Menschen

Monika wo warst Du?

Wie wird der Mund einer Leiche verschlossen?

Die Zahl der Menschen die in Deutschland jedes Jahr verschwinden, ist unglaublich hoch. Täglich werden bis zu 300 Personen als vermisst gemeldet oder als wiedergekehrt gemeldet, im Jahr sind es über 30.000 Meldungen. Gut, die meisten kommen schnell wieder oder der Aufenthalt kann geklärt werden; 80% der Vermissten sind nach einem Monat wieder da, aber etwa 4.000 bis 5.000 Personen bleiben ständig vermisst.

Findet anfangs tatsächlich eine intensive Suche statt, was vor allem immer dann passiert, wenn es sich um Kinder oder Jugendliche handelt, so kommt doch irgendwann unweigerlich der Zeitpunkt an dem die Behörden die Akte zuklappen müssen. Es wurden alle Möglichkeiten ausgeschöpft, man hat die vermisste Person nicht finden können und was bleibt, das ist die Hoffnung auf den langen Atem der Polizei und daß der Vermisste eines Tages vielleicht doch wieder auftauchen könnte.

Was muss in Eltern vorgehen, deren 15jährige Tochter an einem trüben Novembermorgen ihren Anorak anzieht, vom Papa noch 4 Mark Zehrgeld erbittet und dann ihren Eltern einen flüchtigen Kuß auf die Wangen drückt, ihrer Mutter noch zuruft: „Mama, bring mir Lippgloss mit, Du weiß schon welches!“ und dann nie wieder nach Hause kommt?

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Ich mag an so etwas gar nicht denken, mit meiner Frau kann ich über so etwas überhaupt nicht reden, allein schon die Vorstellung, unseren Kindern könnte so etwas widerfahren, beunruhigt uns; das wird wohl allen Eltern so gehen.

Herr und Frau Brandt ist es aber genau so gegangen, vor 10 Jahren.
Ihre Tochter Monika ist genau so morgens weggegangen und am Mittag hat die Mutter vergebens auf die Heimkehr der Jugendlichen gewartet.
In der Schule ist sie gar nicht eingetroffen, niemand aus Schule, Verein oder Freundeskreis konnte auch nur im Geringsten etwas zum Verschwinden der 15jährigen sagen. Niemals sei vom Weglaufen die Rede gewesen, einen Freund -zumindest einen festen- habe das Mädchen auch nicht gehabt.

Schnell ging die Rede von einer möglichen Straftat, die Presse bauschte den Fall und die aufwendige Suche der Polizei ziemlich auf. Sogar im Fernsehen wurde ein 20-minütiger Beitrag über die mysteriösen Umstände von Monikas Verschwinden ausgestrahlt.

Noch ein paar Mal zuckte der Moloch des öffentlichen Interesses kurz auf, es wurde nochmal ein Foto von Monika in der Zeitung gebracht, in einer Fernsehsendung wurde noch einmal die Suchmeldung ausgestrahlt, doch dann war Schluss. Babyleichen im Osten, Mädchenleichen in Frankreich, ein Nuttenmörder… Neuere Geschichten drängten nach und verdrängten die verschwundene Monika aus den Gedanken der Menschen.

Herr Brandt ist über die Jahre ein verbitterter Mann geworden, den es immer wieder zum Bahnhof und zum Flughafen zog, wo er stundenlang mit einem Foto seiner Tochter auf dem Rücken und einem Schild „Haben Sie meine Monika gesehen?“ auf der Brust still inmitten des Passagierstroms stand.

Niemand hatte Monika gesehen.

Ein Kriminalbeamter hatte den Brandts gesagt, sie sollen die Hoffnung nie aufgeben, manchmal könnten auch Jahre vergehen; ein anderer Beamter sagte ganz unverblümt etwas anderes: „Unsere Erfahrungen zeigen, daß ein Zurückkommen ihrer Tochter eher unwahrscheinlich ist, gehen sie davon aus, daß sie einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist.“

Davon wollten die Eltern nichts wissen, für sie war eines klar: „Solange wir nicht sicher wissen, daß Monika gestorben ist, solange lebt sie für uns.“
Das sagt mir Herr Brandt und nimmt die Hand seiner Frau zwischen seine beiden Hände. Dicke Tränen rinnen aus seinen wasserblauen Augen, seine Frau sitzt da mit wächsernem Teint und versteinertem Gesicht.

„…lebte sie für uns“, verbessert sich Herr Brandt und die Hand seiner Frau verkrampft sich sichtlich in seinen Händen, sie will das nicht hören.

Vor dreiundzwanzig Tagen ist in Rotterdam auf einer Parkbank die sitzende Leiche einer jungen Frau gefunden worden. Zunächst glaubte die niederländische Polizei an eine Drogentote und als keine Hinweise auf Drogen gefunden werden konnten, nahm man an, es handele sich um ein Tötungsdelikt aus der Hausbesetzerszene.
Doch die Obduktion der Leiche förderte Erstaunliches zu Tage. Einmal konnte der untersuchende Arzt herausfinden, daß die junge Frau schlicht und ergreifend an einem Gehirnschlag verstorben ist und dann wurde bei einem Abgleich der Fingerabdrücke festgestellt, daß es sich um die mittlerweile 25 Jahre alt gewordene, vermisste Monika Brandt handelt.

Kleidung und der körperliche Pflegezustand lassen darauf schließen, daß Monika wohl in geordneten Verhältnissen und keinesfalls im „Milieu“ gelebt haben muß. Außer einer Busfahrkarte und der namenlosen Kundenkarte eines Rotterdamer Sportgeschäfts wurden keinerlei Unterlagen in der Handtasche der jungen Frau gefunden, kein Fetzen Papier, keine Dokumente, nichts. Im Portemonnaie der Verstorbenen befanden sich 320 Euro, was auch nicht darauf hindeutet, daß sie von der Hand in den Mund gelebt hat.

Mysteriös.

Kurz kam was in den Regionalnachrichten, zweimal war ein retuschiertes Foto in der Zeitung, bislang hat sich jedoch niemand gemeldet. Keiner in den Niederlanden scheint die junge Frau zu kennen.
Die Niederländer haben alles getan, was getan werden mußte, man wird auch noch weiter ermitteln, aber dann entschied man, daß das Ganze doch eher eine deutsche Sache sei.
Der Leichnam wurde von einem niederländischen Bestatter hierher gebracht und dann erst hat man das Ehepaar Brandt informiert.

Nun kann man davon ausgehen, daß die niederländische Polizei sicher sehr sorgfältig arbeitet und korrekt ermittelt, jedoch haben die deutschen Beamten, die den Fall jetzt bearbeiten, klug daran getan, nicht voreilig zu handeln und erst nach einer eingehenden Untersuchung medizinischer und kriminaltechnischer Art im rechtsmedizinischen Institut war für die deutsche Polizei sicher, daß es sich wirklich um die Leiche der seit zehn Jahren vermissten Monika handelt.

Erst da hat man die Eltern informiert.

Was mag in diesen Leuten nun vorgehen? Man kann es sich nicht vorstellen.
Auch wenn sie jetzt Gewissheit haben, daß ihre Tochter tot ist, auch wenn sie im Abschiedsraum der Rechtsmedizin durch eine Glasscheibe einen kurzen Blick auf ihre Tochter werfen durften, es bleibt nichts als unbeantwortete Fragen.

Warum ist Monika vor zehn Jahren verschwunden? Was hat sie die ganze Zeit gemacht? Wo ist sie gewesen? War sie in Deutschland und nur kurz in Rotterdam? Deutet die nie aktivierte Kundenkarte des Sportgeschäfts darauf hin, daß sie in den Niederlanden gelebt hat? War sie freiwillig dort?

Gestorben, das ist sicher, ist sie eines natürlichen Todes. So etwas kommt eben auch mal bei 25-jährigen vor, selten, aber es kommt eben vor.

Tonlos gibt Herr Brandt seine Anweisungen: weißer Sarg, Erdbestattung, hundert rote Rosen, keine Aufbahrung, keine Zeitung, keine Leute. Doch, diejenigen die sie kannten und mochten, die dürfen natürlich kommen, aber sonst niemand, vor allem keine Presse, keine Unbekannten, keine Gaffer.

Ein Herr Klöntgens ruft an. Ein pensionierter Kriminalbeamter, der damals den Vermisstenfall bearbeitete, derjenige, der gesagt hat, man solle die Hoffnung nicht aufgeben. Auch er will zur Beerdigung kommen, darf er.

Die Beerdigung findet am Samstagmorgen statt.
Bis vor zwei Jahren gab es samstags in der Stadt überhaupt keine Beerdigungen, nur in den kleineren Gemeinden ringsherum. Dann fing man in der Stadt damit an und seltsamerweise hörten die kleinen Gemeinden dann damit auf.
Die Beerdigung findet in einer solchen kleineren Gemeinde statt, auf dem Friedhof liegen auch schon die Großeltern von Monika, sie bekommt ein Grab ziemlich weit davon entfernt, mit viel Phantasie kann man aber sagen, daß man von dort aus das Grab der Großeltern sehen kann.

Am Samstag, morgen um halb neun ist es noch ganz ruhig und still auf diesem Friedhof. Etwa vierzig Personen sind gekommen, mehr als wir erwartet hatten, weniger als es vor zehn Jahren gewesen wären…
Die Kirchengemeinde hat einen Diakon geschickt, die Brandts haben es nicht so mit der Kirche, sie sind aber im Vorgespräch mit dem Mann sehr gut klar gekommen. Der Diakon erweist sich als blendender Redner, jemand der es versteht ernst und sachlich zu bleiben und dennoch Emotionen zu wecken. Er stockt, gibt offen zu, sprachlos zu sein und auch keine Antwort zu wissen auf all die vielen offenen Fragen. Er betet mit den Anwesenden und der Diakon schafft es, daß die Leute nicht nur gezwungenermaßen mitmurmeln, sondern inbrünstig seinem Gebet und seinen Fürbitten folgen.

Eine CD mit „Moonlight Shadow“ von Mike Oldfield wird gespielt, das habe Monika so geliebt. Der Organist versucht noch „Music was my first love“ in einer glücklicherweise abgekürzten Version, der Versuch mißlingt, aber das haben wohl nur wir gehört, die wir zwar mitfühlen, aber nicht ganz so stark emotional eingebunden sind. Der Familie und den Freunden hat es gut gefallen, sie haben die Missklänge nicht gehört, gut so.

Am Ende stehen alle auf, der hochglänzende, reinweiße Sarg mit einem Gesteck aus blutroten Rosen und sehr viel breitblättrigem Grün darunter wird langsam hinausgefahren.
Mir fallen die lehmverklumpten Sicherheitsschuhe des Friedhofsverwalters auf, wenigstens ist seine Uniform ordentlich. Er geht vorneweg, zeigt den Weg, ihm folge ich als Zeremonienmeister, dann kommt der Sarg, geschoben von vier weiß behandschuhten, ziemlich alten Männern in dunkelgrauen langen Mänteln.

Dahinter der Diakon mit dem noch viel älteren Messner und dann Monikas Eltern, Herr Brandt muß seine Frau stützen, fast scheint es, als wollten ihr die Beine auf diesem schweren Weg den Dienst versagen.
Mit etwa Abstand folgt die übrige Trauergesellschaft.

Die von der Gemeinde aufgestellte Lautsprecheranlage scheppert und echot. Der Diakon legt die eben erst umständlich angelegte, fleischfarbene und an der Wange hängende Sprechwarze ab und spricht lieber ohne technische Hilfsmittel.
Das führt dazu, daß die Trauernden enger zusammenrücken, näher ans Grab gehen, jeder will ja was hören.

Am Grab haben wir einen Faltpavillon aufgestellt, etwas Kunstrasen ausgelegt und rund zwölf Stühle aufgebaut.
Nur die Brandts setzen sich, die Frau kann nicht mehr und ich habe den Eindruck, daß er sich nur setzt, damit sie nicht alleine da sitzt.

Etwas verspätet und mit dünnem Läuten setzt die Friedhofsglocke ein und bimmelt einen traurigen letzten Gruß über den Friedhof.

Als die Männer den Sarg an dicken Tauen ins Grab herablassen, schluchzt Frau Brandt auf und ruft mit erstickter Stimme den Namen ihrer Tochter: „Monika?“
Fragend ruft sie ihn, klagend ruft sie ihn, dann bricht sie unter Tränen zusammen. Ihr Mann und zwei Frauen, ich glaube es sind Cousinen der Familie, stehen ihr bei, Herr Brandt gibt mir ein Zeichen, wir sollen weitermachen, er und seine Frau gehen jetzt nicht ans Grab.

Etwas irritiert fährt der Diakon fort, zunächst will keiner der anderen Trauergäste ans Grab gehen, man schaut fragend in Richtung der Eltern, doch Frau Brandt ist wirklich nicht in der Lage mehr zu tun als da zu sitzen und von Tränen geschüttelt zu werden.

Ein älterer Mann faßt sich ein Herz, vielleicht ist es der Kriminalkommissar, und geht nach vorne, nimmt die kleine Schaufel aus dem Gefäß mit dem Sand und wirft drei Schaufeln voll ins Grab.
Der Sand macht ein häßliches, klopfendes Geräusch als er auf den Sargdeckel fällt. Lauter und häßlicher als sonst.

Nach und nach gehen fast alle ans Grab und unterdessen hat mich Herr Brandt fragend angeschaut, ich habe ihm zugenickt und dann Manni, unserem Fahrdienstleiter in seinem schönen neuen Anzug ein Zeichen gegeben und er hat das Ehepaar nahezu unbemerkt seitlich weggeführt.
Er wird sie nach Hause fahren, so war es abgesprochen, damit keiner noch mit Beileidswünschen kommen kann.
Nur, daß das Ehepaar so früh geht, das war nicht geplant, ist aber nicht schlimm, ich glaube dafür hat jeder der Anwesenden Verständnis.

Eine anschließende Feier gibt es sowieso nicht, das war von vornherein klar, ich weise den Leuten nach dem kurzen letzten Gruß am Grab den Weg und jeder weiß, daß es jetzt vorüber ist.

Am Nachmittag, das Grab ist inzwischen geschlossen, drei, vier Kränze und ein paar Schalen liegen darauf, fahren wir die Brandts nochmal zum Friedhof. Zwei neugierige alte Frauen gehen schnell vom Grab weg, als sie uns kommen sehen und bleiben tuschelnd und glotzäugig schauend hinter einer Hecke aus Lebensbäumen stehen.
Die Brandts bekommen davon nichts mit. Er geht ans Kopfende des Grabes, rückt das provisorische Holzkreuz gerade, auf dem nur Monika steht, kein Nachname, keine Lebensdaten. Frau Brandt hat sich gefasst, steht nur da und schüttelt den Kopf, ihr Gesicht zeigt nur eines, die große Frage nach dem Wie und Warum.

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(©si)