Bis um 22 Uhr saß ich im Büro, die Angestellten waren schon am Nachmittag gegangen, vor mir auf dem Schreibtisch lag noch ein ganzer Stapel. Insgesamt waren es sieben Stapel aber die anderen sechs lagen auf der anderen Seite des Büros, die hatten noch Zeit, aber dieser hier, der mußte weg, denn der Steuerberater wollte am nächsten Tag die Zahlen haben.
Gegen 20 Uhr hatte meine Frau mir zwei heiße Würstchen gebracht, „Armer Bär“ gesagt und war wieder nach oben verschwunden, als sie die Tür zur Wohnung aufmachte, hörte ich kurz das glucksende Lachen meiner Kleinen, dann war wieder Ruhe und ich war allein mit dem Ticken der großen Standuhr in der Halle.
Zu einem großen alten Haus gehört eine tickende Standuhr mit einem großen, langsamen Pendel, das hatte ich mir immer so gewünscht; und Bimbam muß sie machen…
Tick – Tack – Tick… und während ich mal wieder das obere Ende eines Kugelschreibers zerkaute, mischte sich ein fremdes Geräusch unter das Ticken der Uhr, es war ein Schaben, ein Kratzen, ein Geräusch das nicht hierher gehörte. Ich lauschte intensiver, doch das Geräusch war weg und ich war schon fast davon überzeugt, mir das nur eingebildet zu haben, da hörte ich es wieder. Dieses mal schnellte ich von meinem Stuhl hoch, schnappte mir die kleine Taschenlampe und ging leise aber schnell in Richtung Halle.
Was, wenn da ein Einbrecher wäre? Mit dieser kleinen LED-Lampe würde ich ihn kaum verhauen können, allenfalls hätte ich mir damit von unten selbst ins Gesicht leuchten und den bösen Buben mit einer dämonenartigen Grimasse verschrecken können – aber da war niemand.
Kratz, kratz… es scharrte wieder und ich merkte, daß es vorne von der Eingangstüre kam.
Mit einem Ruck riss ich die Türe auf und leuchtete der Person, die mir jetzt fast entgegenfiel, mit der Lampe ins Gesicht. Es war eine mir völlig unbekannte alte Dame, die mit vor Schrecken geweiteten Augen beinahe hingefallen wäre und nun leicht zitternd vor mir stand. „Ich hab die Klingel nicht gefunden“, sagte sie und deutete auf eine winzige Minilampe an ihrem Schlüsselbund.
Will man sich diese alte Dame vorstellen, so braucht man nur an Miss Marple zu denken. Nicht sonderlich groß, kräftige Statur, leichte O-Beine und ein Gesicht mit leichter Parallelität zu diversen englischen Hunderassen in vorgerücktem Alter.
„Mein Ernst ist tot“, waren ihre nächsten Worte und sie fügte noch einen tiefen Seufzer und den herzerweichenden Blick eines hungrigen Bassethundes hinzu.
„Kommen Sie“, das sind oft meine ersten Worte und sie waren es auch dieses mal, dann führte ich „Miss Marple“ in unser Herrenzimmer, ein Beratungszimmer mit alten englischen Möbeln, es schien mir für diese Dame ganz besonders angemessen zu sein. Dort erfuhr ich von der Frau, daß sie hinten ganz gewöhnlich Strubel hieß und vorne noch gewöhnlicher Erna. Ein kleines bißchen blätterte der englische Zauber ob dieser doch etwas schlichten Namen dann doch von Miss Marple ab. Aber was sagt schon ein Name?
Ernst, das erfuhr ich bald, war am Abend friedlich in seinem Fernsehsessel eingeschlafen, hatte sich zuvor noch einen Kamillentee bestellt, ihm sei nicht gut, wahrscheinlich der Magen und dann war es doch nicht sein Magen sondern das Herz und Bruder Hein muß einen guten Tage gehabt haben, denn nicht der Schlag hatte Ernst getroffen, sondern es war ihm ein sanftes Hinüberschlummern ins Reich des Jenseitigen beschieden. Ein Geschenk, wenn man mich fragt.
Frau Strubel sah das ähnlich, gab sich erst ganz sachlich, ach der sei doch schon 86 gewesen und dann schniefte sie mir doch zwei, drei Dutzend der lächerlich dünnen Kleenex-Tücher voll.
Der Arzt war dann sofort gekommen, hatte Herrn Strubel untersucht und schweigend den Totenschein ausgefüllt; ob er denn warten solle bis jemand kommt… „Nein, gehen Sie ruhig, ich habe keine Angst.“
An Geister glauben doch wirklich nur die wenigsten Menschen und doch erlebe ich es immer wieder, daß es den Leuten unheimlich wird, wenn sie auf einmal mit einem Verstorbenen ganz alleine in der Wohnung sind; und das kommt häufiger vor, als man denkt. Im günstigsten Fall sind Familienangehörige oder Bekannte da und manchmal kommen auch die Schwestern vom Pflegedienst (die sind immer sehr nett und wir freuen uns immer ganz besonders, denn die erklären uns immer, wie wir unseren Job zu machen haben, denn Pflegedienstschwestern sind nicht nur multitaskingfähig -sind ja Frauen- sondern auch multifunktional, es gibt so gut wie keinen Wissensbereich, in dem sie sich nicht besser auskennen. Aber so ist das eben, wenn man sogar das Schnittbrot erfunden hat.).
Aber oft genug bleibt auch ein armes Mütterchen oder -noch schlimmer- ein altes Väterchen mit seinem toten Ehepartner ganz alleine in der Wohnung zurück und da kann die Wartezeit auf den Bestatter auch schon mal ganz schön lang werden.
„Quatsch!“ meldet sich Frau Strubel zu meinen diesbezüglichen Bedenken zu Wort: „Wir haben jeden Abend unsere Sendung angeschaut und als der Doktor weg war, fing die gerade an. Wer weiß denn schon ganz genau, was so ein Toter nicht doch noch alles mitbekommt. Ihm hat es jedenfalls nicht geschadet und so ein ganz klein bisserl habe ich sogar das Gefühl, er sieht jetzt ein wenig entspannter aus, so wie der da in seinem Liegesessel liegt. Wir haben das erst noch fertig geguckt. Ja und dann, naja, wir trinken dann jeden Abend immer einen Cognac und das habe ich dann heute eben ganz alleine gemacht. ‚Ernst‘, habe ich gesagt, ‚jetzt trink ich halt Deinen Cognac mit, Du brauchst ihn ja nicht mehr und ich kann ihn ganz gut gebrauchen, Du alter Sack Du, lässt mich einfach hier ganz alleine. Was soll ich denn bloß ohne Dich machen, hä? Los, sag mal! Prost!‘. Gell, Sie lachen mich nicht aus, oder?“
Ich schüttelte den Kopf, reichte Frau Strubel noch ein Papiertuch und dann unterhielten wir uns über den weiteren Fortgang.
„Das ist mir egal, mir ist nur wichtig, daß der seine Lieblingssachen anziehen kann. Graue Cordhose mit Hosenträgern, seine Schlappen und seine Kappe, er hatte immer seine Kappe auf, der fror so leicht am Kopf.“
„Und oben herum?“
„Wie oben herum?“
„Was soll Ihr Mann oben herum anziehen?“
„Ja nix, nur sein Unterhemd, so ist der daheim immer rumgelaufen: Unterhemd, Cordhose mit Hosenträgern und Schlappen an den Füßen.“
„Und die Kappe?“
„Nein, die hat er daheim natürlich nicht angehabt, aber jetzt soll er sie mal ruhig anziehen, ich sagte ja schon, der friert so leicht am Kopf.“
„Gut, dann machen wir das genau so.“
Frau Strubel guckte verlegen auf ihre Hände, dann verzog sie ihren Mund, wie nur Miss Marples das können und mit etwas gequetschter Stimme fragte sie: „Sie können den Ernst nicht abholen lassen, während ich hier warte, oder? Ich wäre nicht gerne dabei, wenn er geholt wird.“
Kein Problem, sie händigte mir den Schlüssel zu ihrer Wohnung aus und ich rief die beiden diensthabenden Fahrer an.
Eine Stunde lang saß ich mit Miss Marple-Strubel zusammen und wir besprachen die Trauerfeier in allen Einzelheiten. Dann war Ernst da und die Männer hatten sogar die Schlappen und die graukarierte Kappe mitgebracht.
„Haben Sie Cognac?“ wollte Frau Strubel wissen und während ich ihr ein Glas einschenkte, fragte sie, ob sie ihren Ernst jetzt noch einmal sehen könnte.
Fünf Minuten später stand ich dann mit Miss Marple neben der Trage, auf der ihr Ernst lag, die Kappe lag auf seiner Brust, die Schlappen standen unten am Fußende und Miss Marple nickte nur, lächelte traurig und zufrieden zugleich, hob ihr Cognacglas und sagt: „Prost Ernst, mach es gut!“
Dann leerte sie das Glas in einem Zug, stellte es auf die Anrichte rechts an der Wand, warf sich ihren Schal über die Schulter und stakste auf ihren etwas krummen Beinen wortlos die Treppe nach oben und dann zur Tür hinaus.
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Ach Mensch, solche Geschichten berühren mich jedes Mal.
Wieder eine be-rührende Geschichte die das Leben schreibt…
Ein schöner Abschied.
Sehr rührend, aber sehr schön. Ich hoffe, das ist bei mir mal ähnlich – so in 40,50 Jahren.
Ein ehrlicher Abschied. Stilecht und persönlich.
Kommt meinen Gedanken vom und beim Abschiednehmen sehr nahe. Der Abschied ist wichtig!
„Prost Ernst, mach es gut!“
Ja, machs gut Ernst, bist halt nur ein wenig vor Miss Marple abgereist.
Irgendwann wird sie Ernst nachreisen, dann machen sie wieder Alles gemeinsam. So wie immer. Wer weiß denn schon…
Genau so ein Trumm Standuhr steht bei mir auch im Wohnzimmer. Ich lasse sie gern mal ihr Werk tun, meine Frau hält sie an, weil sie so ein lautes Schlagwerk hat.
Sollte mir das passieren, dass ich Sonntagnachmittags ableben darf, dann hoffe ich, dass ich um 18:50 und um 19:15 noch ein letztes Mal meine Lieblingsserien schauen darf.
Entsprechenden Wunsch teile ich meiner Gattin heute früh mit.
Ich sterbe ja nicht, ich geh einfach nach Hause.
Schööööön. Ich hab schon wieder ne Gänsehaut!
Hach, jetzt hatte ich auch mal was zum früh morgens lesen. Schön 🙂 So kann es doch laufen, da wird niemand sonderlich vom Tod überrascht und es gibt keine größeren Probleme.
Das war jetzt wohl nicht „16:50 ab Paddington“, sondern 18:30 ab Eimsbüttel 🙂
Eine alte Dame mit viel Witz, Herz und Verstand! Findet man immer seltener heute …
So einen Abschied wünsche ich mir auch in 50-70 Jahren. Friedlich, spaßig, normal. Mal sehen wie es wirklich wird.
@Blogolade: wirste wohl eher nicht herausfinden.
Mal wieder ein großes Dankeschön für diese Geschichte! *schnief*
[Quote=“Qlance“]Ich sterbe ja nicht, ich geh einfach nach Hause.[/Quote]
[b]Danke![/b]
Oh, wie schööööön. 🙂 Traurig, aber trotzdem total schön.
Zitat: „[…] und Bruder Hein muß einen guten Tage gehabt haben […]“
Also quasi Familienunternehmen, oder wie? Dein Bruder Hein beschafft die Opfer, die Du dann unter die Erde bringst … 😉
Dann sag dem mal, er soll bloß seine Finger von mir lassen! Sonst gibt es was auf die knochige Kaulade! 🙂
Das sieht dann wohl so aus:
[img]http://www.faz.net/m/%7B5F8941E0-1AAF-463A-B581-F98D2F93ACA7%7DPicture.jpg[/img]
PS: Danke, Flix!
Größer kann der Kontrast in zwei aufeinanderfolgenden Blogeinträgen kaum sein.
Gerade nur einen Tag vorher „dauerte es zu lange“ und nichts war wichtiger als der bevorstehende Urlaub.
Und nun die Erna…
Komisch, es sind immer die Geschichten wo alte Menschen friedlich gehen, die mich heulen lassen beim Lesen. Die ganzen Stories wo junge Menschen viel zu früh gehen sind tragisch, aber lange nicht so tränendrüsenreizend wie Miss Marple die heute auch den Cognac ihres Mannes kippt.
Na aber die Erna hat das Ganze ja gut verkraftet. Besser als anders herum. Und es ist, so glaube ich, wirklich ein Segen einfach einzuschlafen.
schön.und traurig. aber schön.
irgendwie hab ich erna ins herz geschlossen.
danke tom.
@20: ich glaube, das liegt daran, dass es so viel zu selten ist (oder wir es viel zu selten erfahren), wir es uns aber genau so wünschen.
Danke, Tom, das war wieder schön traurig, aber auch traurig schön.*SeufzSchnief*
Wo sind meine Taschentücher…
Einfach wunderbar…
Verdammt, bis zu den letzten zwei Sätzen hatte ich noch trockene Augen… Du schaffst es aber auch immer wieder!
Ich bekomme bei solchen Geschichten immer eine Gänsehaut.
Danke für deinen Blog Tom
Schöne Geschichte.
Aber google doch mal, wer Erna Strube ist….
Meine Frau ist imemr so verwundert, daß ich vorm PC sitze und weine, wo ich als Mann doch viel zu selten Gefühl zeige. Aber den Grund hier lesen, will sie auch nicht…
Sehr würdig, auch noch im Abschied nehmen daran zu denken, dass es dem angderen „gut geht“. Alter Schule eben.
Haste dein Steuerkram nun die Nacht noch fertig gemacht?
Die „Miss Marple“ hatte Stil 🙂
weil ich grad „totgepflegt“ von mick&mick gelesen hab musste ich immer wieder etwas schmunzeln. der cognac, die miss marple, die besserwisserischen pflegekraefte… die handlung selbst ist freilich eine ganz andere aber vorallem bei dem wort „miss marple“ musste ich einfach nur schmunzeln. es war sehr schön das zu lesen. danke!
gruß