Sterben + Trauer

Schweigepflicht in der Hospizarbeit

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Wenn ich eine neue Begleitung antrete, weiß ich nie so genau, wie es laufen wird. Ich kenne die Person ja noch nicht, habe erst einmal nur ein paar gesundheitliche und biografische Informationen. Ich weiß noch nicht, ob wir uns sympathisch sind und ob ich herausfinde, wie ich der Person etwas Gutes tun kann. Ich weiß noch nicht, in welchem Zustand ich sie im Detail vorfinde. Und ich weiß nicht, wie sie auf mich reagieren wird. Das sorgt immer für ein bisschen Nervosität, obwohl ich weiß, dass sich die Dinge schon fügen. Trotzdem: Der erste Besuch ist einfach immer ein bisschen aufregend.

Dieser erste Besuch war jedoch spektakulärer als andere. Ich sollte Frau Lambrecht begleiten, die stark dement im Pflegeheim lebte. Ihr Sohn hatte den Auftrag gegeben, weil er für zwei Wochen in Urlaub fuhr und in dieser Zeit nicht auf seine Mutter schauen konnte. Naja, und weil er eigentlich auch danach Unterstützung brauchte. Als ich die Demenzstation im Pflegeheim betrat, herrschte dort einiger Trubel. Eine alte Frau lag im Gemeinschaftsraum in ihrem vergitterten Bett und rief, man müsse ihr aufhelfen und sie würde hier gefangengehalten. Und eine jüngere Frau stand daneben und keifte das Pflegepersonal an, sie würde etwas gegen diese Zustände hier unternehmen und den Stadtrat oder am besten gleich die Bildzeitung informieren. Sie kenne die Frau und ihr würde es sonst nie so schlecht gehen und das sei ja ganz eindeutig die Schuld der Pflege hier. Ich schob mich freundlich lächelnd an der unangenehmen Szene vorbei und fragte einen unbeteiligten Pfleger, wo ich denn Frau Lambrecht finden könne. Nun ja, ihr habt es euch vielleicht schon gedacht: Frau Lambrecht war die schreiende Frau im Bett.

Frau Lambrechts frühere Nachbarin – oder so ähnlich

Kaum näherte ich mich dem Bett, wurde ich von der jüngeren Frau in Beschlag genommen. Ob ich denn schon gesehen hätte, wie schlimm die Zustände hier seien? Dass man die arme Frau hier so schlimm behandeln würde, dass sie hier so schreien müsse! Tatsächlich schrie sie selbst viel mehr als die alte Dame. Die hatte sich nämlich unter den sanften Worten einer Pflegekraft schon wieder halbwegs beruhigt. Und, ganz ehrlich: Ich kannte das Pflegeheim schon eine ganze Weile. Es ist nun wirklich nicht dafür bekannt, Menschen schlecht zu behandeln. Trotzdem: Die keifende Frau ließ sich nicht beruhigen. Sie verlangte, vom Pflegepersonal umfassend über die gesundheitlichen Probleme und die geplanten medizinischen Maßnahmen aufs Laufende gebracht zu werden, denn so könne das hier ja nun nicht gehen.

Werbung

Es dauerte eine ganze Weile, bis ich verstanden hatte, wer sie überhaupt war. Es handelte sich um Frau Dahnke, eine frühere Nachbarin der Schwester von Frau Lambrecht, sagte sie mir. Sie kenne sie also sehr gut, schon seit Jahrzehnten, und SO habe sie sich noch nie aufgeführt. Sie selbst sei gar nicht wegen Frau Lambrecht hier, sondern wegen Herrn Rose, den sie auch aus ihrer früheren Nachbarschaft kenne, allerdings aus einer anderen Straße. Es müsse ja schließlich mal jemand nach dem Rechten sehen, hier bei den alten Leuten im Heim. Eine Pflegekraft neben mir seufzte fast unhörbar. Völlig absurd war für Frau Dahnke vor allem die Tatsache, dass sie vom Pflegepersonal hier nicht umfassend informiert wurde. „Da sieht man doch, was das für Zustände sind, die haben doch was zu verbergen!“

Ich konnte sie schließlich beruhigen, indem ich versicherte, dass ich mich ausgiebig informieren und dann um Frau Lambrecht kümmern würde. Immer noch meckernd zog sie ab, zum armen Herrn Rose wahrscheinlich. Und ich konnte mich im Personalzimmer mit der Pflegedienstleistung besprechen, was hier eigentlich los war.

Hospizbegleiter*innen und die Schweigepflicht

Dass ich Infos über Frau Lambrecht bekomme und Frau Dahnke nicht, hat seine Richtigkeit. Denn natürlich muss sich das Pflegepersonal an die Schweigepflicht halten. Da kann nicht einfach die Nachbarin von wem-auch-immer hereinschneien und persönliche Informationen über den Gesundheitszustand verlangen. Bei mir als Hospizbegleiterin ist das anders. Ich muss für die Begleitung einiges über die Patient*innen wissen. Sonst wäre es zum Beispiel gar nicht möglich, mich zu informieren, wenn sich der Zustand verschlechtert. Und auch für die Begleitung selbst braucht es den Austausch mit dem Pflegepersonal. Deshalb ist eine Hospizbegleitung nur möglich, wenn die*der Patient*in (oder die Angehörigen) eine Schweigepflichtsentbindung für die*den Hospizbegleiter*in unterschreibt. Das bedeutet: Ich darf von den Ärzt*innen und dem Pflegepersonal über gesundheitliche Details informiert werden. Es heißt aber natürlich auch: Ich habe umgekehrt wieder die Schweigepflicht anderen gegenüber. Auch von mir wird also die Nachbarin-der-Schwester nicht genauer informiert werden. Aber das wusste sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

Was mit Frau Lambrecht los war

Wie schon erwähnt, war Frau Lambrecht schwer dement. Das kann sich ganz unterschiedlich äußern. Manche Patient*innen sitzen den Großteil des Tages freundlich lächelnd herum, andere haben hohe Weglauftendenzen, wieder andere sind einfach nur verwirrt. Das ist abhängig von der Art und Schwere der Erkrankung, von der Persönlichkeit, von der Tagesform und wahrscheinlich auch von Glück und Zufall. Bei Frau Lambrecht hatte sich der Zustand in den letzten Tagen verschlechtert und die Verwirrung zugenommen. Grund war vermutlich der Urlaub ihres Sohnes. Normalerweise kam er nämlich täglich nach der Arbeit, um ihr beim Abendessen zu helfen. Natürlich hatte er ihr von seinem Urlaub erzählt, sehr häufig sogar. Aber Frau Lambrecht mit ihren 96 Jahren und ihrer fortgeschrittenen Demenz hatte das nicht mehr richtig mitbekommen. Dass etwas anders war und ihr „Klausi“ nicht mehr kam, dagegen schon. Und dann war ihr an diesem Tag noch die renitente Frau Dahnke begegnet, die auf ihr Jammern stark reagiert und sie damit noch mehr aufgeregt hatte. So etwas ist blöd und schwierig für alle Beteiligten, hat aber überhaupt nichts zu tun mit Vernachlässigung oder irgendwelchen anderen Verfehlungen im Heim.

Ich konnte mich dann mit etwas Verspätung der inzwischen viel ruhigeren Frau Lambrecht vorstellen und habe sie in den neun Monaten der Begleitung auch nie wieder in einem solchen Zustand erlebt. Frau Dahnke war übrigens schwer beleidigt, als sie feststellte, dass ich jetzt zwar Bescheid wusste, sie aber auch nicht informierte. Ich bin ihr in den Monaten darauf noch ein paarmal begegnet und wurde immer böse angefunkelt.

Und wie passt das Bloggen mit der Schweigepflicht zusammen?

Ich darf anderen nicht erzählen, bei wem ich in der Begleitung bin oder was ich dort erlebe. Das ist auch gut so. Kaum etwas ist intimer als das Sterben und es muss sichergestellt werden, dass die Privatsphäre der Betroffenen gewahrt bleibt. Deshalb sind hier in den Blogbeiträgen die Namen und auch manche Umstände so verändert, dass niemand Rückschlüsse auf die tatsächlichen Personen ziehen kann. Aber das war euch sicher sowieso schon klar 🙂

Bildquellen:

    Hashtags:

    Ich habe zur besseren Orientierung noch einmal die wichtigsten Schlagwörter (Hashtags) dieses Artikels zusammengestellt:

    Keine Schlagwörter vorhanden

    Lesezeit ca.: 8 Minuten | Tippfehler melden


    Hilfeaufruf vom Bestatterweblog

    Das Bestatterweblog leistet wertvolle Arbeit und bietet gute Unterhaltung. Heute bitte ich um Deine Hilfe. Die Kosten für das Blog betragen 2025 voraussichtlich 21.840 €. Das Blog ist frei von Google- oder Amazon-Werbung. Bitte beschenke mich doch mit einer Spende, damit das Bestatterweblog auch weiterhin kosten- und werbefrei bleiben kann. Vielen Dank!




    Lesen Sie doch auch:


    (©si)