Geschichten

Maria 4

Die Sache gewinnt an Klarheit. Wir bekommen heute gegen Abend schon die Freigabe, vielleicht schon am Nachmittag.
Es ist ja nicht so, dass ich mich den ganzen Tag um diesen einzelnen Fall kümmern kann. Man darf nicht vergessen, dass wir in aller Regel ja vor allem alte Mütterchen und Väterchen beerdigen, so wie es sich gehört; also Menschen, die schon lange auf dieser Erde weilten und die eben in dem Alter sind, wo man auch schon mal sterben kann.

Andere Fälle, junge Menschen, Menschen mittleren Alters, die sind glücklicherweise eher selten und Fälle in denen es zu einer solchen Dramatik kommt, wie im vorliegenden Fall, sind höchst selten. Aber merkwürdigerweise treten sie in Serie auf. Das bedeutet: Wenn man gerade so einen doch recht merkwürdigen Fall abgeschlossen hat, kommt garantiert gleich der nächste. Dann ist oft wieder für Jahre Ruhe.

Ich hatte da so eine Serie von Zigeuner-Bestattungen, aber davon erzähle ich Euch demnächst. Und bevor sich jemand über das Wort Zigeuner aufregt: Die betreffenden Leute haben sich selbst so bezeichnet.

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Bei Maria, dem sechsmonatigen Kleinkind (ich weiß immer nicht genau, wann man Säugling, Baby oder Kleinkind sagt) ist es zu einer unerwarteten Wendung gekommen. Die Mutter ist gestern Abend noch von ihrem Mann ins Krankenhaus gebracht worden, weil sie aufgrund der nervlichen Belastung einen Weinkrampf bekommen hat. Die Familie hat viel Stress gemacht, man stelle sich einfach eine Dreizimmerwohnung voll mit südländischen Menschen vor. Die Polizei, ein Pfarrer der italienischen Gemeinde, die Vorbereitung der Bestattung; alles das war wohl zuviel für die Mutter, aber sicherlich auch für den Vater.

Im Krankenhaus hat die Mutter sich dann weinend einer Ärztin offenbart und daraufhin wurde erneut die Polizei hinzugezogen.
Es ist Folgendes passiert: Die Mutter hat am Mittag des gestrigen Tages das Kind auf der Wickelkommode fertig gemacht. Dabei soll wohl ein Fläschchen mit Babyöl umgefallen sein, was die Mutter nicht bemerkt hat. Nachdem das Kind gewickelt war, nahm die Mutter es an die Schulter, damit es ein „Bäuerchen“ machen kann. Dabei wollte sie das Kind mit einer Hand am Rücken bzw. im Nacken stützen und mit der anderen Hand die Utensilien und die verschmutzte Windel wegräumen.

Die Mutter hat sich dabei bewegt und etwas vornübergebeugt und dabei soll das Kind ins Rutschen gekommen sein, vor Schreck habe die Mutter alles fallen lassen und versucht, das Kind mit beiden Händen zu greifen. Dadurch dass das Kind im oberen Nackenbereich durch das Babyöl glitschig und schlüpfrig war, habe sie keinen Halt gefunden und als sie das fallende Kind endlich mit beiden Händen kräftig greifen konnte, hat sie es am Hals erwischt.

Das Baby habe daraufhin sofort zu schreien aufgehört und die Mutter habe den Vater hinzugerufen. Beide meinten, das Kind sei nur bewusstlos und haben ihm ein Hemdchen angezogen und es ins Bettchen gelegt. Daraufhin wurde sofort der Arzt verständigt.

Jetzt wird es mysteriös. Bis hierhin haben wir es mit einem mehr als tragischen und schrecklichen Unfall zu tun. Und die hier wiedergegebenen Angaben entsprechen auch dem, was die Kriminalbeamten für wahrscheinlich halten und wie ich hörte, was auch die Rechtsmediziner unterschreiben. Weitere Anzeichen von Gewalteinwirkung gibt es nicht und (Beamte drücken sich immer so toll amtlich aus) die bei der Tatorterhebung gewonnenen Erkenntnisse deuten auf ein intaktes soziales Umfeld hin sowie auf die Tatsache, dass die Eltern mit dem Baby in die Zukunft geplant haben, was durch das Vorhandensein von Gegenständen, die das Kind erst später brauchen wird, unterstrichen würde.
Von einer absichtlichen, also vorsätzlichen Tat kann keine Rede sein, heisst es.

Aber ich schrieb ja, dass es mysteriös wird, bevor ich wieder ins Schwafeln gekommen bin. Der große Mysteriöse ist der Arzt. Man muss wissen, dass die Todespapiere, die er ausfüllen muss, mehrfachdurchschreibend sind. Das ist ein ganzer Stapel von Blättern, die am oberen Rand zusammengefasst sind. Bestimmte Angaben, wie die Personalien beispielsweise, schreiben sich durch den ganzen Satz hindurch. Andere Angaben, wie z.B. die Todesursache, schreiben sich absichtlich nur auf einen Teil der Blätter durch. Diese gehen dann den jeweiligen Empfänger dieses Durchschlags nichts an.

Wenn man nun beim Ausfüllen etwas eilig oder unachtsam ist und die Bögen nicht richtig übereinanderliegen, schreibt sich manches in die falschen Felder durch, manches ist doppelt, vieles unleserlich usw.
So haben wir im aktuellen Fall lauter Kreuze auf den Durchschriften und es nicht feststellbar, ob der gute Herr Doktor nun natürlichen oder nichtnatürlichen Tod angekreuzt hat. Bei „plötzlicher Kindstod“ hat er hintendran so eine lange Welle gezogen, so als ob da noch was käme, was man nicht lesen kann.

Über die Frage, ob bei plötzlichem Kindstod immer die Polizei verständigt werden muss, herrscht hier Unklarheit. Die einen sagen: Auf jeden Fall! Die anderen sagen: Wenn der Arzt es meint.
Ich bin der Auffassung: Auf jeden Fall.

Also: Derzeit deutet alles auf einen tragischen Unglücksfall hin.
Nach dem was mir ein Beamter so erzählenderweise mitgeteilt hat, ist es derzeit noch nicht mal klar, ob überhaupt ein Verfahren gegen die Mutter eröffnet wird. Das hänge vom endgültigen Obduktionsbericht ab, da sei noch was, was er nicht wisse.

Im ungünstigsten Fall können wir die Kleine morgen früh holen, sobald die Freigabe da ist. Einen Sarg hat der Vater gestern schon ausgesucht, klassisch, schlicht, weiß. Blumen bestellen sie selbst beim Gärtner, Zeitungsanzeigen gibt es nicht.

Wenn man sieht, wie fertig der Mann ist, kann man eigentlich nur Mitleid mit ihm haben. Morgen soll das Kind hier bei uns im Aussegnungsraum bzw. in unserer Hauskapelle aufgebahrt werden und dann kommt auch die Mutter und der Rest der Familie.

Maria 3
Maria 2
Maria 1

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