Geschichten

Herr Westfal -III-

Herr Westfal ist unten in unserem Kühlraum 1. Es ist schlimmer als Manni, Sandy und ich erwartet hatten. Als Bestatter haben wir schon unzählige Leichen gesehen, darunter auch viele, die in keinem guten Zustand mehr waren.
Aber bei Herrn Westfal kann man überhaupt nicht von einer Leiche sprechen, wir sind nicht einmal sicher, ob wir alle Teile haben.

Was so ein ICE mit einem menschlichen Körper macht, das ist für einen Normalbürger unvorstellbar. Es ist auch unglaublich, was so ein Vorfall mit dem Lokführer macht.
Der ist erst 35 Jahre alt, hat im Gegensatz zu vielen Kollegen bisher nur Wildschaden gehabt und bekommt nun das Bild nicht mehr aus dem Kopf, wie Herr Westfal auf den Gleisen steht und ihn hocherhobenen Hauptes anschaut.
Natürlich hat man dem Lokführer psychologische Betreuung angedeihen lassen und auch ein Seelsorger aus seiner Heimatgemeinde kümmert sich um ihn. Trotzdem wird der Mann mit der Situation nicht fertig und hat sich spätabends in sein Auto gesetzt und ist die ganze Nacht durchgefahren, um beim hiesigen Friedhofsamt mehr in Erfahrung zu bringen.

Werbung

Schon am frühen Morgen ist er dort vorstellig geworden, aber ruppig wie eine lästige Fliege abgewiesen worden. Wenigstens hat man ihm gesagt, welcher Bestatter „die Säcke jetzt hat“.

Gegen 9 Uhr ist es, als ich von einer frühen Beerdigung ins Büro zurückkomme und den Mann, der in der Halle sitzt und wartet, zunächst für einen der zahlreichen Vertreter halte, die sich die Woche über so ihr Stelldichein geben.

Doch Sandy belehrt mich eines Besseren: „Du Chef, das ist der Lokführer von dem Westfal, Du weißt schon.“

Ich bin baff, damit hatte ich nicht gerechnet. Wir kennen doch meistens nur die eine Seite der Geschichte und das ist oft genug eine stumme und kalte Seite, die uns nicht mehr viel erzählen kann.
Wenn mich einer auf meinen Beruf anspricht und wieder so einen Spruch losläßt wie: „Das könnt‘ ich nie machen“, dann sage ich oft, daß wir doch den leichteren Part übernehmen. Bei uns ist der Mensch schon tot, wir kannten ihn meistens nicht, wissen nicht wie er zu Lebzeiten aussah, sich bewegte, wie er sprach. Alles das wissen wir nicht und wir haben auch sein Sterben, seinen Tod nicht miterleben müssen; und das halte ich für den weitaus schwierigeren Teil bei der ganzen Sache und genau deshalb würde ich nicht gerne im medizinischen oder pflegerischen Bereich arbeiten wollen.

Was mache ich mit dem Lokführer?
Was will der Mann von mir?

Hashtags:

Ich habe zur besseren Orientierung noch einmal die wichtigsten Schlagwörter (Hashtags) dieses Artikels zusammengestellt:

Keine Schlagwörter vorhanden

Lesezeit ca.: 3 Minuten | Tippfehler melden | Revision:


Hilfeaufruf vom Bestatterweblog

Das Bestatterweblog leistet wertvolle Arbeit und bietet gute Unterhaltung. Heute bitte ich um Deine Hilfe. Die Kosten für das Blog betragen 2025 voraussichtlich 21.840 €. Das Blog ist frei von Google- oder Amazon-Werbung. Bitte beschenke mich doch mit einer Spende, damit das Bestatterweblog auch weiterhin kosten- und werbefrei bleiben kann. Vielen Dank!




Lesen Sie doch auch:


(©si)