Es war keine große Sache, die Kinder wieder zu sich zu holen. Günther ließ sich einfach von seinem Freund Horst zu den Heimen fahren, sprach bei der Verwaltung vor und konnte seine Kinder mitnehmen.
Wer glaubte, hier würden sich jetzt noch irgendwelche Schwierigkeiten auftun, die der brave Mann zu überwinden hatte, der irrt. Nein, ganz im Gegenteil, es entwickelte sich Harmonie und Glückseligkeit.
Auf dem riesigen Grundstück hinter der Villa Kunterbunt, wie Günther seine Laube nannte, hatte er einen großen aufblasbaren Swimming-Pool aufgebaut, gemeinsam mit Leo, seinem Untermieter aus dem Wohnei, ein Baumhaus gezimmert und wer in diesen Tagen dorthin kam, der erlebte ein Idyll.
So und nicht anders hatte sich Günther das vorgestellt. Seine Kinder waren bei ihm und gemeinsam als Familie konnten sie den Verlust von Ehefrau und Mutter verarbeiten und in Ruhe und Frieden leben.
Schön!
Morgens kam der Abholbus für den behinderten Thomas, der eine vorschulische Einrichtung für Behinderte besuchte, und die beiden Mädchen konnten selbst die knapp 900 Meter zur Schule laufen.
Günthers Tagesablauf begann stets mit einer großen Kanne Kaffee und ein paar selbstgestopften Zigaretten, jedoch niemals, ohne zuvor ein Marmeladenbrot gegessen zu haben.
Dann weckte er die Kinder und überwachte das morgendliche Treiben rund um das einzige Waschbecken in der Küche, wo man sich gleichzeitig wusch, die Zähne putzte, Frühstück machte und sich auch ankleidete.
Günther und die Kinder liebten dieses ritualisierte Wecken, Aufstehen und Fertigmachen, zu dem immer der gleiche Fröhlichsender aus dem Radio dudelte. Vor allem der behinderte Thomas brauchte diese gleichmäßigen Abläufe, je mehr sich sein Leben in festen Schienen bewegte, deren Links und Rechts er kannte, umso befreiter konnte er denken, leben und atmen. Alles, nur keine Veränderungen!
So mochte Thomas morgens immer eine durchgeschnittene Scheibe Brot und auf der einen Hälfte mochte er Erdbeer-Rhabarber-Marmelade und auf der anderen Hälfte Nutella. Nur so und nicht anders mußte für ihn der Tag beginnen.
Einmal war die Erdbeer-Rhabarbermarmelade alle, weil seine Schwester Monika den letzten Rest genommen hatte. Günther machte ihm dann eine Hälfte seines Brotes mit reiner Erdbeermarmelade und glaubte, den kleinen Unterschied würde Thomas doch gar nicht bemerken können.
Doch da hatte Günther sich geirrt. Das folgende Theater, als Thomas schreiend und weinend das Frühstücksbrettchen mit dem Erdbeermarmeladenbrot wegstieß und dann den ganzen Tag nicht mehr ansprechbar war, wird Günther nie vergessen. Der schwer geistig behinderte Junge konnte eben Veränderungen nicht verarbeiten.
Doch kaum sechs Wochen währte das Idyll, dann wurde das Familienglück jäh gestört. Eines Tages erschienen ein Mann und eine Frau vom Jugendamt und erkundigten sich bei Günther durchaus freundlich und Hilfsbereitschaft zeigend nach dem Wohlergehen der Kinder.
Er habe ja wohl sicherlich nichts dagegen, wenn sie sich mal umschauen würden und man wolle ja nur einmal alles sehen, nur für den Bericht, reine Routine, das wäre immer so, das habe in der Regel auch keine Nachteile.
Günther empfand das Ansinnen der beiden Amtspersonen als Zumutung. Aus seinen Monaten im Gefängnis waren ihm unangekündigte Zellendurchsuchungen und das Fremdbestimmtsein an sich ein Gräuel und sofort stieg in ihm ein Gefühl der Ablehnung und des Widerstands auf.
Doch er zwang sich, ruhig zu bleiben, rang sich den letzten Rest Freundlichkeit, zu dem er in dieser Situation in der Lage war, ab und führte die Leute durch die hintereinander liegenden Räume seiner „Villa“.
Ja ja, das sehe ja alles ganz ordentlich aus, es gebe ja Betten und Räume genug, sicher, die sanitären Einrichtung ließen zu wünschen übrig, aber sie entsprächen den allgemeinen Richtlinien, ob das da oben Feuchtigkeit an der Decke wäre, wo denn ein Schreibtisch für die Schularbeiten sei und wo denn bitteschön die Badewanne sei.
Das Klo wolle er demnächst noch richten, erklärte Günther und auch die Reparatur des Daches sei schon fest eingeplant, dort liege schon die Rolle aus Dachpappe und einen Schreibtisch bräuchten die Kinder nicht wirklich, man habe ja einen Wohnzimmertisch und einen Küchentisch. Eine Badewanne habe er hingegen nicht vorzuweisen, aber die Kinder sind ja sowieso nachmittags dauernd im Garten, schwimmen und brausen sich draußen ab und am Spülstein in der Küche könne man sich ganz vortrefflich waschen.
„Den Thomas, der ist ja noch klein, den stelle ich zweimal in der Woche da in den Spülstein und seife den von oben bis unten ab, das mag der so. Meine Kinder sind immer sauber, die riechen immer so schön nach frisch gewaschen.“
Fein, das sei ja alles fein, hieß es und schon waren die Leute vom Amt wieder weg. Das war ja noch mal gut gegangen.
Aber nur scheinbar. Schon drei Tage später kam der schriftliche Bescheid, das Amt habe angeordnet, daß Günther eine Familienhelferin vom allgemeinen Wohlfahrtsverband der Kirchen und Kommunen beigesellt werde, die ihn bei den Aufgaben in Haushalt und Kinderbetreuung unterstützen solle.
Außerdem wurde ihm die Auflage gemacht, binnen vier Wochen eine geeignete Waschgelegenheit zu schaffen, die ungestörtes Duschen oder ein Vollbad ermögliche. Auch das Dach sei dringend zu reparieren, die Amtspersonen hätten den ersten Anflug einer Schimmelbildung an der feuchten Stelle festgestellt. Das sei komplett zu beseitigen.
„Da war noch nie Schimmel gewesen, da ist bloß eine Teerbahn durch und wenn es ganz stark von Norden her regnet, was nur alle Jubeljahre mal vorkommt, dann habe ich da einen feuchten Fleck, so groß wie eine Handfläche. Der trocknet dann wieder ab und alles ist gut. Man sieht hier von drinnen bloß diesen Schatten vom Feuchten, da ist kein Schimmel.
Aber gut, ich hab das dann sofort repariert, die Dachpappe hatte ich ja schon lange da liegen, ich habe bloß immer darauf gewartet, daß Horst mal seine Gasflasche und den Brenner mitbringt, diese moderne Dachpappe die tut man ja nicht mehr draufnageln sondern die wird gleich aufgeflammt und klebt dann von selbst, wie Pech und Schwefel.“
Unter einer Familienhelferin stellte sich Günther eine etwas dickere, ältere Frau vor, die burschikos auftritt, aber vor allem beim Kochen, Waschen und Putzen hilft.
Günther konnte kochen, aber nicht sehr phantasievoll. Eine ordentliche Hackfleischsoße und Gulasch, das waren seine Spezialitäten. Dazu gab es immer Nudeln. Außerdem konnte er Bratwürste, Kartoffeln in allen Variationen und Braten mit Soße. Hinter einem Vorhang im kleinen Vorraum vor der Küche bewahrte er jede Menge Nudeln und eine große Zahl von Konserven mit Gemüse auf.
So ausgerüstet konnte er seinen Kindern jeden Mittag ein ordentliches Essen hinstellen.
Das heißt, mittags aßen nur die Mädchen, da saß er dann dabei und aß nur ein „Versucherle“ mit. Seine Hauptmahlzeit nahm Günther stets erst um 17 Uhr ein, wenn Thomas wieder nach Hause gebracht wurde.
Thomas aß nur Nudeln mit Ketchup und Gemüse. Auch mit einem unpanierten Schnitzel konnte man ihm eine Freude machen und ab und zu mochte er auch ganz gerne Fischstäbchen; aber das mußte er selbst wollen. Hatte Günther ein Schnitzel oder Fischstäbchen für ihn, mußte er ihm aber zuerst immer eine kleine Portion Nudeln mit Ketchup hinstellen, ohne das war Thomas nicht glücklich, und dann konnte Günther seinem Sohn noch einen Teller mit dem anderen Essen anbieten. Oft nahm Thomas das ohne weiteren Kommentar, ohne weitere Regung. Aber meistens war es der Fall, daß er sich heftig schüttelte, das andere Essen wegschob und auf den Topf mit den Nudeln zeigte.
Er wollte eben keine Veränderungen, alles mußte immer gleich sein.
Eines Tages, es war ein Donnerstag, klingelte es morgens kurz vor Sieben bei Günther. Normalerweise konnte er vom Küchentisch, wo er die meiste Zeit des Tages zubrachte, gute sehen, wer den langen Weg von der Straße, an der Garage und Leos Wohnei vorbei den Weg zu seiner „Villa“ nahm. Aber an diesem Morgen war er gerade mit seiner Kanne Kaffee beschäftigt und so überraschte ihn das Klingeln.
Günther wischte sich die Hände an seiner Schlafanzughose ab und öffnete.
Vor ihm stand eine etwas füllige Frau, etwa Mitte bis Ende dreißig, in einem langen grauen Wollmantel, die ihm ein städtisches Schreiben unter die Nase hielt: „Ich bin die ehrenamtliche Familienhelferin vom kirchlich-kommunalen Wohlfahrtsverbund, mein Name ist Birnbaumer-Nüsselschweif, ich komme jetzt jeden Morgen. Um es gleich vorweg zu sagen, ich wasche nicht, ich putze nicht, ich koche nicht und ich bin nicht Ihre Haushaltshilfe und Putzfrau. Meine Aufgabe ist es, Sie bei der Erziehung und Betreuung Ihrer Kinder zu unterstützen und dem Amt zu berichten. Wo sind sie denn die lieben kleinen Kinderlein? Huhuuu! Kuckuck! Wo seid ihr denn!“
Und während sie „Kuckuck“ krähend einfach an Günther vorbei marschierte, fing Thomas in seinem Bett an zu weinen, er hatte Angst, seit Jahren wurde er anders geweckt und nicht durch das Kuckuck-Rufen einer wildfremden Frau.
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Als ob man’s geahnt hätte…
oh-mein-gott – die nüssel…
Schon beim Lesen der Stelle, dass er eine Hilfe bekommt, kam mir die Bi-Nü in den Sinn. Muss es aber ausgerechnet sie sein? (Ja ich weiss, dass Tom mit der Bi-Nü alle möglichen Leute meint, die so gestrickt sind. Trotzdem ist mir die Frau sowas von unsympathisch.) Das kann nicht gut gehen. Armer Günther, arme Kinder, mit Thomas wird sie sowieso nicht auskommen.
Da würd ich aber auch Angst kriegen, wenn auf einmal die Hirnkaum-Rüsselkeif vor meinem Bett steht.
Es zeugt von Einfühlungsvermögen, wenn diese Dame einfach so in das Familienleben eindringt und sich einen Dreck drum schert, was ihr Auftreten auslösen könnte – das sind diese Leute, die auf Kritik dann beleidigt mit „aber ich habs doch gut gemeint“ reagieren und richtig Stress machen, wenn es nicht so läuft, wie sie sich das vorstellen. Das Gegenteil von gut ist nach wie vor gut gemeint… Am Ende kriegt Günther noch Ärger, weil er „unkooperativ“ ist…
Oh. Mein. Gott. Geh ich richtig in der Annahme dass der kleine Thomas eine autistische Störung hat? Mit diesen Menschen muss man ganz behutsam umgehen, sie lange auf Veränderungen vorbereiten und am besten gar nichts verändern. Eine Nüsselschweif, die mit Pauken und Trompeten in das Leben eines Autisten eindringt und wahrscheinlich meint, sie könnte alles besser machen ist eine absolute Katastrophe. Und ich meine nicht die lustige Art von Katastrophe…
Sag mal wie viele Klone von der Nüsseligen gibt es eigentlich, so viel Unvernunft kann doch nicht nur in einer Person wohnen?
[quote]Sag mal wie viele Klone von der Nüsseligen gibt es eigentlich, so viel Unvernunft kann doch nicht nur in einer Person wohnen?[/quote]
@ Kryptische:
Doch, das klappt. Verbinde Lokalpolitik mit totaler Merkbefreitheit und einem Riesenego, dann kommt als Ergebnis eine Frau/ein Herr B.-N. dabei raus.
[quote]Das Gegenteil von gut ist nach wie vor gut gemeint… Am Ende kriegt Günther noch Ärger, weil er „unkooperativ“ ist…
[/quote]
@ den einen anderen Stefan:
Dem ist nichts mehr hinzu zu fügen.
[quote] Hirnkaum-Rüsselkeif [/quote]
@ Oliver:
Klasse!
B. A.
Ich tippe gerade mit der Nase. Kann mir mal jemand meine Fingernägel und Zähne aus dem Tisch ziehen?
Meine Fresse, dem armen Kerl bleibt aber auch nichts erspart.
Aber das alles kennt man ja, wenn schon nicht aus eigener Erfahrung, so doch mit Sicherheit von irgendwelchen Bekannten.
Das Amt mischt sich immer nur dort ein, wo es sinnfrei ist.
Wenn es gebraucht wird, nein dann ists zu kompliziert. Da wartet man lieber bis vielleicht ein Kind zu Tode kommt um nachher von nichts gewusst zu haben.
Schon komisch, dass es diese Frau/Herr Birnbaumer-Nüsselschweif in jedem Dorf/jeder Stadt gibt 😉 meine Oma hätte glatt auch so heißen können-Marke „Elefant im Porzellanladen“ und nicht wirklich hilfreich.
Nein!!! NEIN!!!! O Gott, kann man da nicht irgendwie nen Austausch der Haushaltshilfe beantragen? Jetzt hab ich Angst, dass der Rest der Geschichte seelische Phantomschmerzen auslösen wird! Gehts gut aus, Tom? (gut in diesem Sinne gleichbedeutend mit schlecht für die Bi-Nü, hrhr)
Apropos „Frau/Herr“: Gibt es eigentlich auch männliche Hirnschrauber-Nixbegreifs? Merkwürdigerweise scheint das ja weitestgehend eine Frauendomäne zu sein, wenn man die Kommentare hier betrachtet. Und selbst kenne ich auch nur weibliche Varianten. (Auch wenn Heiratsschwindler wohl irgendwie artverwand sein dürften…)
Ich hatte die Nüsselschweif-Birnbaumer ja schon bei Teil XII erwartet. 🙂
Nie und nimmer möchte ich dieser Person im realen Leben begegnen, doch in den Geschichten von Tom bringt sie einfach die richtige Würze mit.
@12 (Mort): Doch doch, bei Männern gibst die hohl daherschwätzenden Wichtigmacher auch, nur trifft man die seltener in der Sozialschiene, sondern eher in Vereinen, Kleingärten und Vorstadtsiedlungen.
Das ist das Ende… das Ende… *leisewein*
Geht das hier noch weiter?
Und WIE gehts weiter?
*schnüff* ich war doch sooo geduldig. Bitte bitte, schreib weiter
Oh Gott, oh Gott…
dreissig Jahre her bedeutet das Ganze lief in den Achtzigern, als es wirklich
*dämliche* Vorstellungen von Pädagogik gab… ich habe in der Zeit Medizin studiert
und am Rande die Gutachterei mitbekommen *schüttel*.
Das wird nicht gut ausgehen, die Frau Niespulver-Hirnbeiss wird ihm die Kinder
abnehmen, die Besitzerin des Grundstücks wird sterben (und damit die Pacht
verfallen)… solche Schicksale habe ich selber kennengelernt.
Danach die Mühlen der „sozialen Unterbringung“…
Sie machen es aber spannend. Ich bin keine Dauerverfolgerin dieses Blogs, aber ich komme doch hin und wieder vorbei. Und das nur um zu erfahren wie DIESE Geschchte weitergeht. Ach bitte bitte, lieber Bestatter – mach doch weiter.
lg