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Geschichten

Hummel und Rühmann

Orgel

„Ich sage Ihnen, wenn die wieder auf den Schweller tritt, bring‘ ich sie um!“

Diese Worte spricht ein Mann Gottes, ein Pfarrer und dazu noch ein evangelischer. Er meint damit die Organistin Frau Hummel, die immer mal wieder auf den Friedhöfen des Umlandes zum Einsatz kommt, um die Trauerfeiern musikalisch zu umrahmen.

Nun ist die Hummel eine äußerst liebenswerte Person, die schon seit Ewigkeiten in diesem Geschäft tätig ist und es so hinzustellen vermag, als habe sie aus lauter Liebe zur Friedhofsmusik eine große internationale Karriere als Konzertpianistin sausen lassen. Das stellt sie auch bei jeder Trauerfeier vehement dadurch unter Beweis, indem sie am Ende der gewünschten Stücke immer noch in einige tastenreiche Variationen und virtuose Kapriolen verfällt, bevor sie das Stück endlich ausklingen lässt.

Daran hat man sich, seitens der Pfarrerschaft und der Friedhofsleute, mehr oder weniger achselzuckend gewöhnt, sie lässt sich ja sowieso nicht davon abbringen, auch wenn diese virtuosen Anhängsel immer irgendwie nach „Hoch auf dem gelben Wagen“ klingen, sie ist eben eine Künstlerin.

Der evangelische Pfarrer aber, von dem hier die Rede ist, spielt selbst Orgel, gibt hin und wieder gutbesuchte Konzerte und versteht etwas von der Sache. Ihm ist vor einigen Jahren aufgefallen, daß Frau Hummel immer sehr stark mit dem Schweller arbeitet. Der Schweller besteht in der Regel aus einer gaspedalartigen Einrichtung, mit der man den Ton des Instrumentes in der Lautstärke auf- und abschwellen lassen kann.
Frau Hummel hat es sich nun aber zur Gewohnheit gemacht, dieses Pedal unentwegt zu betätigen, sodaß die Lieder von einem dauernden Wow-wow-wow-Effekt begleitet sind. Mir ist das auch schon aufgefallen, aber ich hatte das immer auf die eher altersschwachen Instrumente auf den Friedhöfen zurückgeführt. Entweder steht dort ein uraltes Harmonium oder im günstigsten Falle irgendwas Elektrisches. Nur auf dem Hauptfriedhof gibt es eine Orgel mit richtigen Pfeifen und es heißt, man habe unlängst erst eine tote Taube aus einer der Pfeifen entfernt. Allenthalben ist zu hören, die Instrumente seien überaltert, schlecht gepflegt und teilweise sogar in einem ramponierten Zustand. Da ist ein auf- und abschwellendes Musikerlebnis eigentlich nichts Ungewöhnliches.

Orgel

„Nein, das liegt nicht an der Orgel, das liegt an der Hummel“, schimpft Pfarrer Rühmann und sagt: „Die hat ihren Fuß nicht unter Kontrolle. Wenn ich das höre, wie die mit dem Schweller arbeitet, da wird’s mir hundsübel und ich könnte aus der Haut fahren.“

Seitdem Pfarrer Rühmann mir das gesagt hat, fällt auch mir auf, daß er Recht hat und Frau Hummel wirklich ständig mit der Lautstärke der Orgel herumwackelt. Allerdings baut sich in mir nicht so ein Groll auf, wenn ich das höre, wie in Pfarrer Rühmann.

„Sie reden mit der oder ich mache die Trauerfeier nicht. Sie können auch einen anderen Organisten holen, mir ist es egal.“

Pfarrer Rühmann ist auch ein ganz Netter, das kann man nicht anders sagen. Aber ihn und Frau Hummel verbindet eine gemeinsam tiefe gegenseitige Ablehnung, die ihre Wurzeln in einem Vorfall hat, der schon Generationen zurückliegt. Da hatte er die Organistin gebeten, nicht immer eine Thermoskanne mit Kamillentee und eine Butterbrotdose auf die Orgel zu stellen. Schließlich befinde sich die Orgel oft im Blickfeld der Trauergäste und das mache keinen guten Eindruck.

Daran wiederum hatte sich Hummelin gestört und war bei einer Traueransprache des Pfarrer Rühmann aus der Trauerhalle gegangen, um ihre Stulle und eine Tasse Kamillentee draußen im Gang zu verzehren. Nun wäre ja die Hummelin rechtzeitig wieder da gewesen, denn sie kannte die Traueransprachen des Pfarrers in- und auswendig und wartete auf die stets verwendeten Schlußworte „in Ewigkeit, Amen“. Daß sie aber darauf wartete, wußte Pfarrer Rühmann nicht, traute sich wegen der fehlenden Organistin, nicht zum Ende zu kommen und redete und redete. Er hatte wohl das ganze alte Testament vorwärts- und rückwärts durchgepredigt, da wurde es der Organistin zu bunt, die Brote waren auch gegessen, und sie kehrte an die Orgel zurück, woraufhin Pfarrer Rühmann ziemlich atemlos sein „in Ewigkeit Amen“ folgen ließ und die Hummelin, schwellerverliebt, wieder in die Tasten griff.

Seit diesem denkwürdigen Vorfall, der als längste Traueransprache in die Annalen eingegangen ist, haben die beiden eine viel gepflegte Abneigung gegeneinander. Jeder gibt dem anderen die Schuld und beide sind schon so alt und halsstarrig, daß mit einer Einigung im diesseitigen Leben nicht mehr zu rechnen ist.

Wenn so etwas nicht mehr passieren solle, verlangte die Hummelin von Pfarrer Rühmann, dann solle er ihr vorher eben genau sagen, wie lang seine Ansprache dauert. „Fünfzehn Minuten, die dauern immer genau fünfzehn Minuten“, hatte Rühmann gepoltert und sich damit ein Eigentor erster Güte geschossen.

Beim nächsten gemeinsamen Auftritt vor versammelten Trauernden war der Pfarrer mit seiner Ansprache längst noch nicht fertig, es waren aber exakt fünfzehn Minuten vergangen, da ließ die Hummelin die Orgel ertönen, daß die Wände wackelten. Dem Pfarrer blieb nichts anderes übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen.
Bei seiner nächsten Ansprache einige Tage später versuchte er so exakt wie möglich die fünfzehn Minuten einzuhalten, endete aber doch schon nach vierzehn Minuten und dreißig Sekunden. Stille, absolute Stille. Mit verschränkten Armen saß Frau Hummel an der Orgel, die Augen fest auf den Sekundenzeiger der großen Wanduhr geheftet und erst nachdem wirklich noch dreißig Sekunden vergangen und damit die fünfzehn Minuten voll waren, griff sie endlich in die Tasten.

Man sieht, die beiden haben ein besonderes Verhältnis zueinander…

Nun soll es also an mir sein, der gutherzigen und braven Frau, die Tag für Tag treu unsere Toten unter die Erde orgelt, zu sagen, sie möge ihren Fuß vom Schweller lassen. Eine undankbare Aufgabe, aber ich will es wenigstens versuchen. Auf diesem Friedhof steht die Orgel auf einer Empore und ist von unten nicht einsehbar. Also steige ich zu Frau Hummel hinauf und versuche mein Glück. Doch die Hummelin läßt mich gar nicht zu Wort kommen, so sehr freut sie sich, mich zu sehen und erzählt mir leise so allerhand, sodaß ich gar nicht dazu komme, das Schwellerproblem anzusprechen bis sie dann anfangen muß.

Ich bleibe bei ihr stehen und sehe ihr zu. Tatsächlich! Unablässig betätigt sie den Schweller, Pfarrer Rühmann hat absolut Recht. Das erste Stück ist vorbei, der große fünfzehnminütige Auftritt des Pfarrers folgt, mittlerweile exakt von beiden mitgestoppt.
Die Hummelin nimmt ihre Uhr, setzt sich neben der Orgel auf einen Stuhl und beginnt umständlich ein Ei zu pellen.
Erst will ich mich intern darüber amüsieren, doch dann fällt mir auf, daß sie auch das mit ziemlich wackeligen Fingern tut und während ich sie so betrachte, sehe ich, daß beide Füße in einem schnellen Takt zittern.

Zunächst schenke ich der Sache keine weitere Beachtung, die Trauerfeier nimmt ihren normalen Gang. Später jedoch stehe ich mit dem Pfarrer vor der Halle und wir verabschieden gemeinsam die Trauergäste, da sehen wir, wie Frau Hummel mit ihren Noten unterm Arm zu ihrem kleinen Ford Fiesta läuft, einsteigt, das Auto startet und mit einem ständigen Auf- und Abheulen des Motors ruckelnd davonfährt.

Rühmann schaut ihr kopfschüttelnd nach und ich äußere vorsichtig den Verdacht, Frau Hummel könne eventuell ein Nervenleiden oder gar Parkinson haben, was zu diesem Wackeln des Fußes führt.
Pfarrer Rühmann läßt sich zwar nichts anmerken, sagt auch nichts dazu, aber ich sehe ihm an, daß er darüber nachdenkt.

Vielleicht kommt die Sache ja doch noch ins Lot. Mal sehen.

© 2008

BILDQUELLEN

Geschichten

Die Geschichten von Peter Wilhelm sind Erzählungen und Kurzgeschichten aus dem Berufsleben eines Bestatters und den Erlebnissen eines Ehemannes und Vaters.

Die Geschichten haben meist einen wahren Kern, viele sind erzählerisch aufbereitete Tatsachenerzählungen.

Die Namen, Geschlechter und Berufe der erwähnten Personen sind stets verändert.

Lesezeit ca.: 9 Minuten | Tippfehler melden | © Revision: 5. Februar 2021 | Peter Wilhelm 5. Februar 2021

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unterholzbewohner
16 Jahre zuvor

„In die Analen“ – tststs, was ein Schweinkram 😉
Es muss wohl Annalen heißen, von Anno, das Jahr, oder so ähnlich…..

dunni
16 Jahre zuvor

Aus eigener Erfahrung, weil selbst Orgelspieler: Den Schweller zu betätigen benötigt einiges an Kraft, zumindest bei den üblichen Orgeln, weil damit große Klappen betätigt werden, die entweder auf- oder zugefahren werden können, und damit dann die Lautstärke entweder dämpfen oder halt nicht.
Man kann also schon davon ausgehen, dass da die Absicht besteht dies zu tun, selbst mit Parkinson oder einem sonstigen krankheitsbedingten Zitten in den Beinen (außer dieses An- und Abschwellen ist nicht sehr stark, denn ein bisschen Spiel haben diese Klappen ja auch, und in dem Spielraum gehts recht einfach die Klappen zu bewegen). Dass diese geringe Bewegung dann ausreicht um einen hörbaren Effekt zu erzeugen wage ich mal zu bezweifeln.

Wasabi
16 Jahre zuvor

„Unter die Erde orgeln“ – einfach klasse! 🙂

(Wobei da der Begriff Stalinorgel irgendwo in interessantem Licht erscheint…)

Kirsche
16 Jahre zuvor

Ich finde es einfach sc**** diese Fehde auf kosten der Trauernden auszutragen….zeit stoppen und 30 sec. nix machen, wie Kindisch

Sabine
16 Jahre zuvor

@Kirsche: Du glaubst ja wohl kaum, dass die Leute da irgendwas von merken. Das Ganze wird doch erst durch die Dauer der Fehde komisch, im Einzelfall bekommt da sicher kaum jemand was mit. Die denken doch, das müsste so sein.

Organist
16 Jahre zuvor

@Dunni: Bei mechanischen Orgeln ist das so. Aber solche findest du auf Friedhöfen eher selten. Der Schweller an den Orgeln auf denen ich spielen muss ist immer sowas von labberig und weich.

Anubis
16 Jahre zuvor

Einfach den Schweller an die rechte Seite der Orgel schrauben (da wo er auch hingehört) dann klappts bestimmt besser ;-).

Wünsch allen ein gesundes und geschäftsreiches Jahr 2008

Mirella
16 Jahre zuvor

Ich habe mich – wie immer beim Lesen Deiner Geschichten – köstlich amüsiert.

Allerdings, ich habe noch nie eine Orgel gesehen, wo der Schweller links war. Alle Orgeln, die ich bisher gesehen und – im Rahmen meiner eher bescheidenen musikalischen Fähigkeiten – gespielt habe, hatten den Schweller rechts, unabhängig davon, ob Pfeifen- oder Digitalorgel.

Torky
16 Jahre zuvor

Würd passen, das Gaspedal für den heulenden Motor ist ja auch rechts 🙂

Und zu der guten Frau .. eventuell hat sie auch nur „Hummeln im Hintern“ .. wo wir grade bei Analen waren (höhöhö)

Matthias
16 Jahre zuvor

Kann sie nicht den Fuß einfach vom Schweller nehmen?

Mirella
16 Jahre zuvor

Doch, könnte sie. Normalerweise braucht man beim Orgelspielen sowieso beide Füsse für das Pedalspiel. Der Schweller (also das Gaspedal…) wird nur dann betätigt, wenn während dem Spielen die Lautstärke bewusst verändert werden soll.

16 Jahre zuvor

Der undertaker ist im realen Leben bestimmt Eheberater oder bei der Polizei verantwortlich für das Verhandeln mit Geiselnehmern…

Achja, kleine Orgeln nennt man Positiv, ein Harmonium negativ. 😀

tone
16 Jahre zuvor

Parkinson IST ein Nervenleiden. Gibt es eigentlich auch elektrische Schweller (vergleichbar dem Gaspedal: die Einstellung des Pedals regelt über irgendwelche Motoren die Klappenstellung)? Dann könnte ich mir nämlich schon vorstellen, dass dies krankheitsbedingt die Lautstärke modulieren kann. Wobei meine Orgelerfahrungen mehr als ein Jahrzehnt zurückliegen…

Aber mal wieder eine tolle Geschichte mit unglaublich plastischen Charakteren!

Elvira
16 Jahre zuvor

Das Parkinson-Zittern kann man genau dadurch in den Griff bekommen, dass man fest zupackt, bzw. wie hier dann also fest zutritt. Ich denke, sie macht das, um eben beim Orgeln nicht zu zittern.

anita
16 Jahre zuvor

Krankheit ist keine Entschuldigung fuer Unfaehigkeit! Und die Rolle dieser Dame in diesem Schmierentheater ist nicht gerade „nett“. Sie laesst es an den Trauernden aus, definitiv. Gibt es keine anderen Organisten in dieser grossen, weiten Welt?

Glammy
16 Jahre zuvor

Kann man so einen Schweller nicht „abstellen“, so daß sie zwar drauftreten kann, aber effektiv eben nix passiert???

Volker Schepker
16 Jahre zuvor

Also, wenn ich auf einer Trauerfeier wäre und die Organistin würde mitten in die Predigt des Pfarrers anfangen zu spielen, weil sie ihre kleine Privatrede auf Kosten der Trauernden ausführt, ich würd glaub ich raufgehen und ihr ein paar Takte dazu sagen.
Für die Menschen, die in diesen Gottesdienst gehen ist es die Möglichkeit, Abschied zu nehmen, diesen Moment wird man immer in Erinnerung behalten und das sollte man nicht durch solche Kindereien versauen!

Volker Schepker
16 Jahre zuvor

Die Privatrede sollte wohl besser Privatfehde heißen 😉

undertaker
16 Jahre zuvor

Ich kann Euch beruhigen, die Angehörigen haben gar nichts davon gemerkt. Die etwas längere Pause hielten sie für eine Schweigeminute und daß der Pfarrer in dem anderen Fall überhaupt noch etwas sagen wollte, wußte ja keiner.

Viel schlimmer finde ich, wenn die kommunalen Sargträger noch während der laufenden Trauerfeier hereinkommen und einfach den Sarg rausschieben.

Mirella
16 Jahre zuvor

Stimmt! Sargraustragen während der laufenden Trauerfeier ist für die Trauernden sicher wesentlich rücksichtsloser als wenn die Organistin ein paar Sekündchen zu früh mit lautem Gedonner in die Tasten (…und Pedale 🙂 ) greift.

powermax
16 Jahre zuvor

Schraube rein – ausgeschwollen!

Ob mit Parkinson oder ohne. 😉

gb
16 Jahre zuvor

und selbst wenn es keine Krankheit ist – solange ‚der Alte‘ drueber nachdenkt, und alles wieder gut wird… wayne stoert’s?

hc
12 Jahre zuvor

ach… ich hätt ihr einfach einen Ziegelstein oder was halt darunter passt, ohne dass was kaputt geht, unter das Pedal geschoben, und gut ists.

Georg
3 Jahre zuvor

Johannes 8.7

Thomas
3 Jahre zuvor

Mal wieder eine tolle Geschichte. Dafür herzlichen Dank.




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