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Italienische Treppen

Wenn man Bestatter ist, weiß man daß man auch schwer heben und tragen muß. Es ist ja nichts worunter ich jetzt permanent leide oder worüber ich unentwegt klage. An manchen Tagen geht es, da hat man eben nur die kleinen, alten, leichten Mütterchen auf der Trage, aber dann kommt man in ein Haus, da wartet ein 140 Kilo-Mann auf seine Abholung und außer zwei älteren Damen ist niemand da, der mit anpacken könnte.
Da wünschte ich mir dann, man hätte immer vier Leute zum Tragen, statt nur zwei.
Die meisten Bestatter fahren zu zweit, nur wenige -oft kommunale- Bestatter können sich eine vierköpfige Transportmannschaft leisten.

An einen Fall erinnere ich mich ganz besonders. Wann war der ganz heiße Sommer? 2003? Auf jeden Fall war es in dem Jahr, als wir diesen extrem heißen Sommer hatten. Der Anruf erreichte uns gegen 11 Uhr, der Arzt sei schon dagewesen und es würde Zeit, den Toten bitte schnell abzuholen, der sei nämlich schon in der Nacht zuvor verstorben und weil er so dick sei und wegen der Hitze… Es eile ziemlich und man wolle, daß der Verstorbene abgeholt sei, bevor die Kinder aus der Schule kommen, damit die das nicht mit ansehen müssten.

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Ich fuhr mit einem Bestattungshelfer zur angegeben Adresse im Innenstadtbereich. Parken mußten wir in der Fußgängerzone, das Haus hatte unten rechts eine Filiale eines an Zungentechnik erinnernden Drogeriemarktes und auf der linken Seite ein Schuhgeschäft, in dem die Verkäufer jeden duzen und in ihren gestreiften Trikots aussehen wie Streifenhörnchen. Etwas zurückversetzt zwischen den Eingangstüren zu diesen beiden Läden lag die Haustüre, die zum Rest des Hauses führte.
Hinter der Tür verbarg sich aber nur eine Einfahrt oder ein breiterer Flur, der in den Hinterhof führte. Irgendwann im Krieg mußte dort mal alles zerbombt gewesen sein, auf jeden Fall hatte man in das große Hinterhofareal wild durcheinander Haus an Haus gebaut. Ein Hinterhaus mit Werkstatt, ein Treppenhaus, das nur in einen Flur führt, der über das Hinterhaus hinweggeht und wieder in ein Treppenhaus mündet, von dem es in ein weiteres Hinterhaus geht. In dem gab es ein Treppenhaus das gleich in zwei Hinterhäuser abzweigte. So ist nur nach dem Krieg gebaut worden, als der Wohnraum knapp war und man jede Lücke und jeden übrigen Stein ausgenutzt hat, um irgendwie Häuser und Wohnungen zu bauen.
Heute wäre das alles schon feuerwehrtechnisch gar nicht erlaubt, alles viel zu verwinkelt, keine richtigen Zufahrten.

Jedenfalls mußten wir dreimal jemanden fragen, wo denn die besagte Familie, nennen wir sie Familie Laterno, es waren nämlich Italiener, überhaupt wohnte. Der Weg führte durch alle beschriebenen Treppenhäuser und es war ein ständiges Auf und Ab, ohne daß man -so war mein Eindruck- dem Ziel näher kam. Schließlich landete man in einem kleinen Innenhof, von dem eine steile, außenliegende Treppe in den ersten Stock eines Anbaus führte und eben da wohnten die Laternos.
„Meine Schwager stehte doch auf Straße unte wartet auffe euch! Warum hat euch Luigi nichte den Weck gezeicht?“ empfing uns ein kleiner, quirliger Mann.

Keine Ahnung, da standen einige Leute, das ist eine Fußgängerzone und wenn da ein Luigi war, warum hat er nicht uns angesprochen, so viele dunkel gekleidete Männer mit einer Leichentrage werden da wohl kaum tagtäglich ein uns aus gehen.

Große Aufregung entstand und während wir noch mit unserer Trage da standen, machte sich eine Abordnung der Familie zunächst einmal auf die Suche nach Luigi. Der war nämlich wegen des Todesfalles die ganze Nacht, aus Italien kommend, durchgefahren, total übermüdet und sprach kein einziges Wort Deutsch.

Der Quirlige lotste uns unterdessen durch die Wohnung. Diese Wohnung hatte es aber in sich. Alle Räume waren schlauchartig hintereinander angeordnet und man mußte durch jeden Raum der Wohnung, um in das ganz hinten liegende Schlafzimmer zu gelangen, in dem sich der Verstorbene befand.

„Vorsichte, ganze Vorsichte, in die Zimmer hier schläfte Mama Maria, die darfe man nicht wach mache!“
„Hier bitte ganze um die Eck gehe, da stehte neue Televisione, nix kaputt mache!“
„Achtung mitti Kopfe, da iste die Tür ganze nieder!“
„Passe auffe, passe auffe, hier kommte Küche, alles meine Familia!“

Mama Maria haben wir gar nicht gesehen, irgendwo in dem dicken Bettzeug des einen Zimmers muß sie verborgen gewesen sein. Am Fernseher waren wir vorsichtige und mußten überhaupt in jedem Zimmer Slalom laufen, immer das quirlige Männlein vorneweg. Die Küche war voll mit schwatzenden Frauen, das angrenzende Wohnzimmer angefüllt mit italienischen Männern jeden Alters und dann endlich waren wir in dem Schlafzimmer, in dem Paolo verstorben war. Die Familie hatte ihn offenbar gewaschen und in seine schönste Kleidung eingekleidet. „Nein, ist nichte irgendeine Anzug. Die haben wir alles neu gekaufte heute Morgen! Alles beste Qualität, fühlen Sie, fühlen Sie!“ fordert uns der Quirlige auf, klappt die weiße Decke hoch und zeigt auf die Schuhe: „Sehe, ganze neu, Sohle blitzeblank!“

Der Raum ist nicht besonders groß und oft bitten wir die Angehörigen, kurz draußen zu warten, bis wir den Verstorbenen auf die Trage gebettet haben. Aber das können wir uns aus zweierlei Gründen abschminken. Erstens ist der Mann wirklich ziemlich dick und wir hätten sowieso keine Chance, ihn auf irgendeine würdige Weise auf die Trage zu bekommen und andererseits bricht genau in diesem Moment die große römische Völkerwanderung aus und alle Familienmitglieder versammeln sich im Schlafzimmer. Inzwischen ist auch Raumpatrouille Luigi gelandet, alle vierzehn Mitglieder der Suchmannschaft inklusive Luigi. Der war schlafend in einem Café auf der anderen Straßenseite gefunden worden, hat immer noch ganz rote Augen, redet aber unentwegt auf Italienisch auf uns ein. Er will uns jetzt offenbar noch nachträglich den Weg durch die Hinterhöfe erklären.

Es ist brütend heiß, der Raum ist angefüllt mit vielleicht zwei Dutzend, oder gar drei Dutzend Italienern und Italienerinnen und alle palavern durcheinander. Jeder hat eine eigene Idee, wie man den verstorbenen Paolo jetzt am Besten transportiert. Ich kann ein kleines bißchen Italienisch, es reicht aber für diesen rasant vorgetragenen Dialekt nicht aus. Was ich jedoch mitbekomme ist, daß man Paolo auf unserer Trage festbinden und dann an Seilen aus dem Fenster lassen will.

Jetzt ist es aber eine alte Bestatterregel, daß wenn man irgendwo mit einer Trage reinkommt, man auch mit der beladenen Trage wieder rauskommt. Das sieht auch der Quirlige ein, aber er erklärt uns, daß man dann ja mit der Trage durch alle Höfe und Hinterhäuser müsse und wenn man das Fenster der Küche nähme, um den Toten da abzuseilen, dann könnten wir mit unserem Bestattungswagen in die Nebenstraße fahren und der Tote landet quasi direkt am Auto.
Aber auch diese Nebenstraße ist Fußgängerzone und so wie ich das vom Küchenfenster aus sehe, schwebte Paolo dann direkt neben einem McDonalds-Laden auf den Gehweg… Ich stelle mir vor, wie das sein muß. Man sitzt da, um sich eine Käsewanze zwischen die Zähne zu schieben und während man auf der geschwefelten Bittergurke herumkaut, senkt sich vor dem Fenster eine Trage mit Paolo ab…

Inzwischen läuft mir der Schweiß hinten am Rücken herunter bis in die Poritze. Paolo tut die Hitze auch nicht gut, er müffelt so leicht vor sich hin, wofür er ja nichts kann, was uns aber zu einer gewissen Eile antreibt. Das sage ich dem Quirligen auch und der ruft: „Tempo, Tempo!“ und klatscht in die Hände.
Das Abseilen lehne ich aus verständlichen Gründen ab und so beginnt abermals ein großes Palaver. Man streitet sich, man schreit sich an, hochrote Köpfe, alle schwitzen wie verrückt, die Hände fliegen durch die Luft, man stampft mit den Füssen und der Quirlige beruhigt uns: „Neine, nixe Streit, die unterhalte siche ganze normale. Die Brüder mache jetzt das Tragen.“

Jetzt stelle man sich das vor: Der Raum ist klein, mitten drin steht das Bett mit Paolo, die einzige Tür ist mit einem Pfropfen kleiner dunkehaariger Menschen verstopft, die auserkorenen Brüder stehen im Nebenraum und kein Mensch kann sich vor- oder zurückbewegen. Ob es Osmose oder eine Verschiebung im Raum-Zeitkontinuum ist, ich weiß es nicht, jedenfalls diffundieren die Brüder aus dem Nebenraum durch den palavernden Pfropfen hindurch und schieben sich dann an uns vorbei, um Paolo auf die Trage zu legen. Immerhin sechs Brüder hat Paolo, wenn nicht noch ein paar irgendwo unten auf der Straße stehen und auf uns Bestatter warten…
Die Luft ist zum Schneiden, um uns herum schwitzt, schnattert und gestikuliert alles. Mein Anzug ist durchweicht, auch im Schritt und in den Schuhen schwimme ich förmlich.

Wir kommen gar nicht dazu, mit anfassen zu können, unsere Rolle beschränkt sich lediglich darauf, die Gurte der Trage zu öffnen und den Brüdern zu zeigen, wie man Paolo richtig festschnallt. Ich sag’s nochmal: Keiner der Familienangehörigen macht auch nur die geringsten Anstalten das Zimmer zu verlassen oder von der Tür wegzugehen. Und dennoch schaffen es die Brüder mit Paolo auf der Trage durch den Menschenstau am Zimmereingang hindurch zu kommen!
Aus irgendeinem Grund haben sich die Sechs dazu entschieden, die Trage hochgestemmt zu transportieren. Hoch über ihren Köpfen, also bei mir etwa in Schulterhöhe, heben sie die Trage durch die ganzen Zimmer. Mama Maria ist aufgewacht, etwa zwanzig Frauen kümmern sich um sie und ich frage den Quirligen, ob das die Witwe sei. Nein, Mama Maria ist überhaupt nicht mit denen verwandt, die stammt nur aus dem gleichen Dorf wie Luigi und weil Mama Maria schon mal in den Fünfzigerjahren mit der Eisenbahn in Deutschland war, hat Luigi sie mitgebracht, damit sie ihm wenigstens grob den Weg erklären konnte…

„Aber so ganze genau weisse man das nicht. In die Dorfe wo Paolo und Luigi geboren, da sinte sowiesso alle miteinander verwandte, isse grosse Famila. Vielleicht iste Maria doche Verwandte“, erklärt der Quirlige und fügt etwas leiser hinzu: „Die Nase, die Nase könnte passe, kann gut doch verwandt sein.“

Irgendwo in der Mitte einer Prozession aus ich weiß nicht wieviel Italienern befinden wir uns und werden mehr geschoben, als wir selbst gehen und es geht treppauf, treppab, über einen Hof, durch noch ein Hinterhaus und irgendwann quälend lange 15 Minuten später sind wir endlich auf der Straße.

Normalerweise geht die Abholung und Überführung eines Verstorbenen sehr diskret und zügig über die Bühne. Die meisten Familien wollen gar kein Aufsehen.
In diesem Fall ist das gar nicht möglich. Die Abdeckung der Trage wird noch auf der Straße oben geöffnet, viele wollen Paolo noch einmal küssen, ihn streicheln und es kostet uns einige Mühe, die sechs Brüder dazu zu bewegen, uns beim Einladen in den Wagen zu helfen.
Als wir die Klappe schließen geht das Wehklagen los. Mama Maria bricht quasi unter Tränen zusammen, manche Frauen zerren an ihren Kleidern, alle weinen und jammern… Es wird Zeit, daß wir losfahren.

Der Quirlige drückt mir 50 Euro in die Hand: „Wir komme jetzte alle mitti Automobile zu Ihne, dann machen wir Abschied von Paolo. Wann könne wir komme?“

Ich versuche ihn dazu zu bewegen, zunächst mal mit einer kleineren Auswahl der im Angebot befindlichen Angehörigen bei uns zu erscheinen, damit wir einen Sarg aussuchen und den Verstorbenen einbetten können. Am späteren Nachmittag könnte dann der Rest der Familie kommen.

„Isse gut, Sie sinte der Cheffe! Ich komme soforte mit ganze kleine Familie. Isse okay, verstehe ich, verstehe ich gut.“

Wir fahren ab.

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#italienische #treppen

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(©si)