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Ich springe!

Was soll ich denn da machen? Frau Bartscherer ist verstorben, was insofern nichts Ungewöhnliches ist, als daß sie alt war und Krebs hatte. Die beiden Fahrer waren kurz vor mir eingetroffen und schon dabei, die Frau für den Abtransport aus der Wohnung vorzubereiten. Ich war hinterhergefahren, um gleich die Beratung zu machen und kam gerade recht, als das Drama seinen Anfang nahm.

Wenn unsere Herren die Verstorbenen auf die Trage umgebettet haben, fragen sie -je nach Lage der Dinge- ob die Angehörigen noch kurz Abschied nehmen möchten, manche gucken dann noch mal, anderen beten, wieder andere -die meisten- wollen gar nicht.

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Die Männer sagen also zu Herrn Bartscherer, einem Rentner von etwa 70 Jahren, daß sie soweit seien und fragen, ob er noch einmal zu seiner Frau wolle. Just in diesem Moment dreht der alte Mann durch, wirft sich über die Trage, schreit weinend immer wieder den Namen seiner Frau, es schüttelt ihn durch und durch. Nach ein paar Minuten heben unsere Männer den Mann beiseite und wollen ihn wegführen, da reißt er sich los, springt zum Fenster, reißt es auf und will hinausspringen.

Gerade eben gelingt es einem meiner Angestellten, den Mann zu halten.
„Lassen Sie mich, ich will hier nicht alleine bleiben!“

Ich versuche, beruhigend auf den Mann einzureden. Ich sage das, was man in solchen Fällen so sagt und insgeheim denke ich, was man doch für einen Quatsch redet. Ob mir sowas helfen würde?
Mein Angestellter hält ihn immer noch von hinten mit beiden Armen umklammert, da sehen wir, wie er sich entspannt, vielleicht haben meine Worte doch gewirkt. Gerade lässt mein Mitarbeiter Herrn Bartscherer los, da will er wieder aus dem Fenster springen.

Was soll man machen?
Ich habe es schon oft mit verzweifelten Menschen zu tun gehabt und die Situation, daß jemand einen lieben Menschen nicht gehen lassen wollte, ist mir auch nicht neu. Aber die geweiteten Pupillen des Mannes, sein stoßweiser Atem und die Blässe seine Haut machten mich heute mehr als stutzig, ich befürchtete, daß er einen Schock erlitten haben könnte oder zumindest kurz davor stand.
Vorsichtshalber haben wir den Arzt angerufen, der den Totenschein ausgestellt hat. Der kam kaum 10 Minuten später und war selbst ziemlich aufgeregt. Die ganze Zeit haben meine Männer Herrn Bartscherer festhalten müssen und der hatte immer wieder gesagt, wir könnten machen was wir wollen, er würde heute noch seiner Frau folgen.

Der Arzt hat versucht, den Mann näher zu untersuchen, doch der begann zu treten und keuchend wirres Zeug zu reden.
Nach einigen Fehlversuchen sagte der Arzt dann, daß es besser wäre, wenn man Herrn Bartscherer wenigstens über Nacht zur Beobachtung in ein Krankenhaus brächte.

„Ich müßte ihm eine Spritze geben“, sagt der Arzt leise zu mir und ich nicke meinen Männern zu, die haben verstanden und halten den alten Mann richtig fest. Mit Mühe gelingt es dem Mediziner, Herrn Bartscherer eine Spritze zu setzen. Darf ein Arzt sowas? Gegen den Willen eines Patienten? Hm, keine Ahnung. Aber für Herrn Bartscherer scheint es das Beste zu sein, kaum zehn Minuten später sitzt er am Küchentisch und weint.

„Können wir die Verstorbene abtransportieren?“ frage ich den Arzt leise, der überlegt kurz und sagt zu mir: „Warten Sie noch ein paar Minuten, bis der Ehemann weggebracht wurde.“

Die Sanitäter kamen nicht mit der Zwangsjacke, aber ich hatte den Eindruck, daß die Herrn Bartscherer nicht in ein normales Krankenhaus gebracht haben, eher wohl in ein Kreiskrankenhaus.

Man darf sowas ja nicht, aber verbotenerweise habe ich das kleine ABC-Büchlein neben dem Telefon aufgeklappt und mir drei Telefonnummern aufgeschrieben. Ich hoffe, daß diese Einträge, die nur weibliche Vornamen enthielten, die Töchter des Mannes sind. Mit irgendwem muß ich ja morgen telefonieren können. Der Arzt meinte, das ginge schon in Ordnung, es sei ja sowas wie Gefahr im Verzug gewesen.

Naja, ein komisches Gefühl bleibt.

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Ich habe zur besseren Orientierung noch einmal die wichtigsten Schlagwörter (Hashtags) dieses Artikels zusammengestellt:

#springe!

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