Geschichten

Fett auf dem Stuhl

Ich bin ja wahrlich nicht der ordentlichste Mensch. Mann, wie es manchmal bei mir aussieht! Wenn da Einbrecher kämen, die würden glauben, sich im Haus geirrt zu haben und schonmal da gewesen zu sein.

Aber ich kann mich immer wieder aufraffen und aufräumen. Mit zunehmendem Alter fällt es mir dabei auch immer leichter, Sachen wegzuschmeißen. Vor Weihnachten habe ich tabula rasa gemacht und in einer ebenso langwierigen wie gründlichen Aktion richtiggehend entrümpelt. Am Ende mussten wir viermal zum Recyclinghof fahren, um alles loszuwerden. Und es waren durchaus wertvolle Sachen darunter. Kaum zu glauben, wie viele Drucker sich über die Jahrzehnte im Keller versteckt gehalten haben. Nadeldrucker, Drucker für die es keine Patronen mehr gibt und solche, die mit Kabeln geschlossen werden, die an keinen modernen Rechner mehr passen. Und Faxgeräte benötigt heute auch kein Mensch mehr. Anrufbeantworter mit Kassetten sind heute ebenfalls nicht mehr zeitgemäß. Ja und die alten Ausgaben von Computerzeitschriften, die ich ganz bestimmt irgendwann nochmal lesen wollte, sind auch den Weg zum Altpapier gegangen.

Man muss sich nur mal selbst in den Hintern treten, eine Weile bei der Sache bleiben und am Ende verspürt man sogar so etwas wie Erleichterung.

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Diese Erleichterung hat Frau Polanski nie verspüren dürfen. Die 76-Jährige hortete in ihrem kleinen Reihenhaus Stapel von Zeitschriften und Zeitungen, die buchstäblich bis zur Decke reichten. Pfandflaschen von Brauereien, die es längst nicht mehr gab, reihten sich zu hunderten an den Wänden entlang aneinander. Überall standen Plastik-Einkaufstüten voll mit Bekleidung, Spielzeug und anderem Kruscht. Ein Messie im klassischen Sinne war die alte Dame dennoch nicht, ihr fehlte es am Sinn für Fäkalienschmierereien, schmutzigem Geschirr und verdorbenen Lebensmitteln. Denn diese drei olfaktorisch auch besonders herausfordernden Eigenschaften trafen auf Frau Polanski nicht zu.

Die kleine, etwas bucklige Dame hatte mich zu sich ins Haus gerufen, um die Bestattung ihres Bruders zu organisieren, der zwei Tage zuvor in einem Krankenhaus verstorben war. Es war das erste Beratungsgespräch anlässlich eines Todesfalls, das ich im Stehen zu absolvieren hatte. Einen freien Stuhl konnte mir die Frau mit den fast hüftlangen grauen Haaren nicht anbieten; sie selbst kauerte auf einem Klapphocker aus Plastik, und selbst wenn noch ein ebensolcher für mich da gewesen wäre, so hätte er mein Gewicht nicht im Entferntesten tragen können.

Wie bin ich zu meinen Kunden? Na, wie soll ich schon sein? Ich bin Kaufmann und möchte meine Waren und Dienstleistungen an den Mann bringen. Also ist man doch per se schon freundlich, höflich und an der Aufrechterhaltung einer verkaufsfördernden Stimmung interessiert. Hinzu kommt, dass Bestatter es mit Trauernden zu tun haben, denen man pietätvoll, nicht fordernd und vor allem voller Verständnis gegenübertritt. Mir ist es außerdem zu eigen, ein respektvoller Mensch zu sein. Gut, ich kann auch den Neandertaler in mir zum Vorschein treten lassen, wenn es denn nun erforderlich sein sollte; mit mir ist nicht gut Kirschen essen, wenn man mich ärgert, sich respektlos verhält oder mich sogar bedroht. Aber Ärger, Respektlosigkeit und Bedrohungen, die alle schon einmal auch von Kunden an mich herangetragen worden sind, muss man trauernden Menschen verzeihen können; sie befinden sich in einem Zustand, der ihr Denken in einer für sie bis dahin unbekannten Weise einschränkt.

Bei der Grauhaarigen gab es nichts dergleichen. Die Frau war freundlich und aufgeschlossen und die Trauer über den Tod ihres älteren Bruders hielt sich in Grenzen. Man könnte sagen, dass sie trotz der anhäufenden Wohnumstände einfach nur eine nette Oma war. Ich selbst habe meine Großeltern, bis auf die Oma väterlicherseits, die starb als ich zwei Jahre alt war, nicht gekannt. Durch meine späte Geburt waren diese Menschen, die alle im späten 19. Jahrhundert geboren worden waren, alle schon verstorben, als ich auf die Welt kam. Mir hat da immer was gefehlt. Andere Kinder hatten schließlich Omas und Opas.
Aber dieser Umstand hat dazu geführt, dass ich in irgendeiner Weise alle anderen alten Menschen in ganz besonderer Weise respektiere und sie und ihr Lebenswerk wertschätze.

So trat ich auch Frau Polanski ausgesucht höflich, ja fast schon liebevoll gegenüber und bemühte mich, alles zu ihrer vollsten Zufriedenheit abzuwickeln.

Eine Trauerfeier für den Bruder sollte es nicht geben, es gäbe ja außer ihr niemanden, der kommen würde. Als letzte Ruhestätte hatte sie eine Nische in der Urnenwand eines alten Krematoriums ausgesucht. Und an dem Einstellen der Urne in ebendiese wollte Frau Polanski gerne teilnehmen. Also fuhr ich am besagten Tag zu ihr, um sie abzuholen. Normalerweise ist es nicht unbedingt Sache des Bestatters, die Anreise zur Beisetzung zur organisieren, vom Verstorbenen selbst einmal abgesehen. Aber ich wollte der alten Frau eine Busfahrt nicht zumuten und ihr eine Fahrt in einem schönen, bequemen Auto gönnen.

Auf dem kurzen Stück zum alten Krematoriumsgebäude hakte sich Frau Polanski bei mir unter und als der uniformierte Friedhofsmann die Urne bedächtig in die Wandnische hob und dann mit einer Marmorplatte verschloss, lehnte sie sogar ihren Kopf an meinen Arm.
Nach der Urnenbeisetzung lud ich Frau Polanski noch auf Kaffee und Bienenstich ins Café Brenner ein und brachte sie dann nach Hause.

Gutes tut man ja nicht nur, um anderen etwas Gutes zu tun, sondern auch immer, weil das einem selbst guttut.

Drei Tage später fuhr Sandy zu der alten Dame, ich konnte nicht, ich hatte mal wieder Rücken.
Brav meine Anweisung befolgend fragte Sandy in diesem Nachgespräch auch, wie zufrieden die Kundin gewesen ist. Frau Polanski meinte: „War ja alles so wie abgesprochen, aber der Fette, der war sehr unfreundlich.“

Was habe ich daraus gelernt? Nun, ich habe mich erst aufgeregt, fand das ungerecht, ja sogar ein bisschen gemein. Aber dann musste ich einsehen, dass der alte Spruch doch eben sehr wahr ist. Man kann es nicht allen recht machen.

Bildquellen:

  • hand-g69257b0ee_640: Bild von Sabine van Erp auf Pixabay

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