Geschichten

Günther -XII-

Die Männerwohngemeinschaft von Günther und Leo entwickelte sich im Laufe der Zeit da hin, daß die Männer stumm aneinander vorbei lebten. Man grüßte sich, man wechselte einen, höchstens zwei Sätze und ansonsten beschränkte sich die Kommunikation auf den Austausch so wichtiger Hinweise wie „Klopapier is‘ alle.“

Im Grunde waren Günther und Leo auch viel zu verschieden, als daß sie auf ewig dicke Freunde sein könnten. Es war eher Toleranz und Abstandhalten, das das Verhältnis ausmachte.

Ging es aber einem von beiden dreckig, dann war der andere für ihn da.

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Wenn man Leo so erlebte, bekam man schnell den Eindruck, man habe es mit einem etwas minder bemittelten Trottel zu tun und einer der Hellsten war Leo ganz gewiss auch nicht. Aber er besaß so etwas wie eine fuchsige Bauernschläue und kam dadurch bei manchen Sachen leichter zum Ziel als Günther, der nur schwerfällig formulieren konnte und immer alles viel zu kompliziert anging.

Inzwischen hatte Günther aber trotzdem herausgefunden, daß seine drei Kinder in zwei Heimeinrichtungen untergebracht waren. Nebenbei bemerkt hatte ich große Schwierigkeiten, überhaupt zu verstehen, wie viele Kinder Günther eigentlich hatte. Mal redete er von den zwei Kindern, dann wieder von dreien.
Ganz genau waren es zwei Mädchen, Monika und Ute, die erste muß damals so um die neun Jahre alt gewesen sein, das zweite Mädchen war etwa acht Jahre alt und dann war da ja noch Thomas, der schwer geistig behindert war und erst sechs Jahren alt war.

Die Mädchen waren in einer Einrichtung untergebracht, aber in verschiedenen Häusern auf einem riesigen Gelände und sahen sich nur bei seltenen Veranstaltungen des ganzen Heims. Thomas hatte man in ein Heim gebracht, in dem besonders auf seine Behinderung eingegangen werden konnte.
Thomas konnte zu dieser Zeit nicht richtig sprechen, bewegte seine Arme sehr unkoordiniert und neigte dazu, die Kontrolle über seinen Stuhlgang zu verlieren.
Günther und seine verstorbene Frau waren aber in der Lage gewesen, Thomas anzusehen und aus seinen unartikulierten Äußerungen entnehmen zu können, ob er hungrig war, ob er etwas trinken wollte oder ob er zur Toilette mußte. Daheim hatte er schon lange nicht mehr in die Hose oder ins Bett gemacht.
Im Heim lief Thomas mit einem Kopfschutz herum, wie ihn auch Boxer beim Sparring tragen, damit er sich nicht verletzen konnte. Es hatte auch niemand Zeit, ihn zu beobachten und ihm zuzuhören, sodaß man ihm einfach eine Inkontinenzwindel angezogen hatte, die die meiste Zeit des Tages vollgeschissen war, um es mal mit deutlichen Worten zu sagen.

Monatelang hatte Günther dem Jugendamt und den Heimen geschrieben, aber anfangs nur abschlägige Bescheide erhalten. Zum Erhalt des Kindswohles sei es erforderlich die Kinder bis auf weiteres in den Einrichtungen zu belassen und damit die Phase der Neuorientierung nicht gestört würde, könne man auch keine Besuche des Vaters zulassen.

„Biste doof?“ fragte Leo ihn eines Tages, „Was schreibste denen immer wegen Besuchen? Du willst die doch gar nicht besuchen, Du willst doch daß die Kinder bei Dir leben können, odda?“

„Ja schon, aber guck Dich hier mal um, schau Dir an, wie ich hier hause, da bekomme ich doch meine Kinder nicht zurück.“

„Dummzeuchs! Haste mal gesehen, wie die Kindern von den Baracklern aufwachsen? Die Kinder von den Leuten, die die Stadtverwaltung selbst in diese Obdachlosensiedlungen eingewiesen hat? Denen nimmt auch keiner ein Kind wech, ne! Un‘ Dir haben’se die Kinners ja auch man gar nich weggenommen, die sind da nur untergebracht. Du muß‘ nen ganz anderen Weg gehen.
Räum hier ma‘ auf, mach die Betten für die Kinder fein zurecht, pack den Kühlschrank voll und dann frachste nich brav und demütig an, ob Du die Kinder denn vielleicht, eventuell, möglicherweise mal sehen darfst, sondern dann stellst Du die Forderung, daß Deine Kinder sofort und gleich hier bei Dir wohnen dürfen. Nich herumzaudern und lange fackeln, sondern gleich ma‘ auffen Putz hauen. Ihr seid doch schließlich eine Familie und Du bist der leibliche Vater. Mann ey, stell Dich mal auf die Hinterfüße, Günna!“

Günther überlegte fast zwei Wochen lang, schrieb etliche Entwürfe eines für ihn wichtigen Briefes, verwarf sie wieder und schließlich hatte er einen Brief getippt, der im wesentlichen genau das enthielt, was Leo ihm gesagt hatte.
Er forderte die sofortige Rückkehr seiner Kinder in seine Obhut als leiblicher Vater und betonte, daß seine Kinder von ihm rundherum versorgt werden könnten.

Und diesen Brief schickte er dieses Mal nicht nur an das Jugendamt, sondern auch an das Familien- und Jugendgericht.

Einige Wochen lang passierte gar nichts und Günther hatte auch diesen Brief schon als weiteren erfolglosen Versuch abgehakt. Dann kam ein Anruf vom Jugendamt, in dem ihn ein städtischer Sachbearbeiter aber sowas von böse abkanzelte, daß Günther regelrecht Herzbeklemmungen bekam.
Was ihm denn einfallen würde, an das Gericht zu schreiben, wie er denn auf die wahnwitzige Idee komme, die Kinder zu sich zu holen, er sei doch vorbestraft, arbeitslos und wohne unter unzumutbaren Umständen quasi in der Asozialität.

Doch einige Tage später hielt Günther dann einen Brief auf schäbigem Recyclingpapier in den Händen, der ihn zu einer Anhörung einbestellte.
Später konnte Günther mir nicht genau wiedergeben, ob er nun zum Gericht oder zum Jugendamt einbestellt worden war, aber nach allem was ich mir da so zusammenreimen muß, könnte es durchaus ein Termin bei einem Familienrichter gewesen sein.

Auf jeden Fall ist er dort in seinem viel zu engen dunkelblauen Anzug hingegangen, hatte sich die mittlerweile etwas üppig gewordene Haarpracht mit Gel sauber nach hinten geglättet und seinen Rübezahlbart sogar abgeschnitten und sich richtig glatt rasiert.
So saß er dann da, nach billiger Seife riechend auf der einen Seite des Raumes und auf der anderen Seite hatten drei Leute vom Jugendamt Platz genommen, zwei Männer, die von der ganzen Sache offensichtlich überhaupt nichts wußten und nur deshalb da waren, weil der Buchstabe von Günthers Nachnamen in ihren Zuständigkeitsbereich fiel und eine Frau, die mit spitzer Nase und kleinen Mausaugen ihren Mund in Günthers Richtung spitzte und ihn mit einem abschätzigen Blick von oben bis unten musterte.

Der Richter, Rechtspfleger oder Amtsleiter sei dann in den Raum gekommen, habe alle kurz mit einem Nicken und irgendetwas Gemurmeltem begrüßt, dann durch seine Halbbrille einige Seiten der dünnen Akte studiert und schließlich mit dem Wort „bitte!“ Günther aufgefordert, zu sprechen.
Günther stand auf, rieb sich verlegen die schweißnassen Hände an der Hose ab und erzählte dem Richter (nennen wir ihn mal so) von den schönen Zeiten, die er mit Frau und Kindern verbracht hatte.
Dann schilderte er, daß seine Frau durch eine tragische Tat ums Leben gekommen sei und er sich als Vater nun um seine Kinder kümmern möchte.

Ein kurzes Nicken des Richters bedeutete ihm, sich wieder zu setzen und dann reckte der Richter sein Kinn auffordernd in Richtung der drei Amtspersonen. Die blieben natürlich sitzen und sonderten der Reihe nach unverständliches Pädagogengewäsch ab.
Je länger die Leute vom Jugendamt sprachen, umso mehr runzelte der Richter die Stirn.
Schließlich begann er, immer ungeduldiger werdend, mit dem Kugelschreiben auf den Aktendeckel zu tippen und dann schnitt er der Frau vom Jugendamt, die gerade den schrecklichen Charakter von Günther thematisieren wollte, einfach das Wort ab, indem er sich wieder an Günther wandte und fragte:
„Haben die Kinder bei Ihnen eigene Zimmer oder wie sind sie untergebracht?“

„Jedes Kind hat sein eigenes Zimmer, jedes Kind hat sein eigenes Bett, nur den Thomas den lasse ich bei mir im Zimmer schlafen, der ist ein wenig zurück und auf den muß ich aufpassen.“

„Wie sieht es mit der Schule aus?“

„Die Mädchen sind ja sowieso in die Schule gegangen, der Thomas sollte jetzt noch ein Jahr warten und dann in das Heimdienstwerk von der Kirche gehen, die haben da doch diese Schule für Behinderte. Die holen den sogar zu Hause ab und bringen ihn abends wieder. Ich bin ja nur einmal über die Straße gezogen, da ändert sich doch nichts.“

„Und die Betreuung?“

„Betreuung? Sie meinen, weil die Mutter tot ist? Na, sehen Sie, Hochwürden, wenn meine Frau ganz normal gestorben wär‘, hätte auch keiner danach gefragt. Nur weil die behauptet haben, ich wär das gewesen mit meiner Frau, deshalb waren die Kinder vorübergehend weg. Die mußten ja wo hin. Aber ich war das nicht gewesen, ich bin ein freier Mann und jetzt ist das Vorübergehende vorbei, jetzt können die Kinder wieder zu ihrem Papa nach Hause kommen. Was eine Mama machen kann, das kann ein Papa nicht, Kinder brauchen eine Mama und einen Papa. Wenn da nur eine Mama ist, dann fehlt der Papa und wenn da nur ein Papa ist, dann fehlt denen die Mama. Von dem ganzen Alleinerziehen-Mist halte ich nich‘ viel.
Aber, Hochwürden, im Heim haben die weder Papa, noch ’ne Mama; und was ist denn da besser für die Kinder? Ich meine, wenn’se wenigstens beim Papa sein können, dann ist das allemal besser als so’n Heim.“

Der Richter nickte kurz, dann schaute er etwa fünf Sekunden scheinbar gedankenverloren auf einen imaginären Punkt an der Decke, klappte den Aktendeckel wieder auf und sagte:

„Nach den Maßgaben des Paragraphen… unter Berücksichtigung der Umstände… bei Einbeziehung der Familienhilfe… außerordentliches Unrecht geschehen… Zustände nicht weiter tragbar… Auferlegung von Sofortwirksamkeit…“

Dann klappte er die Akte zu und bedankte sich bei den Anwesenden.

„Tschuldigung!“ rief Günther, „Ich hab das nicht verstanden! Was ist denn nun Sache?“

Der Richter mußte kurz grinsen und setzte sich wieder hin, er war nämlich schon aufgestanden und hatte nicht daran gedacht, seine Entscheidung auch in einem Deutsch zu formulieren, das Günther verstehen konnte.

„Sie können selbstverständlich sofort Ihre Kinder zu sich holen. Die Kinder haben ein Elternteil, für eine Heimunterbringung besteht überhaupt kein Grund. Das Jugendamt wird Sie bei Ihren Bemühungen, die Kinder zu betreuen, unterstützen. Hierzu habe ich angeordnet, daß die Kinder- und Jugendhilfe bei Ihnen nach dem Rechten sieht. So hat das Amt eine gewisse Kontrolle und Sie haben Ihre Kinder wieder“, sagt der Richter und wandte sich dann an einen der Herren vom Jugendamt, die das Zimmer schon fast verlassen hatten:
„Herr Schneidereit, wie sieht es denn aus, wann können die Kinder bei ihrem Vater sein?“

„Er kann sie abholen, wenn wir die Sache bearbeitet haben und ihm die entsprechenden Bescheide zugesandt haben.“

„Also heute Abend?“

„Was?“

„Heute Abend, nicht wahr?“

„Aber. das geht doch nicht!“

„Warum nicht?“

„Wir müssen doch erst….“

„Was müssen Sie?“

„Ja aber…“

„Nichts ja aber. Abern sie hier mal nicht so amtlich herum. Ich erwarte, daß Sie die Kinder bis heute Abend zu ihrem Vater gebracht haben.“

Mit diesen Worten und einem abermaligen kurzen Nicken in Günthers Richtung war der Richter dann durch die rückwärtige Tür des Raumes verschwunden.
Von der anderen Tür blitzten Günther die fast schon feindseligen Blicke der Leute vom Jugendamt an.
Doch Günther war glücklich, er konnte gar nicht fassen, daß das alles so gut für ihn gelaufen war.
Doch als er die Blicke der Leute vom Jugendamt sah, da wußte er: Da kommt nichts Gutes auf ihn zu!

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(©si)