Geschichten

Günther -XLIII-

Einer der größten Vorzüge guter polizeilicher Arbeit ist die Geduld. Manch ein Täter wähnte sich schon jahrzehntelang in Sicherheit und dann standen auf einmal frühmorgens die Beamten vor seiner Tür und klingelten ihn aus dem Schlaf und nahmen ihn fest, noch bevor er richtig begriffen hatte, daß ein gut geölter Polizeiapparat niemals schläft und auch nach langer Zeit noch wirksam zuschlagen kann.

Manchmal aber versickern Fälle im Nichts. Auch nach sorgfältigster Ermittlungsarbeit wird kein Krümel mehr gefunden, die Ermittlungen stocken, es geht einfach nicht weiter.
In einer solchen Sackgasse befanden sich auch die Ermittlungen im Falle der ermordeten Frau von Günther.
Man muß es schon ganz klar so sagen, daß die ermittelnden Beamten sich vorschnell auf Günther als Täter eingeschossen hatten und deshalb vermutlich einige andere, vielleicht viel erfolgversprechendere Ermittlungsansätze, unberücksichtigt gelassen hatten.
Inzwischen waren alle Spuren längst verwischt, der Fall mit einer Niederlage vor Gericht für die Ermittlungsbehörden zu Ende gegangen und irgendwie schien sich niemand mehr für diesen Mord zu interessieren.

Aber ich sagte es ja gerade, die Mühlen der Polizei mahlen gründlich und oft langsam.
Kriminalhauptkommissar Klaus Petermann (man verzeihe mir die künstlerische Freiheit, meinen Lieblingsermittler hier einzupflegen, er steht hier stellvertretend für einen anderen realen Beamten)…
Also, Kriminalhauptkommissar Klaus Petermann, der als Sonderermittler beim Landeskriminalamt sich unter anderem für eben solche, scheinbar längst abgeschlossene und unlösbare Fälle interessierte, hatte die Akte Salzner schon mehrfach in den Händen gehabt und immer wieder beiseite gelegt.
So oft er sie auch durchblätterte, so oft er auch die wenigen Fotos vom Tatort und der Hausdurchsuchung in Günthers alter Villa Kunterbunt betrachtete, es wollte sich einfach nicht der zündende Funke einer Idee einstellen.

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Doch man sieht, auch diese Akte war nicht vergessen, auch dieser Fall war längst noch nicht wirklich abgeschlossen. Immerhin gab es da einen Beamten, der die dazugehörende Akte auf dem Schreibtisch liegen hatte.

Günther selbst dachte nicht mehr oft an seine verstorbene Frau.
Die Enttäuschung, sie mit einem anderen Mann erwischt zu haben, überwog. Sicher, er vermißte eine Frau an seiner Seite, eine Mutter für seine Kinder, und er wünschte sich, das alles sei gar nicht passiert. Aber er war auch soweit Realist, daß er sicher wußte, daß er nie wieder mit dieser Frau hätte zusammenleben können. So etwas wie Ehebruch, Seitensprung oder Affäre kam in seiner Software nicht vor. Und eine andere Frau kennenlernen? Nein, das wollte er auch nicht. Immer wieder betonte er, daß er so eine Enttäuschung nicht noch einmal erleben wollte und auf gar keinen Fall eine neue Beziehung eingehen würde. Außerdem habe er sich in seiner Wagenburg, der neuen Villa Kunterbunt, so gut eingelebt und eingerichtet, da sei für eine Frau eigentlich gar kein Platz.

Ute und Monika hingegen dachten oft an ihre Mutter und Günther ließ sie auch gewähren. Ein Fotoalbum mit Bildern aus glücklicheren Tagen, als die Familie noch eine Familie war, hielten die Mädchen in Ehren und wenn sie melancholisch wurden, blätterten Ute und Monika gerne darin.
Günther versuchte alles, um den Mädchen ein so guter Vater zu sein, daß sie zumindest von der Versorgung her eine Mutter nicht vermissen mußten.

Seit gut einem halben Jahr waren Günther und die Mädchen wieder vereint.
Die Pflegefamilie Krawutzki hatte den Mädchen gut getan. Die stämmige, vollbusige Pflegemutter mit dem lauten Organ und der große, kräftige Pflegevater führten ein merkwürdiges Haus mit fünf bis acht teils wechselnden Pflegekindern.
Ordnung war nicht gerade das oberste Gebot in dem Haus, aber gegenseitiger Respekt wurde deutlich eingefordert.
Das Leben bei den Krawutzkis war so bunt und anders, daß Ute und Monika genug damit zu tun hatten, sich dort einzufinden und gegen die zum Teil recht forsch auftretenden anderen Kinder anzukommen. So waren ihnen die 14 Tage, die sie dort verbracht hatten, sehr kurz vorgekommen.

Als Günther aus dem Krankenhaus entlassen worden war, hatte Horst ihn abgeholt. „Ich kann Dich doch nicht hängen lassen“, hatte sein Freund gesagt. Am Abend zuvor hatte Horst mit mir telefoniert und sich versichert, daß ich mich ein bißchen um Günther kümmern würde, sonst könnte er nicht guten Gewissens nach Wolfratshausen zu seiner Mutter zurückkehren. „Ich habe noch hin und wieder hier in der Gegend zu tun, aber meine Mutter braucht mich wirklich. Ich wäre sowas von beruhigt, wenn ich wüßte, daß Sie ein Auge auf Günther haben.“

Das versprach ich ihm gerne, zumal ich die beiden Mädchen in mein Herz geschlossen hatte und meine Tochter sich mit ihnen angefreundet hatte.
Günther kam von da an regelmäßig zu Besuch und vor allem bei schönem Wetter machte ich immer gerne einen Umweg, um bei ihm im Garten zwischen den bunten Bauwagen und Waggons eine Stunde zu verbringen.
Auch wenn ich immer Schwierigkeiten hatte, aus dem rätselhaften Gerede die Essenz herauszuziehen, habe ich, das muß ich rückblickend sagen, unglaublich viel von diesem Mann gelernt.
Ich habe gelernt, daß man mit wenig zufrieden sein kann. Ich habe von Günther gelernt, wie man Autos repariert, Funkgeräte repariert und wie man angelt, mit dem Bogen schießt und wie man mit Menschen umgeht.
Seine einfache, geradlinige und ungekünstelte Denkweise hat mir immer imponiert.
Wie oft war ich bei ihm und habe ihm von irgendwelchem Ärger mit Kunden, Angestellten, Frau oder Kindern erzählt! Und was machen die so genannten besten Freunde dann für gewöhnlich? Sie blasen ins selbe Horn, bestätigen einen nur im Ärger, reden einem das Wort und verstärken im Grunde genommen nur noch das Problem.
Günther war da anders. Er gab niemals Gefälligkeitsgutachten ab, er hat mir oft genug den Kopf zurecht gerückt und mit gezeigt, wo ich Fehler gemacht habe und daß mein Ärger eigentlich durch mich verursacht worden war.
Das wollte ich meist gar nicht gerne hören, aber wo er Recht hatte, hatte er eben Recht.

Thomas blieb im Heim. Günther hatte längst eingesehen, daß sein Sohn dort am besten aufgehoben war. Ein-, zweimal hatte er ihn versuchsweise am Wochenende abgeholt, aber das hatte jedesmal in einer mittleren Katastrophe geendet. Thomas kam mit abrupten Veränderungen nicht zurecht und trotz der großen Freude, wenn er Vater und Geschwister sah, begann er sich schon zu sträuben und zu wehren, wenn er aus dem Auto aussteigen und das Gartengrundstück betreten sollte. Das war nicht seine Villa Kunterbunt, das war ein anderes Gelände, das waren andere Räumlichkeiten, das war ihm fremd und unvertraut.
So kam es, daß Günther schweren Herzens von diesen Wochenenden absah und es dabei bewenden ließ, Thomas zweimal im Monat zu besuchen.

Das Ehepaar Birnbaumer-Nüsselschweif war nach der Einstellung der polizeilichen Ermittlungen zunächst zum Wochenendhaus im Wald zurückgekehrt und dort auch einige Tage geblieben.

„Wir haben uns nichts vorzuwerfen, Du Heini!“ schimpfte Frau Birnbaumer-Nüsselschweif und schlug die Tür zu jenem Zimmer zu, aus dem Herr Birnbaumer durch ein Loch in der Wand die beiden Mädchen beobachtet hatte.
„Verfluchte Muschen!“ schimpfte er vor sich hin, als er das Loch sorgfältig mit Kitt verschloß und mit einem Tapetenrest, den er hinter einer Kommode losgelöst hatte, so verklebte, daß man selbst bei sorgfältiger Suche von keiner Seite der Wand das Loch hätte entdecken können.
Seine dicke Frau war sich keiner Schuld bewußt und betonte in jedem zweiten Satz, daß sie als perfekte Mutter nur ihr großes Herz geöffnet und zwei „arme Sünderkinder“ mit mütterlicher Liebe übergossen habe. „Daraus kann man mir ja nun wirklich keinen Vorwurf machen.“

Er hingegen hatte weniger väterliche Gefühle entwickelt, als vielmehr ein Interesse an der aufknospenden Weiblichkeit der Mädchen gezeigt. Die kleine Kamera im Zimmer der Mädchen, das Refugium im Keller, diverse Fotos und die vielen Spiegel, die Löcher in Wänden, Türen und Regalen verursachten ihm ein schlechtes Gewissen. Herr Birnbaumer hatte Angst. Er hatte Angst davor, die Polizei könne doch noch die beiden Häuser durchsuchen und aus diesen Dingen unangenehme Schlüsse ziehen.
Deshalb wollte er dafür sorgen, daß so schnell wie möglich alle Hinweise auf seinen Voyeurismus beseitigt wurden.

Gerade war er mit dem Zukleistern des Lochs fertig und wollte hinunter in das Wohnzimmer des Wochenendhauses gehen, da sah er von der Treppe aus, wie seine Frau im Wohnzimmer mit einer Kleiderbürste in der Hand auf und ab lief und vor sich hin redete. Dabei hielt sie sich die Kleiderbürste wie ein Mikrofon vor den Mund und sprach hinein.

„Was machst Du denn da, Luitgard?“ fragte der verdutzte Mann.

„Ich? Ich übe meinen Auftritt!“

„Was denn für einen Auftritt?“

„Ich habe soeben 30 Mails an alle möglichen Sender und Zeitungen vorbereitet, muß ich nur noch abschicken. Ich bewerbe mich jetzt für alle Talkshows und für Interviews, denn das Schicksal dieser armen Mädchen, die jetzt wieder bei diesem Verbrecher und Penner leben müssen, das muß der Welt erzählt werden.“

„Kann es sein, daß Du nur wieder die Öffentlichkeit suchst und Aufmerksamkeit haben willst?“

„Dummes Zeug! Ich mache das selbstlos. Außer den Reisekosten und der Übernachtung will ich nichts für meine Auftritte, das habe ich den Sendern auch geschrieben.“

„Ich glaube nicht, daß das eine gute Idee ist, jetzt an die Öffentlichkeit zu gehen. Du weißt doch…“

„Ach, sei ruhig, Du Entenschnabel. Immer nur Quack, Quack aus Deinem Mund. Ich weiß, was ich tue. – Stell Dir vor, ich könnte das dunkelblaue Kleid anziehen und an den Kragen mache ich mein Bundesverdienstkreuz. Was das für ein Bild gibt. Ach, ich kann es kaum erwarten. Es gibt so viele Mütter da draußen, die mich genau verstehen werden.“

„Weißt Du, Luitgard, je öfters Du das Wort Mutter in letzter Zeit in den Mund nimmst, umso seltsamer klingt das für mich.“

Die Dicke fuhr herum, warf die Kleiderbürste auf das Sofa und sprang ihrem Mann auf der Treppe entgegen: „So? Merkwürdig klingt das für Dich? Und was soll ich denn sagen? Hä? Du als Vater bist ja wohl auch voll die Niete! Wer hat denn immer einen erigierten Pürzel in der Hose, wenn eine der Muschen nur an ihm vorbei läuft? Mich, mich treiben wahre Muttergefühle um, Du hast den Muschen doch nur auf die Titten geglotzt.“

„Als Vater muß man sich auch um solche Sachen kümmern?“

„Was? Ich hör wohl nicht recht!“

„Ja, man muß gucken, wie sich die Mädchen entwickeln, um einen Überblick zu haben. Sonst kann man sie nicht richtig beschützen vor den lüsternen Kerlen da draußen.“

Die Dicke hielt inne, stutzte, schien angestrengt zu überlegen, dann leckte sie sich die Lippen, lächelte und tätschelte ihrem Mann über den Kopf, so wie man es mit einem zurückgebliebenen Dorftrottel tut, der einem im Hochsommer eine frohe Weihnacht gewünscht hat. „Ja, da hast Du Recht.“

„Sie mal, Luitgard, ich muß nur jetzt alles wegmachen, sonst könnten die vom Satan beeinflußten bösen Menschen da draußen das in den falschen Hals bekommen.“

„Ja, mach mal! Und vergiß die Fotos auf dem Laptop nicht, die Du gemacht hast!“

„Ja, ich lösche die sofort. Ist ja sowieso nichts Schlimmes drauf.“

„Aber lösche meine Mails an die Sender und Zeitungen nicht, drei muß ich noch abschicken!“

„Ich passe auf, Mauseschnäutzchen, Du weiß doch, daß ich mich auskenne.“

So setzte sich der Mann an den Rechner, öffnete den Ordner mit den rund zwei Dutzend Fotos, die er heimlich von den halbbekleideten und nackten Mädchen gemacht hatte, immer nur vom Hals abwärts, sodaß man ihre Gesichter nicht sehen konnte, und markierte alle Dateien. Rechtsklick und dann auf „Löschen“…

„Hast Du alles gelöscht?“ unterbrach ihn seine Frau, die urplötzlich ganz dicht hinter ihm stand und da sie die Bilder nicht im Detail kannte, wollte er den Ordner schnell wieder schließen. Ein Klick und dabei eben die Maus ein wenig verzogen und statt auf „Löschen“ hatte er auf „Datei(en) senden“ geklickt, klappte den Laptop zu und ohne daß das Ehepaar Birnbaumer es merkte, wurden die Bilder mitsamt Luitgard Birnbaumer-Nüsselschweifs Interviewangebot an die drei größten Zeitungen in der Region geschickt.


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Die Geschichten von Peter Wilhelm sind Erzählungen und Kurzgeschichten aus dem Berufsleben eines Bestatters und den Erlebnissen eines Ehemannes und Vaters.

Die Geschichten haben meist einen wahren Kern, viele sind erzählerisch aufbereitete Tatsachenerzählungen.

Die Namen, Geschlechter und Berufe der erwähnten Personen sind stets verändert.

Lesezeit ca.: 15 Minuten | Tippfehler melden | Peter Wilhelm: © 20. November 2013

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3 Kommentare
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Arno Nühm
10 Jahre zuvor

Oh, das wird ja noch mal spannend. Ich dachte, hier wird nur noch zuendegeknüpft und fertiggekehrt.

PMK74
10 Jahre zuvor

Oh Mann, da hat Tom ja nochmal ordentlich Holz im Kamin nachgelegt, um Günthers Geschichte noch XXVII Kapital weiter brennen zu lassen. 🙂

10 Jahre zuvor

Holla! Was für eine Spannung!




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