Geschichten

Neumond III

Wie unprofessionell ist das denn? Da saß ich die Nacht durch und heulte. Und das alles, nur weil keine 5 Meter von mir entfernt, der Leichnam eines acht Monate alten Kindes im Kühlraum lag?
Ich konnte mir meine Gefühlswallung selbst nicht erklären und als ich am sehr frühen Morgen nach oben in die Wohnung ging, öffnete ich die Türe der beiden Kinderzimmer und schaute lange auf die friedlich schlafenden Kinder.
Wenigstens hatte sich die Allerliebste mal wieder quer ins Bett gerollt und so meine Hälfte etwas mitgewärmt.

Ein Bestatter hat es zu seinem Beruf gemacht, sich um Menschen zu kümmern, die traurig sind. Ich sage es immer wieder, daß es durchaus angemessen ist, angesichts des Verlustes und der Trauer auch eigene Gefühle zu zeigen. Das ist menschlich, völlig natürlich und zeugt von Empathie. Aber man darf die Trauer nicht soweit an sich heranlassen, daß man von ihr übermannt wird. Schließlich wenden sich die Angehörigen hilfesuchend an einen und vertrauen darauf, daß man eben aufgrund der persönlichen Distanz zum Verstorbenen, kluge und überlegte Entscheidungen trifft. a, man trifft oft genug stellvertretend für die Hinterbliebenen Entscheidungen, weil man das Stimmungsbild in sich aufgenommen hat, weil man sondiert hat, in welche Richtung die Wünsche gehen, und weil die Leute einfach selbst dazu nicht in der Lage sind. Wie dem auch sei: Der Bestatter muß einen klaren Kopf bewahren.

Bis heute habe ich keine Erklärung dafür gefunden, warum mich damals der Tod des kleinen Hubert so mitgenommen hat. Er sah meinen eigenen Kindern nicht ähnlich und ich kannte ihn und seine Eltern Klaus und Mausi, die eigentlich Erika hieß, vorher nicht.
Wahrscheinlich war es dieses Bild, das sich mir eingebrannt hatte: Die dunkle Straße, das Junge Paar, nur spärlich von hinten von den Straßenlaternen beschienen und das tote Kind auf den Armen seines Vaters.
Es sah aus, als würden sie das Kind wie ein Opfer darbringen, dabei haben sie es einfach nur zu mir gebracht. Ja, sie haben aus meiner Sicht das Kind zu mir gebracht, aus ihrer Sicht ist das viel schlimmer: Sie haben ihr Kind weggebracht.
Und mit diesem leblosen Körper haben sie viele Hoffnungen und die gemeinsame Zukunft als Familie weggebracht.

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Als ich an diesem Tag, viel später als sonst, runter ins Büro ging, dudelte mir aus dem großen Büro Radiomusik entgegen, ab und zu unterbrochen von zwei superlustigen Gute-Laune-Clowns, denen ich wortlos den Saft abdrehte.
Frau Büser hob nur warnend die Augenbrauen und Sandy und Antonia wußten Bescheid, mit dem Chef ist heute nicht gut Kirschen essen.
Wortlos verkroch ich mich in mein Büro, drückte mich davor, den Computer einzuschalten, wollte mit dem ganzen Tagesgeschäft am liebsten nichts zu tun haben, und vermied alles, was in irgendeiner Form die nächtlichen Ereignisse wieder freigespült hätte.
Doch das gelang mir nur zum Teil, irgendwie kam dieses Bild aus der vergangenen Nacht immer wieder vor mein geistiges Auge.

„Ich bin mal weg!“, rief ich Frau Büser zu und noch bevor sie protestieren und mir einen Stapel Papiere geben konnte, war ich schon verschwunden.
Ich wollte nur eine Stunde spazieren gehen, einfach mal abschalten, einfach mal am Neckar sitzen und den Schiffen zugucken.

Hat jemand eine Ahnung davon, wie viele Leute mit Kinderwagen einem auf einem halben Kilometer begegnen können?

Ich schreibe diese Geschichte auf, nicht weil da am Ende noch eine böse Schwiegermutter kommt oder ein widerborstiger Friedhofsarbeiter, und dann der Bestatter mit irgendeiner Aktion eine glückliche Wendung herbeiführen kann; nein, ich schreibe diese Geschichte auf, weil ich einfach zeigen will, daß gerade in diesem Beruf auch nicht alles Gold ist.

Wie oft haben mich Menschen schon gefragt, wie man so einen Beruf überhaupt ausüben kann. Sie denken dabei an die Leichen, die ja im Bestatterweblog euphemistisch immer „Verstorbener“ heißen.
Viele haben eine Abscheu vor dem Tod, vor Leichen und vor allem was damit zu tun hat. Kann ich ja verstehen. Aber wenn man mal in der Branche tätig ist oder war, dann weiß man, daß die Toten immer noch das geringste Problem sind, die meiste Arbeit und den meisten Ärger machen einem oft genug die Lebenden.
Vor dem, was Leichen manchmal etwas unappetitlich macht, kann man sich weitestgehend schützen, Atemmasken, Handschuhe, Papieroveralls …
Doch wie schützt man sich vor Lebenden, die keinen Respekt haben, die vorlaut und dummdreist sind und die kein bißchen Anstand haben?
Auch solche gibt es nämlich. Und ausgerechnet die bleiben einem in Erinnerung.
Die vielen, die glücklich und zufrieden waren, die einem keine Arbeit machten, die schnell bezahlten und einfach angenehme Kunden waren, die gehen irgendwie unter in der Masse.

Und nie untergegangen in irgendeiner Masse ist dieser kleine Hubert. Der mit dem Sarg, der aussah wie eine kleine Blumeninsel.

„Unser Hubert ist auf einer richtigen kleinen Insel. Ganz allein. Aber er hat eine schöne Insel und auf der kann er jetzt über das Wasser in den Himmel treiben“, sagte Mausi nach der Beerdigung zu mir.
Ich nickte nur stumm.
Klaus meinte noch: „In unserer Kirchengemeinde haben sie uns zugelabert, von wegen Sternenkind und so. Aber was soll mein Kind ein Stern sein oder ein Sternenkind? Was ist das überhaupt? Der Lütte ist tot, das ist Fakt. Wir haben ihn symbolisch auf Blumen und einer Wiese gebettet, das ist eine schöne Vorstellung, aber wir wissen doch auch, daß er in Wirklichkeit da unten in einer Holzkiste liegt.“

Über diese Sätze konnte ich nur staunen und in mir stieg eine Frage auf, die mir das Ehepaar aber beantwortete, ohne daß ich sie stellen mußte. „Ich bin in der neunten Woche!“, verkündete Mausi und griff Klaus‘ Hand etwas fester.

So ist das Leben, einer geht und ein anderer kommt.
Ich begriff, daß ich nur für eine kurze Stippvisite hier bin, keinesfalls als Nabel der Welt, sondern als klitzekleines Atom, und das alles hier nur geliehener Tinnef ist.
Denn alles ringsherum, das gehört immer denen die da gerade heranreifen und dann mit einer, für uns fast befremdlich wirkenden Energie, ins Leben stürmen.

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(©si)