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Herr Plietsch -4-

Herr Plietsch war gekommen und hatte seiner Mutter ein kleines Biedermeiersträußchen mitgebracht.
„Können Sie das meiner Frau Mutter vielleicht in die Hände geben? Ich glaube, ich kann sie nicht anfassen….“

„Mach ich doch gerne, kommen Sie!“

Dann stehen wir vor der Tür, ich öffne sie und lasse Herrn Plietsch den Vortritt. Was tun Menschen, wenn sie in einen Aufbahrungsraum kommen, in dem ein offener Sarg mit einem verstorbenen Menschen steht? Nun, normalerweise bleiben sie direkt nach dem Betreten des Raumes stehen und werden ganz leise. Und was macht Herr Plietsch?

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Während ich der Frau den Blumenstrauß in die gefalteten Hände stecke, zieht er seinen Mantel aus, stellt seine Aktentasche auf das kleine Tischchen neben dem Sessel und fängt an auszupacken. Eine Sonntagszeitung, eine Thermoskanne mit Plastikbecher und eine Tafel Trauben-Nuß-Schokolade. Ich überlege noch, ob ich irgendetwas zu ihm sagen soll, da schiebt er den Sessel bis auf einen Meter an den Sarg heran, dann das Tischchen und setzt sich.
Er redet mit der Verstorbenen, so als ob er eine Kranke im Hospital besuchen würde, faltet die Zeitung auseinander, liest ihr das Neueste über Evelyn Hamann vor, trinkt einen Schluck dampfenden Tee und knickt sich einen Riegel Schokolade ab.

Mama, sagt er zu ihr und sieht so glücklich aus…
Ich lasse ihn alleine, das heißt… eigentlich ist er ja gerade gar nicht alleine.

Ich fahre nach oben, spiele mit den Kindern Monopoly und über die Tatsache, daß ich von den kleinen Rangen gnadenlos abgezockt werde, vergesse ich fast den kleinen Mann da unten in der Aufbahrungszelle. Als er mir wieder in den Sinn kommt, beeile ich mich, schnell nach unten zu kommen. Doch meine Eile war überflüssig, Herr Plietsch sitzt in dem bequemen Sessel, den er ganz noch näher an den Sarg geschoben hat und schläft. Ich betrachte die beiden, ihn und seine Mutter, sie sehen sich sehr ähnlich und beide sehen so zufrieden, friedlich und ruhig aus.

Es kann nicht schaden, ihm noch ein halbes Stündchen zu gönnen, dann werde ich ihn wecken müssen, denn ganz so warm ist es in den Aufbahrungszellen nicht, man kann dort aus verständlichen Gründen nicht einheizen.

Wie soll es weitergehen? Diese Frage stelle ich mir schon seit Tagen. Seine Mutter hat sich um seine Unterbringung gekümmert und offenbar mangelt es ihm auch nicht an finanziellem Rückhalt. Aber noch ist seine Mutter ja da, zumindest rein körperlich. Was aber wird sein, wenn wir sie bestattet haben?
Normalerweise geht das weit über die Tätigkeit eines Bestatters hinaus, aber ich weiß inzwischen, daß Herr Plietsch leidenschaftlich gerne Schach spielt und das immer nur gegen einen Computer getan hat, zumindest in den ganzen letzten Jahren, denn seine Mutter spielte nicht. Und ich kenne da einen pensionierten katholischen Pfarrer, der mich schon häufiger mal zu einer Partie genötigt hat.

Das ist nämlich so: Manchmal hat der für eine Beerdigung eigentlich zuständige Pfarrer keine Zeit oder keine Lust und dann kann ich diesen Pensionär immer anrufen und er hilft mir gerne aus der Patsche. Dafür erwartet er dann nicht die hierorts übliche Bezahlung, sondern daß ich ihn donnerstags abends besuche und ein, zwei Partien Schach mit ihm spiele.
Vielleicht kann ich Herrn Plietsch und den Herrn Pastor zusammenbringen, das wär‘ doch was. Ich telefoniere morgen mal!

Als ich Herrn Plietsch dann wecke, bedankt er sich ganz artig für die Mühe, packt seine Sachen ein und lässt 50 Euro für die Angestellten da. Er ist wirklich sehr höflich und außerordentlich nett.
Es macht Freude, solchen Leuten helfen zu dürfen. Ich meine, die meisten unserer Kunden sind ganz einfach normal, da gibt es nichts Außergewöhnliches zu berichten. Aber die Zahl der Arschlöcher nimmt doch zu, das muß man schon sagen. Und ausgerechnet den Arschlöchern kann man nicht sagen, daß man sie für Arschlöcher hält. Umso aufrichtiger sage ich es aber den netten Leuten, wie nett sie sind, das schadet niemandem.

Herr Plietsch fragt, ob er morgen nochmal wiederkommen kann und sagt selbst: „Zum allerletzten Mal.“
Vielleicht ist das ein Abnabelungsprozess im Gang, ich würde es mir wünschen.

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Ich habe zur besseren Orientierung noch einmal die wichtigsten Schlagwörter (Hashtags) dieses Artikels zusammengestellt:

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