Geschichten

Koma -10-

Wenigstens hatte die Dame vom Jugendamt insoweit ein Einsehen, als daß sie es zuließ, daß der kleine Max von Saskias Eltern vorübergehend mitgenommen werden durfte. In den Tagen zuvor hatten die Großeltern alles nur Erdenkliche eingekauft, was man eben so für die Pflege und das Wohlbefinden eines solch kleinen Wurms benötigt.
Dann erfolgte eine Begehung durch das Jugendamt im Haus von den Großeltern.

Die Max- und Moritz-Tapete war der Frau vom Amt ein Dorn im Auge. Die Musterung sei zu auffällig und könnte eine zu starke innere Bindung des Kindes bewirken, was schädlich sein könne, da der Kleine ja in absehbarer Zeit „einer Inobhutnahme durch sozialpädagogische Kräfte unterzogen würde“.

„Jetzt machen Sie aber mal einen Punkt!“, schimpfte die Oma. „Sie haben wohl selbst noch keinen Säugling großgezogen, was? Jeder Mensch weiß, daß so kleine Babys so etwas wie eine Tapetenmusterung noch gar nicht richtig sehen können. Die Augen entwickeln sich erst noch.“

Werbung

Was die Jugendamtstante darauf gesagt hat, ist nicht überliefert. Jedenfalls blieb es dabei, daß die Unterbringung bei den Großeltern nur vorübergehend sein sollte und der Kleine dann in ein Heim oder zu passenden Pflegeeltern gegeben werden sollte.

„Was für ein Blödsinn!“, schimpfte der Opa. „Wir haben zwei Mädchen großgezogen und noch nichts verlernt. Max kann bei uns bleiben, da wäre er wenigstens in der Familie. Wir sind doch Blutsverwandte!“

Doch so logisch das auch für jeden klang, bei der Frau vom Jugendamt stieß er damit auf taube Ohren.

An dieser Stelle betrat ich die Bühne des Geschehens. Alles bisher erzählte findet seine Quelle in Erzähltem, Gehörtem und Vermutetem. Und immer wenn ein Bestatter die Szene betritt, ist irgendwer gestorben.
Saskia war es.

In der Nacht von Sonntag auf Montag hatte ihr Körper einfach nicht mehr mitgemacht und den Kampf aufgegeben. Multiples Organversagen, hieß es und wohin man auf der Station auch blickte, man sah in beschäftigt wirkende Gesichter, die aber allesamt auch tiefes Mitgefühl zum Ausdruck brachten. Saskia war eine ganz besondere Person gewesen und das Pflegepersonal hatte die junge Frau sehr gemocht. Die Schwangerschaft, die Geburt, das Schicksal… Das war über Monate ein Gesprächsthema unter den Beschäftigten gewesen.

Eine Schwester und ein Pfleger schoben das Bett mit der Verstorbenen zum hinteren Bettenaufzug und fuhren hinunter in den Keller. Da die Eltern schon im Vorfeld einer Obduktion zugestimmt hatten, war klar, daß sich die Bestattung noch etwas hinziehend würde. Immerhin war Herr Böntjes, Saskias Vater, so klug gewesen, vorher einmal bei uns vorbei zu schauen. Er wolle sich nur mal „so grob übern Daumen“ erkundigen.
Dann hatte er mir vom Schicksal seiner Tochter erzählt und mir war auch sein Verhalten klar geworden. Er wollte einerseits genau wissen, was auf ihn zu kam, und andererseits erschien es ihm unangebracht, schon beim Bestatter zu sein, obwohl seine Tochter noch lebte.

Ich nahm ihm seine Angst und beruhigte ihn. „Jeden von uns kann es jederzeit treffen. Keiner kennt die Umstände und die Stunde seines Todes. Wann, wenn nichts jetzt, sollte man sich also darum kümmern? Der richtige Zeitpunkt für eine Bestattungsvorsorge ist immer jetzt. Morgen kann es schon zu spät sein. Es ist doch besser wenn man sich um all die Kleinigkeiten, die eine Beerdigung ausmachen, kümmern kann, wenn man noch einen klaren Kopf hat.“

Drei Tage nach ihrem Tod konnten wir Saskia zu uns ins Bestattungshaus holen.
Da die junge Frau plötzlich aus ihrem Alltag gerissen worden war und nicht jeder zu ihr ins Krankenhaus gedurft hatte, war das Interesse an einer offenen Aufbahrung groß. Junge Menschen haben nunmal meist mehr Freunde und bekannte, als alte Menschen.
Manni und unser Lehrling Rolli kümmerten sich um die junge Frau und brachten es fertig, daß sie anschließend so frisch und gut aussah, daß man meinen konnte, sie würde jeden Moment die Augen öffnen und aus dem Sarg steigen.

Ich weiß nicht, wie oft ich in den nächsten Tagen vor Saskias Beerdigung den Satz hörte: „Hauptsache, Sie muß nicht länger leiden“, und „wer weiß, wofür es gut ist, daß sie jetzt erlöst ist.“
Irgendwie mag das ja alles irgendwie stimmen, aber nach dem vierten oder fünften Mal konnte ich es nicht mehr hören.

Am Schlimmsten fand ich die Bemerkung einer gewissen Frau Maushake, einer alten Freundin des Ehepaares Böntjes, die Saskia schon von kleinauf gekannt hatte: „Is‘ besser so, am Ende wär‘ die noch aufgewacht und hätt‘ sabbernd und behindert im Rollstuhl gesessen; nee, das is‘ ja auch kein Leben, dann besser tot.“

„Nichts ist besser als lebendig zu sein!“, protestierte Antonia, als sie das hörte. „Wissen Sie, wieviele Menschen es gibt, die behindert sind und sabbern und im Rollstuhl sitzen, die aber trotzdem Freude am Leben haben. Wie können Sie denn so was sagen? Sie haben wohl beim Euthanasieunterricht im BDM besonders gut aufgepasst, was?“

Ich sprintete aus meinem Büro, als ich diesen Wortwechsel hörte. Da war Antonia ein Stück zu weit gegangen. Sie hatte den gleichen Fehler gemacht, wie die Frau, nämlich das, was man vielleicht denkt, auch noch auszusprechen.

Doch Frau Maushake stand zwar wie angewurzelt da und starrte Antonia mit zusammengekniffenen Augen an, dann jedoch entspannte sich der Gesichtsausdruck und die alte Frau sagte nur: „Tschuldigung!“ und ging.

Hashtags:

Ich habe zur besseren Orientierung noch einmal die wichtigsten Schlagwörter (Hashtags) dieses Artikels zusammengestellt:

Keine Schlagwörter vorhanden

Lesezeit ca.: 7 Minuten | Tippfehler melden


Hilfeaufruf vom Bestatterweblog

Das Bestatterweblog leistet wertvolle Arbeit und bietet gute Unterhaltung. Heute bitte ich um Deine Hilfe. Die Kosten für das Blog betragen 2025 voraussichtlich 21.840 €. Das Blog ist frei von Google- oder Amazon-Werbung. Bitte beschenke mich doch mit einer Spende, damit das Bestatterweblog auch weiterhin kosten- und werbefrei bleiben kann. Vielen Dank!




Lesen Sie doch auch:


(©si)