Menschen

Schöne, neue, verantwortungslose Welt

Ein Wohnhaus

Die Gemeinde war in der Zeit der Industrialisierung zu Wohlstand gelangt. Die Bürger konnten sich ein stattliches Rathaus auf dem Hügel hinter dem Kirchenland leisten. Ein Rathaus, schöner als die der umliegenden Städte und Gemeinden und eigentlich viel zu groß für die Belange der Bürger.

Das Kirchenland war eine große landwirtschaftlich genutzte Fläche, die ein Bauer von der Kirche gepachtet hatte. Nun sollte dort, der steigenden Zahl von Einwohnern und der wachsenden Kirchengemeinde geschuldet, eine schöne, neue Kirche gebaut werden. Der Bauer war ein kluger Mann. Er besaß anderenorts große Ackerflächen, auf denen sich Lehm gewinnen ließ. So machte er mit dem Bistum einen Handel.

Ich liefere Euch den für die Ziegel benötigten Lehm kostenlos. Diese großzügige Spende an die Kirche soll man mir nur dadurch vergüten, dass ich später auch den Lehm und die Ziegel für das Pfarrhaus und das Gemeindezentrum gegen Bezahlung liefern darf. Und ich möchte neben der Kirche drei schöne Bauplätze für Wohnhäuser haben. Es sollen schöne Bürgerhäuser mit jeweils drei Wohnungen, stattlichen Fassaden und nicht zu teurem Wohnraum werden.

Werbung

Dank der Ziegelspende konnte die Kirchengemeinde nicht nur die wunderschöne Kirche im gotischen Stil errichten, sondern ihr auch noch den bis heute höchsten Kirchturm der Stadt spendieren, mit Glocken aus einer namhaften Gießerei und einer feinen Orgel, wie sie sonst nur der Bischof in der Nachbarstadt hatte.

Das war 1875. Seitdem hat sich viel geändert. Das einst prosperierende Gemeindeleben der Pfarrei ist wegen der Kirchenferne der Menschen komplett zum Erliegen gekommen. Das Gemeindehaus, einst auch mal Schwesternkonvent, beherbergt heute einen Pflegedienst, im Pastorenhaus haben sich Mönche zu einer Lebensgemeinschaft zusammengetan und die Kirche wird nur noch ab und zu für ihren eigentlichen Zweck genutzt. Die früher einmal fünf Pfarreien werden heute von einem eiligen Pastor notverwaltet, den Kirchenchor, die Ehrengarde und die ganzen Jugendgruppen gibt es alle auch nicht mehr in nennenswertem Umfang.

Was aber geblieben ist, das sind die drei Häuser, die der kluge Bauer einst gebaut und später an seine drei Kinder vermacht hat.

Eines davon kenne ich ganz gut. Drei Wohnungen, jede weit über 100 Quadratmeter groß, mit hohen Decken und Kohleöfen. Die Wohnungen verfügten sogar über Badezimmer. Das waren aber keine Bäder im heutigen Sinne. Vielmehr war es jeweils genau das, was der Name sagte: Ein Zimmer, in dem die Toilette stand und in dem genügend Raum war, um einmal wöchentlich eine Zinkbadewanne mit warmem Wasser zu füllen.
Das war um die Jahrhundertwende zum Ende des 19. Jahrhunderts purer Luxus. Anderswo musste in der Küche gebadet werden, und die Toiletten waren immer „auf halber Treppe“ und man musste sie sich mit anderen Familien teilen.

Einfache Leute bewohnten diese Wohnungen mit ihren Ehegatten und Kindern, reich war da niemand, arm aber auch keiner. Im Zweiten Weltkrieg und danach waren die Wohnungen jeweils in zwei Wohneinheiten aufgeteilt, um Ausgebombten und Flüchtlingen zusätzlichen Wohnraum bieten zu können.

Ab den 1960er Jahren erfuhren die Wohnungen durchgehende Renovierungen und Verbesserungen, meist ausgeführt von den Mietern. Bäder wurden eingebaut, so richtig mit fließend warmem Wasser und Kacheln an den Wänden. Elektroherde hielten in den Küchen Einzug. Die Besitzer hielten sich zurück. Das war auch gut so, denn sie blieben auch, was Mieterhöhungen anbetraf, auf dem Teppich.

Ab den 1980er-Jahren gab es dann mal größere Sanierungen: Neue, isolierte Fenster, der Einbau von modernen Heizungen und neue Dächer werteten die Häuser auf.

Auch die Mieten der Häuser neben der Kirche wurden aufgewertet. Mit dem Haus, von dem ich hier erzähle, dürften die Vermieter, alles Nachkommen des klugen Bauern, alles in allem und inflationsbereinigt anderthalb Millionen Euro eingenommen haben. An Investitionen und Reparaturen sind in den 150 Jahren ca. 200.000 Euro nach heutigem Geld zurückgeflossen.

Am eindrucksvollsten wirkt der Blick rückwärts: Allein zwischen 2000 und 2025 flossen rund so viele Mieteinnahmen wie in den kompletten 125 Jahren zuvor zusammen. Mit anderen Worten: Mehr als die Hälfte der gesamten, über eine Million Euro umfassenden Mietsummen ist erst im aktuellen Jahrtausend entstanden.

Und das steigern die aktuellen Besitzer aktuell bis in die Perversion hinein.

Es ist in dem Haus nämlich mal wieder jemand gestorben. Diesmal ist es aber nicht, wie es früher immer so war, ein alter Mann oder ein hochbetagtes Mütterchen, sondern ein 32-jähriger Bulgare.
Der bewohnt die oberste Wohnung mit elf weiteren Landsleuten zusammen. Sie arbeiten alle für ein Unternehmen, das den Menschen online bestellte Sachen über Nacht ins Haus liefert.
Dazu hat jeder dieser Bulgaren einen weißen Sprinter-Lieferwagen; und alle diese Sprinter stehen unten in der Straße und sorgen für andauernden Ärger bei den anderen Anwohnern, die keine Parkplätze mehr finden.

Der Vermieter hat aus dieser Wohnung, in der über Generationen ganz viele Familien gewohnt haben, eine Monteurswohnung gemacht. Jeder Handwerker, Monteur oder Lieferfahrer, der dort wohnt, zahlt 27 Euro pro Nacht dafür. Da kommt einiges zusammen. Wegen der guten Lage und des großzügigen Schnitts der Wohnung fühlen sich die Männer dort wohl. Die Vermieter, ein Paar Mitte 40, das in Berlin lebt, erzielen fast das Achtfache, als wenn sie die Wohnung ganz normal an eine Familie vermieten würden. Statt 12 x 1.200 Euro, die aktuell als Wohnungsmieteinnahme zu erzielen wären, nehmen die Berliner nun über 100.000 Euro im Jahr ein.

Doch die Bulgaren, auf die wir treffen, und die gerne möchten, dass der Verstorbene später von einem anderen Bestatter in die Heimat überführt wird, klagen darüber, dass sie bald ausziehen müssen.

Das Paar aus Berlin hat nämlich die anderen beiden Wohnungen im Haus bereits zu Luft-BnB-Wohnungen gemacht. Nach einer Luxussanierung für jeweils 70.000 Euro stehen die Wohnungen jetzt in sechs verschiedenen Online-Portalen für die Kurzzeitanmietung zur Verfügung. Die gute Lage, der gebotene Komfort und die allgemein herrschende Wohnungsnot sorgen für eine durchschnittliche Auslastung von sehr guten 70 %.
Darüber freuen sich die Besitzer, denn die Mieteinnahmen des zum „Objekt“ verkommenen, ehemaligen Lebensmittelpunktes von Familien, liegen nun bei über 350.000 Euro im Jahr.

Typische Mietgäste solcher hochwertigen Kurzzeit-Apartments sind weniger klassische Urlaubstouristen, sondern eher Geschäftsreisende, Projektteams großer Unternehmen, Monteure in leitender Funktion, Film- und Veranstaltungsteams, Messebesucher, Außendienstmitarbeiter oder Personen, die vorübergehend in einer Stadt arbeiten und keine langfristige Wohnung finden oder wollen. Auch Menschen, die wegen einer Trennung, Renovierung oder eines Hauskaufs überbrücken müssen, nutzen solche Unterkünfte zunehmend.

Warum zahlt man dafür die hohen Tagespreise? Weil Flexibilität, Komfort und sofortige Verfügbarkeit einen eigenen Wert haben. Keine Kaution, kein Mietvertrag, keine Möbelbeschaffung, keine Nebenkostenabrechnung – man kommt mit dem Koffer rein und wohnt. Für Unternehmen ist es oft günstiger, mehrere Wochen eine solche Wohnung zu buchen, als Hotelzimmer zu finanzieren, und Mitarbeiter fühlen sich in einer kompletten Wohnung wohler und produktiver als im Hotelzimmer. Kurz gesagt: Man zahlt den Preis für Freiheit, für Zeitersparnis und dafür, keine langfristigen Verpflichtungen eingehen zu müssen.

Du buchst übers Netz, kriegst Deinen „Key“ als Code aufs Handy, wohnst und hast mit nichts und niemandem etwas zu tun.

65-Zoll-Fernseher, schnelles WLAN überall und eine Badewanne mit Sprudeldüsen, sowie ein paar designte Kisten als sogenannte „Wohnwand“, sowie Küchengeräte von Kitchenaid und Ninja gelten ja heute als Luxus-Standard.

Ein Hausmeisterservice und „Linas flotte Putzmäuse“ sorgen dafür, dass immer alles funktioniert und sauber ist.

Und die Besitzer? Die nehmen heutzutage in 3 Jahren soviel ein, wie die Generationen vor ihnen in 150 Jahren…

Ich kann dieser schönen, neuen Welt nichts abgewinnen. Ich fand es schöner, als Wohnungen noch 25 Jahre oder länger von einer Familie bewohnt wurden.
Wo sollen denn die Familien mit Kindern hin, wenn immer mehr Wohnungen, dem normalen Wohnungsmarkt entzogen werden?
Wohin sollen die Mieten für normale Wohnungen noch steigen, wenn Vermieter auf der anderen Seite solche Verdienstmöglichkeiten sehen?

Sind die Vermieter solcher Objekte böse? Oder sind sie nur verantwortungslos?

Bildquellen:

  • airbnb_800x500: Peter Wilhelm

Hashtags:

Ich habe zur besseren Orientierung noch einmal die wichtigsten Schlagwörter (Hashtags) dieses Artikels zusammengestellt:

#Airbnb statt Familienvermietung #Airbnb Vermietung #Altbauwohnung #Einnahmen durch Monteurzimmer berechnen #Folgen von Kurzzeitvermietung für Familien #Gentrifizierung #Kurzzeitmiete lukrativer als Dauervermietung #Kurzzeitvermietung #Mieteinnahmen #Mietentwicklung im historischen Kontext #Mietpreise #Mietsteigerung Altbau 1875 bis heute #Monteurswohnung #Problem der Wohnungsnot durch Airbnb #Smart-Living Vermietung #Vergleich Airbnb vs. normale Vermietung #Wohlstand durch Industrialisierung und Wohnungsbau #Wohnraumverlust durch Ferienwohnungen #Wohnungsmarkt #Wohnungsnot

Lesezeit ca.: 10 Minuten | Tippfehler melden


Das Bestatterweblog informiert und unterhält – ganz ohne Google- oder Amazon-Werbung

1,4 Millionen Besucher im Jahr, aber nur etwa 15 spenden. Dabei kostet der Betrieb rund 20.000 € jährlich. Wurde Dir hier schon geholfen? Hattest Du etwas zu lachen? Dann sei eine der seltenen Ausnahmen und gib etwas zurück. Schon 5 € – der Preis einer Tasse Kaffee – helfen weiter. Vielen Dank!




Lesen Sie doch auch:


(©si)