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Frau Brinkmann mag HARIBO

Frau Brinkmann kam an einem Freitagnachmittag zu uns, und zwar kurz vor zwei. Am Freitag denken auch Bestatter schon ans Wochenende und alle Mitarbeiter freuen sich bereits auf das, was sie so vorhaben.

Unsere Arbeitszeiten waren immer schon sehr angenehm. Die Mitarbeiter mussten erst um 8.30 Uhr anfangen, mittags gab es eine Stunde Mittagspause und Feierabend war um 16 Uhr. Samstags war unser Büro geschlossen. Wer zwischendurch mal eine Pause machen wollte, konnte dies tun, wie es ihm beliebte. Der eine sitzt gerne etwas länger auf dem Topf und liest Comics dabei, der andere geht ab und zu mal eine rauchen und von der jungen Amerikanerin Sandy wusste jeder, dass sie sich hin und wieder auch mal ein Viertelstündchen zum Powernapping unter den Schreibtisch oder im Lager auf ein paar Kissen und Decken hinlegte. Mir ist es nie darauf angekommen, peinlich genau auf Arbeitszeiten zu achten, sondern mir kam es darauf an, dass die Arbeit erledigt wurde. So hätte ich es als Angestellter gerne gehabt und die Leute sollen doch gerne kommen.
Wir haben nie darüber diskutieren müssen, dass wirklich jeder ohne zu murren auch länger blieb, um Wichtiges noch fertigzumachen.

Freitags machten wir, wenn es die Arbeit zuließ, immer um etwa zwei Uhr zu. Beim gemeinsamen Mittagessen hatten wir noch darüber gesprochen, was am Wochenende so ansteht.

Sandy erzählte von einem ganz tollen Typen, der letzten Mittwoch ihr Herz erobert, und jetzt schon die Stellung als der Mann für’s Leben erreicht hatte. Ich schätzte, dass sie ihn spätestens Montag nicht mehr kennen will. Antonia hatte ganz was Aufregendes vor, eine Besichtigung mittelalterlicher Ziehbrunnen oder so. Frau Büser murmelte nur was von drei Maschinen Buntes und Manni schoss mit einem Grillfest bei seinem Bruder den Vogel ab.

Nach dem Essen trat allgemeine Geschäftigkeit ein, jeder tat alles, damit der Feierabend um zwei Uhr ja nicht gefährdet war.

Und dann kam sie: Frau Brinkmann, klein, etwas gekrümmt, mit ganz dünnen Beinchen, sodass die Strümpfe sich etwas kräuselten und mit ganz kurzen Tippelschritten. Sofort lag er im Raum, dieser Duft! Dieser Duft, wie ihn nur alte Frauen verströmen können, die ihre Kleidung zusammen mit Mottenkugeln aufbewahren und die sich selbst seit vielen Jahren durch Besprühen mit Tosca-Parfüm frisch gehalten haben. Tosca aus dem Hause 4711, der Duft von Altersheim und nahem Tod!

Die nette alte Dame musste ihren Mann betrauern, suchte sich bei uns den passenden Sarg aus und bestellte auch das sonst noch Notwendige. Leider war sie nicht die Schnellste und hatte obendrein auch noch viel Zeit mitgebracht. Während ich mit ihr alles durchging, steckte eine Mitarbeiterin nach der anderen mal eben kurz ihren Kopf durch den Türspalt und wünschte stumm schönes Wochenende. Um halb vier saß ich immer noch mit Frau Brinkmann im Beratungszimmer und es war kein Ende abzusehen. Schon drei Tassen Espresso hatte sie bekommen und mochte die dazugelegten Plätzchen so gerne.
„Haben Sie vielleicht noch so ein paar von diesen Keksen?“, erkundigte sie sich und gerne holte ich ihr den ganzen Rest, es war nur noch eine Handvoll da.
Als ich sah, dass sie die Kekse einen nach dem anderen wegfutterte, suchte ich in der Küche nach irgendwas Essbarem als Nachschub. Ich fand nur eine Tüte HARIBO-Konfekt, die ich in ein Schüsselchen entleerte, das ich im Beratungszimmer vor ihr auf den Tisch stellte. Beherzt griff sie zu und schon bald wurde der Duft des Todes vom Aroma der gekauten Gummidinger von HARIBO überlagert.
Also griff auch ich zu und nahm mir die kleinen Lakritzstangen, die mit Zuckerkruste überzogen sind. „Nee, nee, nee, die mag ich gar nicht“, meinte Frau Brinkmann, griff das Schälchen und sortierte sich flink alle Fruchtgummibonbons heraus: „Lakritz ist nichts für mich, das mag ich gar nicht.“

„Hm, mir schmeckt Lakritz ganz gut“, sagte ich und erklärte ihr das mit dem Lakritz-Äquator.

Es gibt da ja diese imaginäre Grenze, die durch ganz Deutschland verläuft. Die Menschen, die nördlich dieser Grenze leben, mögen überwiegend Lakritz und die Leute im Süden mögen Lakritz eher nicht. Das komme daher, dass Lakritz ein nordisches Produkt ist und sich im Norden eher verbreitet habe als im Süden. Weltmeister im Lakritzessen sind die Skandinavier. Aber auch die Käsegermanen in den Niederlanden verzehren Unmengen dieser schwarzen Süßigkeit.

Kurz nach vier hatten wir es dann endlich. Ich fuhr die nette, alte Dame noch nach Hause und dann war Wochenende.

Mitte der darauffolgenden Woche wurde Herr Brinkmann dann beerdigt. Alles verlief zur vollsten Zufriedenheit und so, wie die alte Dame es sich vorgestellt hatte. Zwei Wochen später schickte Frau Büser die Rechnung raus.

Zwei Tage danach erschien Frau Brinkmann dann bei uns im Bestattungshaus und wollte ihre Rechnung bar bezahlen und mich sprechen. In meinem Büro bedankte sie sich fast schon ein wenig überschwenglich für unsere gute Arbeit. Und wie gut die Lilien auf dem Sarg geduftet hätten, und wie toll der Organist gespielt habe und überhaupt sei alles sehr schön gewesen. Und wenn die Kunden das Adjektiv schön benutzen, dann ist der Bestatter zufrieden. Einen so traurigen Anlass so zu gestalten, dass er als schön empfunden wird, das ist doch eine wirklich erstrebenswerte Kunst.

Zum Abschluss kramte Frau Brinkmann noch in ihrer Handtasche herum und zog ein kleines Päckchen heraus. Es war in zerknittertem Geschenkpapier verpackt und mit Unmengen kurzer Tesa-Film-Streifen verklebt.

„Gucken Sie nicht so genau hin, ich hebe immer altes Geschenkpapier auf und verwende es dann noch einmal, das hier ist eigentlich eher so für Weihnachten“, sagte sie. Aber das war mir egal. Über Geschenke freut man sich doch immer. „Darf ich hineinschauen?“, erkundigte ich mich und packte das Päckchen aus. Es war eine kleine Box aus Pappe und darin befand sich eine blaue NIVEA-Blechdose. Ich öffnete also nun diese Dose, aus der ein leichter Duft nach NIVEA-Creme aufstieg, und blickte ziemlich ratlos auf den Inhalt.

In der Dose lagen kleine schwarze Stummel, wie Zigarettenfilter oder so, und sie klebten aneinander.

„Ja, wissen Sie, ich hab’ doch mitbekommen, wie gerne Sie diesen Äquatorlakritz essen. Und jetzt hab’ ich von meinem ganzen HARIBO-Konfekt die Lakritzinnereien für Sie gesammelt. Das drumherum hab ich gegessen. Lassen Sie es sich schmecken!“

Jau!

©2022

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Die Geschichten von Peter Wilhelm sind Erzählungen und Kurzgeschichten aus dem Berufsleben eines Bestatters und den Erlebnissen eines Ehemannes und Vaters.

Die Geschichten haben meist einen wahren Kern, viele sind erzählerisch aufbereitete Tatsachenerzählungen.

Die Namen, Geschlechter und Berufe der erwähnten Personen sind stets verändert.

Lesezeit ca.: 7 Minuten | Tippfehler melden | © Revision: 5. April 2024 | Peter Wilhelm 5. April 2024

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Winnie
2 Jahre zuvor

Ähm ja, dazu würden die Nusssplitter passen, die Oma immer aus den Ferrero Küsschen sammelt, weil sie die nicht beißen kann.

Mafdet
2 Jahre zuvor

Mich würde ja schon interessieren, ob sie die Lakritzinnereien mit dem Messer aus den Haribos gefriemelt hat, oder ob sie sie -grusel- herausgelutscht hat…

Mafdet
Reply to  Mafdet
19 Tage zuvor

Herausgelutscht. Definitiv herausgelutscht.

Mafdet
Reply to  Mafdet
19 Tage zuvor

Hah. Das kommt davon, wenn man alt und senil ist. Kaum sind ein paar Jahre vergangen, erinnert man sich nicht mehr an seinen Kommentar von damals, sieht nicht, dass er von einem selbst und antwortet stumpf auf seinen eigenen Kommentar.
Schade.^^

Igge
Reply to  Mafdet
17 Tage zuvor

Da bist Du nicht alleine!
Kopf hoch und weiter geht’so!

Igge
Reply to  Igge
17 Tage zuvor

„Weiter geht’s“ sollte es heißen.

Mafdet
Reply to  Igge
17 Tage zuvor

Danke. Dass es anderen auch manchmal so geht, ist sehr beruhigend. 🙂

Naya
2 Jahre zuvor

Meine Gedanken dazu: eine Mischung aus „irgendwie niedlich“ und „etwas ekelig ist es ja schon“ 😀

Letztendlich muß man sie ja nicht essen, sie sieht ja nicht, was man damit tut, wenn sie weg ist, und sie hat sich Gedanken gemacht, was ja – so schräg es ist – auch lieb ist.




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