahre tat dies stets meine Frau für mich.“

Ganz fasziniert betrachtet er meine Schuhe und kriegt sich gar nicht wieder ein.

Wir besprechen dann tatsächlich auch noch in aller Ausführlichkeit die Bestattung seiner Frau, aber ich merke, wie er trotzdem immer wieder mal auf meine Schuhe schaut.

Was mich an der ganzen Sache am meisten verwundert, ist nicht die Tatsache, daß ein erwachsener Mann keine Schnürsenkel binden kann, so etwas gibt es ja offensichtlich. Nein, mich bringt heute noch zum Schmunzeln, wie viele wohlgesetzte Worte er fand, um sein Unvermögen zu beschreiben.

Hashtags:

Ich habe zur besseren Orientierung noch einmal die wichtigsten Schlagwörter (Hashtags) dieses Artikels zusammengestellt:

Keine Schlagwörter vorhanden

Lesezeit ca.: 4 Minuten | Tippfehler melden | Revision:


Hilfeaufruf vom Bestatterweblog

Das Bestatterweblog leistet wertvolle Arbeit und bietet gute Unterhaltung. Heute bitte ich um Deine Hilfe. Die Kosten für das Blog betragen 2025 voraussichtlich 21.840 €. Das Blog ist frei von Google- oder Amazon-Werbung. Bitte beschenke mich doch mit einer Spende, damit das Bestatterweblog auch weiterhin kosten- und werbefrei bleiben kann. Vielen Dank!




Lesen Sie doch auch:


(©si)