Geschichten

Günther -XIX-

Mutlos kehrten Horst, Leo und Günther zu Günthers Villa Kunterbunt zurück. Als sie in die Straße bogen, sahen sie schon, daß irgendetwas nicht stimmte. Vor dem Grundstück parkte ein orangefarbener 7,5-Tonner mit Pritsche und zwei Männer mit orange-weiß-gestreiften Warnwesten luden Absperrgitter ab.

Günther sprang aus dem Wagen und rief den Arbeitern zu: „Was macht ihr denn da?“
Einer der Arbeiter deutete nur nach weiter hinten auf das Grundstück, dann ignorierten die Männer die drei Freunde.

Vor Günthers Laube standen zwei Männer in dicken Windjacken, denen man schon auf einen Kilometer Entfernung ansah, daß sie nichts Gutes verheißende Amtspersonen waren.
„Was ist hier los?“ fragte Günther atemlos und schaute sich um. Rechts und links entlang seines Grundstückes hatten die Arbeiter bereits im Abstand von etwa 2-3 Metern schwere Betonklötze aufgestellt, die oben jeweils zwei Löcher hatten und in die sie nun einen Metallgitterzaun steckten, mit dem man auch Baustellen absichert.

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Einer der Windjackenträger, der einen Kaiser-Wilhelm-Schnurrbart trug, zückte einen Ausweis und stellte sich als Beamter der Baubehörde vor. Er präsentierte Günther einige A4-Blätter, hauchdünnes, rosafarbenes Papier und raunzte Günther an: „Haben Sie das denn nicht bekommen?“

„Was?“

„Den Bescheid von 27. vorletzten Monats?“

Günther zuckte mit den Achseln. In den letzten Wochen war nicht viel Post gekommen, aber trotzdem hatte er keinen Umschlag aufgemacht, sondern alles auf der Eckbank auf einen Stapel gelegt. Männer in seiner prekären Situation neigen dazu, vermeintlich unangenehme Post einfach durch Nichtöffnen zu ignorieren und Günther bekam schon eine ganze Zeit lang nur noch Rechnungen, Mahnungen und unangenehme Post.

„Egal“, sagte jetzt der andere Mann von der Baubehörde, der etwas älter war: „Wir reißen das Ding hier ab, das muß weg.“

Günther riß die Augen weit auf und schnappt nach Luft. Horst kam ihm zur Hilfe, denn er befürchtete, daß Günther umfallen würde, doch der fing sich schnell wieder und schimpfte: „Ihr habt doch einen Knall! Ihr könnt doch nicht mein Zuhause abreißen!“

„Ihr Zuhause?“ staunte der Schnurrbartträger: „Laut unseren Unterlagen wohnen Sie aber ganz woanders.“ Er blätterte die rosafarbenen Zettel durch und hielt sie Günther unter die Nase: „Hier, sehen Sie selbst!“

Günther sah, daß der Brief an seine alte Adresse gerichtet war, doch das Haus, in dem er und seine Familie einmal glückliche Zeiten erlebt hatten, das war nicht mehr seins. Der Briefträger, auch ein geschiedener Mann, wußte das und brachte Günthers Post automatisch zur Villa Kunterbunt, gleich was sie für eine Anschrift trug.
Horst fragte seinen Freund: „Hast Du Dich denn hier nicht angemeldet?“
Günther schüttelte nur den Kopf.

Die beiden Männer vom Amt lachten. Der Ältere grinste: „In so einem Schuppen kann man sich doch nicht anmelden, das ist doch als Wohnraum gar nicht zulässig. Das sind Not- und Behelfsbauten, die nach dem Krieg aus Schutt und Bombentrümmern gebaut worden sind. Vor 60 Jahren hat man da mal wohnen können, da wo es keinen Wohnraum gab, aber heute kann man so etwas allenfalls als Laube oder Geräteschuppen nutzen. Uns liegt eine Anzeige von Frau Birnbaumer-Nüsselschweif und dem Jungendamt vor, daß sie hier unter menschenunwürdigen Verhältnissen hausen. Wir haben das ja oft, daß Obdachlose in irgendwelchen Gartenlauben hausen.“

„Aber ich bin doch nicht obdachlos!“ protestierte Günther: „Ich wohne doch hier!“

„Hier? Nein, das geht nicht. Das ist nach unseren Unterlagen eine Laube, nicht isoliert, mit mangelhaftem Dach und in feuchtem, abrißreifem Zustand. Sie? Sie haben angegeben, daß sie da drüben wohnen, aber in dem Haus, dessen Adresse sie angegeben haben, da wohnen sie gar nicht. Und jemand, der keine Adresse hat, an der er wohnt, na, was ist der wohl? Der ist obdachlos.“

Nun schaltete sich Horst in das Gespräch ein. So gehe es ja nun wohl nicht und das sei ja wohl nur ein Mißverständnis. Horst schilderte in kurzen Sätzen das Schicksal von Günther und hoffte darauf, daß die Männer Verständnis zeigen würden. Doch die blieben unbeeindruckt.
Der mit dem Schnurrbart kramte in seiner Aktentasche, zog eine weitere Kopie des rosafarbenen Schreibens heraus und drückte sie Günther mit den Worten in die Hand: „Das Grundstück wird ringsherum abgesperrt, vorne lassen wir noch auf, sie haben 48 Stunden Zeit ihre Gartengeräte oder was auch immer sie da drin haben, rauszuholen und dann machen wir zu. Das Ding wird abgerissen.“

Das lange Grundstück war inzwischen von den beiden Arbeitern in ihren Warnwesten links und rechts entlang der langen Seiten komplett mit den Zaunelementen abgesperrt worden, auch hinter dem Haus und zwar direkt hinter dem Haus hatten sie quer eine solche Absperrung errichtet.

„Ach ja“, sagte der ältere Mann von der Baubehörde: „Falls Sie auf die Idee kommen, die Absperrungen zu entfernen, mache ich Sie schon jetzt darauf aufmerksam, daß Sie sich dann strafbar machen. Lesen Sie den Bescheid! Das Gebäude ist als unbewohnbar deklariert worden. Sie haben nur die 48 Stunden!“

Dann schnippte er mit den Fingern und nickte den beiden Arbeitern zu, Die vier Fremden verließen Günthers Grundstück.

„Das ist das Ende“, stöhnte Günther und brach in Tränen aus.


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Die Geschichten von Peter Wilhelm sind Erzählungen und Kurzgeschichten aus dem Berufsleben eines Bestatters und den Erlebnissen eines Ehemannes und Vaters.

Die Geschichten haben meist einen wahren Kern, viele sind erzählerisch aufbereitete Tatsachenerzählungen.

Die Namen, Geschlechter und Berufe der erwähnten Personen sind stets verändert.

Lesezeit ca.: 6 Minuten | Tippfehler melden | Peter Wilhelm: © 24. Januar 2013

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