Geschichten

Gekommen um zu bleiben -4-

„Und wie ist es weitergegangen?“ will ich wissen.

„Wie es weitergegangen ist? Es ist immer schlimmer geworden. Vor zwei Jahren hat der sich in einen Rollstuhl gesetzt und nichts mehr gemacht. Nur noch mit einer Hupe gehupt, wenn er was wollte.
So ein Messinghorn mit so einem schwarzen Ball zum Drücken, damit hat er immer gehupt. Immer. Ich konnte es nicht mehr hören!“ Bärbel Hierig fängt an zu weinen und Jens legt seinen Arm um sie.

Sie putzt sich die Nase und erzählt weiter:
„Tag und Nacht ‚hup, hup‘ und ich musste rennen. Wenn ich mal gedacht hab, es könne nicht so wichtig sein, dann hat er mir den Rollstuhl vollgeschissen. Ständig musste ich ihm zu Diensten sein.
Bärbelchen hier, Bärbelchen da! ‚Bärbelchen, kannste mir mal die Fußnägel schneiden? Bärbelchen, hilf Deinem Onkel mal auf die Toilette!‘ Hup, hup! ‚Hintern abwischen! Essen bringen, Trinken bringen, was vorlesen, bitte, Lottoschein ausfüllen und wegbringen, Bärbelchen komm mach dies, mach das!‘

Werbung

Zwölf Jahre lang, davon zwei im Rollstuhl… Ich war am Ende meiner Kräfte, ehrlich. Und eines Tages hat Jens von der Arbeit von ’nem Kollegen einen Fasan mitgebracht und weil er wusste, daß der Onkel das gerne isst, ist er nach hinten zum Gartenhaus und was meinen Sie, was er da gesehen hat?

Der Onkel konnte ‚rumlaufen! Der alte Simulant hat nur im Rollstuhl gesessen, um sich von uns bedienen zu lassen! Jens ist dann zum Haus zurückgekommen und hat mich geholt und wir sind zusammen dann rein zu ihm und haben ihn zur Rede gestellt.
Ja, das wäre so ein Anflug von Kraft und Energie, das komme und gehe. Wir sollten uns da bloß nichts einbilden, wenn es ihm mal kurz besser gegangen sei, sei es hinterher umso schlimmer mit den Schmerzen, hat er behauptet.
Wir haben dann den Arzt kommen lassen in der Woche darauf und der hat festgestellt, daß der Onkel für einen Mann seines Alters von erstaunlicher Gesundheit sei, nur die Prostata…“

„Ich wollte ihn da ja rausschmeißen“, sagt Jens. „Aber der hat gesagt: ‚Versuch es nur einmal und Du bist das schöne Häuschen gleich wieder los. Ich habe das alles testamentarisch geregelt, alles in meiner braunen Mappe aufgeschrieben, handschriftlich, so ein Testament gilt. Bevor ich Euch das nicht überschrieben habe, geht das Haus an den Tierschutzverein. Wenn Du nicht willst, daß sich der Tierschutzverein freut, dann zeig‘ mal ein bißchen Dankbarkeit.
Ihr seid doch meine einzigen Verwandten, Ihr sollt doch sowieso mal alles bekommen, also macht es doch nicht kaputt.‘

„Wenn das mit unserer Pauline nicht gewesen wäre…“, begann Bärbel, aber Jens unterbrach sie: „Das gehört hier nicht hin!“

„Doch, das kann man ruhig erzählen. Als der zu uns kam, da war die Pauline zweieinhalb Jahre alt und der Frank war vier. Inzwischen ist der Frank sechzehn und fast immer unterwegs. Pauline wird bald 15 und die wurde immer komischer. Das ist losgegangen als der sich in den Rollstuhl gesetzt hat.
Es war ja nicht nur ich, die immer dem Onkel bei allem helfen musste. Ich bin ja auch mal weg, einkaufen und so. Und dann hat er wieder gehupt und oft ist dann die Pauline zu ihm hin. Ich meine, Kinder sind da unbedarfter. Die haben das mit dem Onkel ja alles nicht so schlimm gefunden wie wir. Die haben oben ihre eigenen Zimmer und mussten ja auch nicht so viel machen, wie ich. Außerdem hat der Onkel für Pauline immer mit ’nem Geldschein gewunken. Da hat die dem ganz gerne mal geholfen, Jugendliche brauchen ja immer Geld.
Aber irgendwann wollte die dann nicht mehr zum Onkel ins Gartenhaus gehen und wenn der bei uns im Haus war, ist sie nicht von oben runter gekommen.

Ich habe sie dann mal zur Rede gestellt und sie hat gesagt, sie könne nichts erzählen, weil wir dann alle obdachlos würden.
‚Pauline‘, habe ich gesagt, ‚wir werden doch nicht obdachlos.‘
Dann hat sie mir erzählt daß der Onkel mal gesagt hat, ihm wäre ein Knopf abgegangen und zwischen seine gelähmten Beine gefallen, den müsse man entfernen, sonst werde er wund.
Da hat das Mädchen dann zwischen seine Beine fassen müssen, wo der immer so eine Wolldecke drüber gelegt hatte und da hatte der die Hose offen und sein Ding raushängen.
Pauline hat sich erschrocken und geschämt und der hat gesagt, sie bekomme 50 Euro, wenn sie ihn da mal ein bißchen anpacken würde.
Das wollte Pauline nicht, aber er hat gesagt: ‚Okay, wie Du willst, dann landet ihr alle auf der Straße und das passiert auch, wenn Du was erzählst. In der Gosse bei den Obdachlosen landet ihr alle. ich brauche nur mit dem Finger zu schnippen und ihr seid alle wohnungslos.‘
Sie hat ihn dann dort berührt und er hat sie an Arm festgehalten und ihre Brüste gestreichelt.
Dann hat er auf ihre Hand…“

„Bärbel!“ unterbrach Jens seine Frau. „Schluss damit, ich kotze gleich, wenn ich nur daran denke.“

„Und, was haben Sie unternommen?“ frage ich.

„Er ist ja dann gestorben“, sagt Jens schnell, legt wieder seine Hand auf die seiner Frau und ich sehe, daß er die Hand ziemlich fest drückt. „Wer konnte denn ahnen, daß der versucht, aus dem Rollstuhl aufzustehen und in den Keller zu gehen? Er war ja doch etwas wackelig auf den Beinen…“

„Und da hat’s in runter gehauen“, sagt Bärbel und schluchzt in ein Papiertaschentuch. „Er ist die Treppe runter gefallen, mitsamt dem Rollstuhl, gerade als er aufstehen wollte. Jens hat es noch mitbekommen und ist ihm zur Hilfe beigesprungen, aber er konnte es nicht verhindern. Ruck zuck war der die Treppe runter geschossen und dann lag er da unten tot herum.“

„Ach, Du meine Güte!“ sage ich.

„Ja, uns tut das auch leid, wo er doch so nett war, uns alles zu hinterlassen“, sagt Jens.

„Und das Testament mit dem Tierschutzverein?“ frage ich.

„Stellen Sie sich vor“, sagt Bärbel, „Wir haben gesucht und gesucht und gesucht, da war nichts, keine braune Mappe, nichts… Wir sind die einzigen Verwandten, also was soll’s? Wir bekommen alles.“

„So, und jetzt suchen wir was richtig Schönes für den Onkel raus, da wollen wir uns nicht lumpen lassen“, sagt Jens und schlägt den Katalog auf.

Hashtags:

Ich habe zur besseren Orientierung noch einmal die wichtigsten Schlagwörter (Hashtags) dieses Artikels zusammengestellt:

Keine Schlagwörter vorhanden

Lesezeit ca.: 8 Minuten | Tippfehler melden | Revision:


Hilfeaufruf vom Bestatterweblog

Das Bestatterweblog leistet wertvolle Arbeit und bietet gute Unterhaltung. Heute bitte ich um Deine Hilfe. Die Kosten für das Blog betragen 2025 voraussichtlich 21.840 €. Das Blog ist frei von Google- oder Amazon-Werbung. Bitte beschenke mich doch mit einer Spende, damit das Bestatterweblog auch weiterhin kosten- und werbefrei bleiben kann. Vielen Dank!




Lesen Sie doch auch:


(©si)