Wie unprofessionell ist das denn? Da saß ich die Nacht durch und heulte. Und das alles, nur weil keine 5 Meter von mir entfernt, der Leichnam eines acht Monate alten Kindes im Kühlraum lag?
Ich konnte mir meine Gefühlswallung selbst nicht erklären und als ich am sehr frühen Morgen nach oben in die Wohnung ging, öffnete ich die Türe der beiden Kinderzimmer und schaute lange auf die friedlich schlafenden Kinder.
Wenigstens hatte sich die Allerliebste mal wieder quer ins Bett gerollt und so meine Hälfte etwas mitgewärmt.
Ein Bestatter hat es zu seinem Beruf gemacht, sich um Menschen zu kümmern, die traurig sind. Ich sage es immer wieder, daß es durchaus angemessen ist, angesichts des Verlustes und der Trauer auch eigene Gefühle zu zeigen. Das ist menschlich, völlig natürlich und zeugt von Empathie. Aber man darf die Trauer nicht soweit an sich heranlassen, daß man von ihr übermannt wird. Schließlich wenden sich die Angehörigen hilfesuchend an einen und vertrauen darauf, daß man eben aufgrund der persönlichen Distanz zum Verstorbenen, kluge und überlegte Entscheidungen trifft. a, man trifft oft genug stellvertretend für die Hinterbliebenen Entscheidungen, weil man das Stimmungsbild in sich aufgenommen hat, weil man sondiert hat, in welche Richtung die Wünsche gehen, und weil die Leute einfach selbst dazu nicht in der Lage sind. Wie dem auch sei: Der Bestatter muß einen klaren Kopf bewahren.
Bis heute habe ich keine Erklärung dafür gefunden, warum mich damals der Tod des kleinen Hubert so mitgenommen hat. Er sah meinen eigenen Kindern nicht ähnlich und ich kannte ihn und seine Eltern Klaus und Mausi, die eigentlich Erika hieß, vorher nicht.
Wahrscheinlich war es dieses Bild, das sich mir eingebrannt hatte: Die dunkle Straße, das Junge Paar, nur spärlich von hinten von den Straßenlaternen beschienen und das tote Kind auf den Armen seines Vaters.
Es sah aus, als würden sie das Kind wie ein Opfer darbringen, dabei haben sie es einfach nur zu mir gebracht. Ja, sie haben aus meiner Sicht das Kind zu mir gebracht, aus ihrer Sicht ist das viel schlimmer: Sie haben ihr Kind weggebracht.
Und mit diesem leblosen Körper haben sie viele Hoffnungen und die gemeinsame Zukunft als Familie weggebracht.
Als ich an diesem Tag, viel später als sonst, runter ins Büro ging, dudelte mir aus dem großen Büro Radiomusik entgegen, ab und zu unterbrochen von zwei superlustigen Gute-Laune-Clowns, denen ich wortlos den Saft abdrehte.
Frau Büser hob nur warnend die Augenbrauen und Sandy und Antonia wußten Bescheid, mit dem Chef ist heute nicht gut Kirschen essen.
Wortlos verkroch ich mich in mein Büro, drückte mich davor, den Computer einzuschalten, wollte mit dem ganzen Tagesgeschäft am liebsten nichts zu tun haben, und vermied alles, was in irgendeiner Form die nächtlichen Ereignisse wieder freigespült hätte.
Doch das gelang mir nur zum Teil, irgendwie kam dieses Bild aus der vergangenen Nacht immer wieder vor mein geistiges Auge.
„Ich bin mal weg!“, rief ich Frau Büser zu und noch bevor sie protestieren und mir einen Stapel Papiere geben konnte, war ich schon verschwunden.
Ich wollte nur eine Stunde spazieren gehen, einfach mal abschalten, einfach mal am Neckar sitzen und den Schiffen zugucken.
Hat jemand eine Ahnung davon, wie viele Leute mit Kinderwagen einem auf einem halben Kilometer begegnen können?
Ich schreibe diese Geschichte auf, nicht weil da am Ende noch eine böse Schwiegermutter kommt oder ein widerborstiger Friedhofsarbeiter, und dann der Bestatter mit irgendeiner Aktion eine glückliche Wendung herbeiführen kann; nein, ich schreibe diese Geschichte auf, weil ich einfach zeigen will, daß gerade in diesem Beruf auch nicht alles Gold ist.
Wie oft haben mich Menschen schon gefragt, wie man so einen Beruf überhaupt ausüben kann. Sie denken dabei an die Leichen, die ja im Bestatterweblog euphemistisch immer „Verstorbener“ heißen.
Viele haben eine Abscheu vor dem Tod, vor Leichen und vor allem was damit zu tun hat. Kann ich ja verstehen. Aber wenn man mal in der Branche tätig ist oder war, dann weiß man, daß die Toten immer noch das geringste Problem sind, die meiste Arbeit und den meisten Ärger machen einem oft genug die Lebenden.
Vor dem, was Leichen manchmal etwas unappetitlich macht, kann man sich weitestgehend schützen, Atemmasken, Handschuhe, Papieroveralls …
Doch wie schützt man sich vor Lebenden, die keinen Respekt haben, die vorlaut und dummdreist sind und die kein bißchen Anstand haben?
Auch solche gibt es nämlich. Und ausgerechnet die bleiben einem in Erinnerung.
Die vielen, die glücklich und zufrieden waren, die einem keine Arbeit machten, die schnell bezahlten und einfach angenehme Kunden waren, die gehen irgendwie unter in der Masse.
Und nie untergegangen in irgendeiner Masse ist dieser kleine Hubert. Der mit dem Sarg, der aussah wie eine kleine Blumeninsel.
„Unser Hubert ist auf einer richtigen kleinen Insel. Ganz allein. Aber er hat eine schöne Insel und auf der kann er jetzt über das Wasser in den Himmel treiben“, sagte Mausi nach der Beerdigung zu mir.
Ich nickte nur stumm.
Klaus meinte noch: „In unserer Kirchengemeinde haben sie uns zugelabert, von wegen Sternenkind und so. Aber was soll mein Kind ein Stern sein oder ein Sternenkind? Was ist das überhaupt? Der Lütte ist tot, das ist Fakt. Wir haben ihn symbolisch auf Blumen und einer Wiese gebettet, das ist eine schöne Vorstellung, aber wir wissen doch auch, daß er in Wirklichkeit da unten in einer Holzkiste liegt.“
Über diese Sätze konnte ich nur staunen und in mir stieg eine Frage auf, die mir das Ehepaar aber beantwortete, ohne daß ich sie stellen mußte. „Ich bin in der neunten Woche!“, verkündete Mausi und griff Klaus‘ Hand etwas fester.
So ist das Leben, einer geht und ein anderer kommt.
Ich begriff, daß ich nur für eine kurze Stippvisite hier bin, keinesfalls als Nabel der Welt, sondern als klitzekleines Atom, und das alles hier nur geliehener Tinnef ist.
Denn alles ringsherum, das gehört immer denen die da gerade heranreifen und dann mit einer, für uns fast befremdlich wirkenden Energie, ins Leben stürmen.
Ich habe noch einmal die wichtigsten Schlagwörter (Hashtags) dieses Artikels für Sie zusammengestellt, damit Sie sich besser orientieren können:
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Manchmal bin ich froh alleine im Büro zu sitzen.
Ich muss meine Kleine drücken, wenn sie nachher wieder kommt
Seine eigenen Kinder aufwachsen zu sehen und sie dabei zu begleiten, wie sie ihren eigenen Weg gehen, erfüllt mich mit tiefer Zufriedenheit. Zu sehen, wie die eigenen Kinder in jungen Jahren sterben… dieser Schmerz macht mich sprachlos…
Juhu, ich hab’s geschafft… und das fast auf den Tag genau zum 8-jährigen 🙂
All die Artikel von 2007 bis heute haben mir in den letzten Monaten so manchen Abend versüßt und dabei auch für die eine oder andere Träne gesorgt.
Für die zahlreichen Geschichten und Informationen, die mir einiges zum Nachdenken gegeben haben, die ich aber (zum Glück) noch nicht gebraucht habe, einfach mal ein dickes DANKE – und ein kleines verspätetes Osterei als Spende via Paypal.
Grüße aus dem hohen Norden,
Wolfgang
Die Geschichte hat mich gestern abend (Teil II) schon ein wenig bedrückt; mit eigenem Kind (immerhin schon 4 und gesund) geht einem sowas noch näher als wenn man noch keines hat.
Es ist schön, daß die Eltern mit diesem Schicksalsschlag so abschließen können (es gibt ja auch die „Extrem-Trauerer“), vielleicht auch, weil das Kind offenbar seit Geburt sehr krank war, so konnten sie sich auf eine gewisse Art schon darauf vorbereiten.
Lieber Peter, gerade DAS macht Dich zu einem so liebenswerten Menschen, dass Dich eben NICHT alles kalt lässt … ich habe beim Lesen so was von heftig mitgeheult!
Aber ob der kleine Hubert nun wirklich tot ist oder in dieser unserer Welt, von der wir Menschen mit unserem so begrenzten Wahrnehmungsvermögen mal gerade drei Dimensionen nachvollziehen können, Einstein aber schon eine vierte berechnet hat, vielleicht eben doch irgendwie anders weiterlebt und unter Umständen diesen Blog gerade mitliest – das wissen wir doch alle nicht, oder?
Eine sehr anrührende Geschichte. Ich kann mir gut vorstellen, dass das Bild des Vaters, der seinen toten Sohn auf den Armen trägt, einen sehr tiefen Eindruck hinterlassen hat. Bei aller Professionalität sind wir zum Glück keine Maschinen, erst die Emotionen machen uns zum Menschen – auch wenn das mitunter sehr schmerzhaft sein kann. Aber Schmerz und Trauer gehören nun mal zum Leben dazu.
danke.
Zitat: Bis heute habe ich keine Erklärung dafür gefunden, warum mich damals der Tod des kleinen Hubert so mitgenommen hat. Ich hätte da als absoluter Laie dieses Bestattergewerbes eine vielleicht gar nicht mal so dumme Erklärung, die auch gar nicht mit diesem Beruf zu tun hat. Kann ja sein, dass es ganz einfach so war, dass sich im Laufe der Jahre alles Mögliche und Unmögliche an- bzw. aufgestaut hat. Ob das nun privat, beruflich oder aus welchen Gründen auch immer verdrängt wurde. An irgendeinem Punkt braucht es dann nur einen Trigger (Auslöser) und alles kommt raus. Sprichwörtlich einfach der Tropfen, der das Fass zum überlaufen bringt. Wenn das läuft, dann läufts meistens, bis alles raus ist. Darunter können vielleicht auch positive Emotionen vermischt sein. Ich wette, wenn jeder für sich mal zurück denkt, wird sicherlich jeder schon so einen Punkt erlebt haben. Und in diesem Fall ist es ja gut gelaufen, es hätte wesentlich unpassender sein können. Und selbst diese Erinnerung ist erklärbarer als manch andere, vorstellbare Situation. Auch wenns damals unangenehm war, so ist… Weiterlesen »
Als gelernter Restaurantfachmann, auch gern als Kellner bezeichnet, und das auch noch auf dem Dorfe, da erlebt man so manchen Leichenschmaus, manches verstört einen, manches widert einen an, einiges treibt einem freudentränen in die augen. Trauerfeier mit sektempfang? mit fröhlicher Musik? gibtts nicht? Doch gibts! Seltsam kams mir nur an einem einzigem Tag vor, da waren es drei Trauergesellschaften an einem einzigem Tag. ( war für uns im restaurant auch ein schönes Chaos uns an due termine, der bestatter Friedhöfe und Anzahl der zu erwartenden Gäste anzupassen, was natürlich derb danebenging, ( nein keine feier war versaut, wir hätten lieber lieber gewusst wo wirklich wieviele kommen.) Feier eins Der Klassiker, oma 87 Jahre alt eigentlich immer fit gewesen, Husten Grippe, schnupfen jetzt leider nicht mehr da. War die Nachbarin, die hat sich nur erkundigt was es so kostet, wenn sie sich das und das usw vorstellt. weiter nix es kam erstmal nix weiter wir dachten ernsthaft die hat uns nur gefragt, und bei wem anderem bestellt. ist ja ihre sache. Feier eins hatten wir uns… Weiterlesen »
Man muss sich nicht erklären, wenn man diese deine Geschichten liest, man muss dich einfach lieben. Dafür und für alles.
Liebe Grüße
Llu ♥
„So ist das Leben, einer geht und ein anderer kommt.“
Peter, findest Du das fair?
Erika wurde sicherlich nicht schwanger, um für Hubert einen Ersatz zu schaffen!
Ich habe drei Kinder (Patchwork zwar, aber eines davon in Eigenproduktion) und zwei-einhalb Enkel (das halbe aus der Eigenproduktion entstanden) und ich hoffe, niemals in eine solche Situation wie die Beiden zu kommen.
Soll Erika – aus „Solidarität“ – das „neue“ Kind abtreiben?
Vielleicht denke ich aber zu weit, ich will Dir nichts Negatives unterstellen.
@Hajo:
Aber Erika wusste doch, dass dem kleinen Hubert kein langes Leben vergönnt sein wird. Und ob ein zweites geplantes Kind oder ein „neuer Versuch“ ob der kurzen Lebenserwartung des Erstgeborenen ist doch unerheblich. Und die beiden haben sich gefreut, dass sich ihr erneuter Kinderwunsch erfüllen wird.
Ob fair oder nicht, das Leben ist endlich – einer geht, ein anderer kommt.
@PMK74:
sicher WUSSTE sie um den Zustand von Hubert, aber wollte sie es auch wahrhaben?
Viele Menschen leben doch nach dem Motto: „die Hoffnung stirbt zuletzt“
@Peter Wilhelm
Ich will Dir wirklich nichts Böses unterstellen, der zitierte Satz ist bei mir halt nicht gut angekommen, Interpretation halt (das kommt halt davon, wenn man versucht, selbst/mitzudenken)
@Hajo: Das ist mir bewußt. Ich bin stets nur verantwortlich für das was ich sage, nicht für das, was andere verstehen.
😉
Meine Message war: Mich dauerte es, daß der kleine Junge gehen mußte, weil er noch ein ganzes Leben hätte vor sich haben können. Als Segen empfand ich es, daß seine Mutter nicht ein totes Sternenkind für Jahrzehnte in ihrem Herzen bewegte und sich ewiger Trauer hingab, sondern lieber ein neues, lebendiges Kind bekommen wollte.
@Peter Wilhelm: Test
@Hajo:
Nein, du denkst nicht zu weit, du denkt gefühlsgebeutelt.
An dem Spruch “So ist das Leben, einer geht und ein anderer kommt.” ist nichts rumzudeuteln. Es ist nunmal so, dass welche gehen und andere kommen.
Es kommen aber auch welche, ohne dass andere gehen. Und umgekehrt. Kommt auf den Blinkwinkel an.
Ich kann nicht nachvollziehen, was Du meinst.
Irgendwie scheinst Du in meine Worte etwas hineinzulegen, das da nicht hinein gehört.
@Peter Wilhelm: Ich würde auch sagen, ein Fall für „in den falschen Hals bekommen“… das ist halt das Problem mit dem geschriebenen Wort, da fehlt oft mal die Mimik zum richtigen Verstehen…
Alles in allem Danke „TOM“ !!!
Unfassbar dass man hier sitzt (im Büro), der Gesichtsspringbrunnen ist kurz vorm Platzen und dann kommt ein Satz wie: „schauen mich an, wie wenn ich drei Nasen hab“… das geht doch nicht !!!
… das ist kalkuliertes Gefühlschaos !!!
@Wool: Das stimmt.