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Kleiner König Kalle Wirsch

orgel

Es ist Mittwoch, es ist Nachmittag und es ist Winter. Nachbar Nasweis-Lästig, der pensionierte Oberstudienrat von hintenraus, sitzt mit einem Anorak und dicken Fellstiefeln auf einem Stühlchen auf dem Flachdach auf dem Anbau rechts. In diesem Anbau befinden sich sechs, zur Nebenstraße gewandte, Garagen, die Nasweis-Lästig für 65 Euro im Monat an andere Bewohner der Straße vermietet hat.
Von seinem Haus geht eine Tür auf das Dach der Garagen und irgendwann, eines Tages, vielleicht zur Feier der Wiederkehr des Tausendjährigen Reiches, will sich Nasweis-Lästig da eine Terrasse draufbauen lassen.

Ich schreibe Anorak, ein Wort das inzwischen zwar fürchterlich aus der Mode gekommen ist, wie auch das Kleidungsstück, das diesen Namen trägt. Irgendwann in den späten 70ern wurde der Anorak vom Parka abgelöst, dann kam der Friesennerz in Gelb und seitdem ist der Anorak irgendwie verschwunden.
Okay, wozu sollte man einer Generation von Baseballkappenträgern auch eine Kapuze aufsetzen wollen?

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Aber das was Nasweis-Lästig da trägt, ist tatsächlich ein Anorak und zwar ein echter, von einer alten Eskimofrau aus der Haut eines Seeochsen gegerbt, außen ledrig, innen fellig, steif wie altes Lederfell nun mal so ist und an der Kapuze mit dem Fell vom Schambereich des Narwals puschelig verziert.
Diese Anorak hat eine Geschichte und wer Nasweis-Lästig kennt, der kennt auch die Geschichte dieses Anoraks.

Nach Beendigung seines Studiums ist Nasweis-Lästig nämlich mit zwei anderen jungen Männern aus der Burschenschaft Amicitia Exorbitantia auf Weltreise gegangen. Ihr Weg hatte die Globetrotter auch in nördliche Gefilde jenseits der Beringstraße geführt und wer sich auskennt, der weiß, daß da auf der anderen Straßenseite die Eskimos in Iglus wohnen.
Nach Tagen der Wanderung durch das ewige Eis waren die jungen Männer halb erfroren in einem Dorf, das mehr eine Ansammlung weniger Iglu-Hütten war, angekommen und dort zunächst eher feindselig begrüßt worden.
Nur ein paar ranzige Schwarten vom toten Wal hatte man ihnen hingeworfen und eine alte, rostige Büchse voller heißem Aalblut zum Aufwärmen gegeben.
So ist das einige Tage gegangen und das Verhältnis zu den Eingeborenen besserte sich erst, als Nasweis-Lästig die Lieblingsrobbe der Tochter des Eskimochefs vor dem Ertrinken rettete.
Aus Dankbarkeit wollte die ganze Dorfgemeinschaft ihre Nasen an der selbigen von Nasweis-Lästig reiben. Dieser dachte, man tue dies, um die Nase aufzuwärmen und wußte nicht, daß das Nasereiben in etwa unserem Kuß gleich kommt.
Bei einer zottelig verpackten, nach Fisch riechenden, Alten muß er wohl ein wenig zu lang gerieben haben, den just als er des Reibens müde war, warf der Eskimochef einen abgeschnittenen Walrosspenis in die Runde und es erhob sich ein allgemeines Uuuuh und Oooooh, was auf Deutsch in etwa soviel bedeutet, wie Uuuuuh und Oooooh.
Ganz genau bedeutete es: Du hast Dir durch das lange Nasereiben, dieses alte, zahnlose Weib, das wegen seiner Plattfüße immer auf den Eisschollen festfriert zur Frau genommen. Nun nimm das großzügige Geschenk des Eskimochefs und gehe in das Iglu, um die Ehe zu vollziehen.

Die beiden Begleiter, ich erwähnte ja, daß die zu Dritt waren, bekamen jeder einen dieser handgemachten Anoraks.
Nun war Nasweis-Lästig der Einzige, der halbwegs die Eskimo-Sprache gutturalisieren konnte und machte dem Eskimo-Hauptmann klar, nicht ihm, sondern seinem Freund Dietmar zu Henningsdorf stünde die Ehre zu, denn der habe die ertrinkende Robbe zuerst entdeckt.

So kommt es, daß Nasweis-Lästig heute in einem Anorak auf seinem Flachdach sitzen kann, während man von Dietmar zu Henningsdorf nie wieder etwas gehört hat und dieser Zweig des niederen holsteinischen Adels gemeinhin als ausgestorben gilt.

Doch warum sitzt der alte Oberstudiensack eigentlich da auf seinem Flachdach?
Er wartet.
Genauergesagt wartet er auf eine Weinpresse. Die hat er sich bei einer Winzergenossenschaft gebraucht im Internet ersteigert und will damit selbst Champagner machen. Nach dem Einmarsch in Frankreich habe er damals vor den Toren von Paris einen solch herrlichen Champagner getrunken, so etwas gäbe es nirgendwo und weil ihm bisweilen dieser Geschmack aus Sehnsucht auf der Zunge hochperlt, auch nach über 60 Jahren noch, will er sich heuer einen solchen Schaumwein selbst herstellen.

Nun haben ihm die Leute von der Spedition eine Postkarte geschickt, auf der der Tag der Lieferung angegeben ist. Außerdem ist dort angekreuzt, daß man an diesem Tag vormittags kommen will.
Jetzt ist es aber schon 13 Uhr und Nasweis-Lästig wird ungeduldig. Deshalb sitzt er bei Minusgraden auf dem Flachdach und beobachtet von dieser strategisch guten Position aus mit einem Feldstecher die Graf-von-Rosa-Luxemburg-Straße, durch die der LKW unbedingt kommen muß.

Irgendwann kommt der auch, es ist wohl gegen 15 Uhr und Nasweis-Lästig hüpft in seinem fischotterigen Kapuzenmäntelchen auf dem Dach seiner Garagen herum und schimpft die beiden Speditionsfahrer auf das Heftigste aus. Es gibt kaum ein Schimpfwort, das er nicht für die beiden übrig hat und seine Tirade endet mit den Worten: „…vormittags, ist das jetzt etwa Vormittag?“

Der dickere der beiden Fahrer kratzt sich ganz weit hinten unten an seiner Latzhose, guckt noch einmal auf seinen Lieferschein und sagt zu seinem Kollegen: „Guck mal, da oben, da isser, der kleine König Kalle Wirsch.“

„Ich gebe Ihnen gleich ‚König kalter Hirsch‘, Sie! Das ist jetzt nicht vormittags!“

„Halt die Klappe, Männeken, was weest Du denn, wann icke Mittach mach?“

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(©si)