Allgemein

Thure darf keine Leiche sehen

Thure ist keine Krankheit, so heißt ein Junge der mit meinem Sohn in der selben Klasse ist. Mit Thure spielt kein anderes Kind aus meines Sohnes Freundeskreis, denn Thure ist ein MOF.
Ein MOF? Ja, das ist die Abkürzung der Pubertierenden für einen „Mensch ohne Freunde“ und zum MOF wird man nicht, weil die anderen Kinder einen nicht mögen, sondern weil man selbst andere Kinder nicht mag. Thures Eltern wohnen in der Parallelstraße in einem der drei blauen Holzhäuser, die aussehen als habe der Architekt eine krankhafte Vorliebe für japanische Vogelhäuser aus blauen Holzlatten entwickelt. Auf den silbernen Tonnendächern aus Metall funkeln Solarflächen und die ganze Häuserbatterie hat eher etwas von einem Industriekomplex, als von gemütlichen Wohneinheiten.

Viel Geld haben die Familien bezahlt, um in diese „Niedrigenergiehäuser in familiengerechtem Umfeld“ einziehen zu können. Einen Blödsinn nennt das Herr Nasweis-Lästig, unser Nachbar hintenraus, der wiederum vorneraus genau auf diese Häuser gucken muß: „Die haben nichtmal einen Keller, so ein Unfug. Deshalb stehen rund um die Häuser auch diese ganzen Schuppen und Holzlauben, damit die ihren Mist irgendwo unterbringen können. Wir hätten sowas früher gar nicht genehmigt.“

Thures Vater hat den Nachnamen seiner Frau angenommen und die heißt so wie ihr Stiefvater aus zweiter oder dritter Ehe ihrer Mutter, oder so. Jedenfalls weiß eigentlich keiner so genau, wie jetzt Thure mit Nachnamen heißt. Thure geht nachmittags zum esoterischen Nasenflötenunterricht und spielt nur mit den Kindern aus den anderen beiden blauen Lattenbauten, die aber fast zehn Jahre jünger sind.

Werbung

Thure ist eine Geißel Gottes. Er macht nie das was seine Eltern ihm sagen, tut prinzipiell das Gegenteil von dem was Mama Loregunde ihm sagt und sein Vater grinst dümmlich dazu. „Wir diskutieren das alles mit Thure aus“, sagte mir Loregunde als sich Thure eines Tages mit seinem hölzernen Sigikid-Gefährt, für das er eigentlich viel zu groß ist, quer vor ein Auto geworfen hat. „Den Hinter muß der voll kriegen“, forderte der LKW-Fahrer, der schweißgebadet aus seinem Führerstand geklettert war und der nur durch ein waghalsiges Bremsmanöver das Leben des Kindes gerettet hatte: „Da fährt man schon fast Schrittempo und dann fahren die Kröten einem voll vor den Wagen!“
Thures Vater grinst nur und Loregunde nennt den Trucker einen Mörder.

Ich kann die Leute nicht sonderlich leiden, vor allem weil Thures Vater alle Nase lang mit irgendeinem Zettel bei mir steht und möchte, daß ich da für oder gegen irgendetwas unterschreibe. Kaum eine Woche vergeht, ohne daß er irgendeine Initiative gegründet hat. Gegen Polystyrol, gegen Zink-Kohle-Batterien, für Energiesparlampen, für die Abschaffung von LKWs in seiner Straße, gegen die Gewerbebetriebe ringsherum und für ein Flugverbot über seinem Haus, gegen den Handymast in unserer Straße und gegen das Läuten der Kirchenglocken, für die Schaffung einer Moschee im ehemaligen Getränkelager und gegen Sahne in Windbeuteln.

Nun ruft Loregunde bei uns an. Sie müsse mal mit uns reden, so gehe das ja schließlich nicht, das seien ja keine Zustände. Sie habe mit unserem Sohn gesprochen und dabei herausgefunden, daß wir für die großen Ferien ja überhaupt kein Programm für die Kinder geplant haben. Das sei ja in höchstem Maße unverantwortlich und würde ihren Eindruck, bei uns würde es sich um autoritäre Rabeneltern handeln, nur noch bestärken.
Jetzt muß man wissen, daß unsere Kinder die ersten zwei Wochen mit der einen Oma in Kroatien in Urlaub waren, dann zwei Wochen daheim bei uns zugebracht haben und anschließend mit der anderen Oma einen Urlaub auf dem Bauernhof an der französischen Grenze verlebt haben. Ich finde, daß Kinder, die vier Wochen fürstlich verreist waren, urlaubstechnisch bestens versorgt sind.
Wenn die dann zu Hause sind, müssen die Eltern nicht auch noch ein 24-Stunden-Animationsprogramm veranstalten. Unsere Kinder sind in den Ferien immer unterwegs, die haben viele Freunde und sind eben keine MOFs.

Nein, sie habe gesehen, daß unser Großer ständig Hausarbeiten machen muß, sein eigenes Zimmer aufräumen, Betten abziehen und Müll raustragen und die Kleine gehe immer mit unserer Firmenpost zur Postfiliale und müsse sogar einkaufen gehen. Das sei ja unverantwortlich, schließlich seien Kinder keine Sklaven, sondern ein Geschenk, unsere Zukunft und das Wertvollste was man so hat.
Ich weiß gar nicht was die Frau von mir will. Will sie mir jetzt erklären, wie ich meine Kinder zu erziehen habe, oder was?
Es ist doch ganz normal, daß Kinder innerhalb der Gemeinschaft in der sie leben auch bestimmte Aufgaben wahrnehmen und bestimmte Bereiche der Verantwortung haben.
Nein, es sei die Aufgabe der Eltern, von den Kindern alles fernzuhalten und nicht denen auch noch Sachen aufzubürden.
Aha.

„Warum gehen Sie nicht mal mit den Kindern ins „Chill out“?“

Oh je! Das Chill-Out ist so eine ehemalige Tennishalle, in der ein findiger Geschäftsmann lauter Trampoline und Hüpfburgen aufgebaut hat, da können sich Kinder für 8 Euro austoben. Ganz beliebt ist es auf einmal, alle Kindergeburtstage dort abzuhalten. Beinahe ein Dutzend mal pro Jahr geht jedes unserer Kinder zu irgendeinem Kindergeburtstag ins Chill-Out. Das war mal ein Highlight für die Kinder, aber inzwischen ist der Große fast zu groß dafür und die Kleine kriegt von den Turnmatten immer lauter kleine Pickel.
„Sie könnten aber auch mal in den Vogelpark fahren“, das wär‘ doch mal was für ihre Kinder.

„Wieso meinen Sie, Sie müssten mir Vorschläge unterbreiten, wie und was ich mit meinen Kindern unternehmen soll.“

„Damit die nicht immer nur einkaufen gehen müssen und aufräumen müssen.“

„Die wollen doch auch essen und die machen doch auch die Unordnung.“

„Das kann doch aber nicht wirklich ihre Meinung sein, so als verantwortlicher Vater.“

„Doch. Ich finde, wer sich an den Tisch setzen will und erwartet, daß immer was zum Essen draufsteht, der kann auch mal in den Supermarkt gehen und Zeug einkaufen oder hinterher das Geschirr in die Spülmaschine räumen.“

„Unverantwortlich!“

„Finden Sie?“

„Jawohl! Thure hat es da besser. Ich mach’mir halt Gedanken, weil Ihre Kinder es nicht so gut haben. Sie haben sich ja in den Ferien gar nicht um die gekümmert.“

„Wieso, ist eins von denen verhungert?“

„Was?“

„Ja, ich meine, haben Sie irgendwas festgestellt? Ist uns eins abhanden gekommen, ist eins verwahrlost, ist eins verhungert?“

„Das wissen Sie nicht?“

„Nö, ich meine zwar, daß die alle vollzählig sind, aber ganz sicher bin ich mir nicht. Wissen Sie, die gehen morgens weg, rufen kurz ‚Tschüß‘ und kommen abends erst wieder.“

„Meine Güte!“

„Was denken Sie denn? Ich glaub‘ die spielen sogar im Dreck.“

„Das wird ja immer schöner!“

Ich breche hier ab, der Dialog ließe sich endlos so fortsetzen, Thuremama hat eben vollkommen andere Ansichten als wir.
Allerdings käme ich nicht auf die Idee, bei Thurepapa anzurufen und ihm Vorschläge für die Erziehung und Freizeitgestaltung seiner Kinder zu machen.

Jetzt ist im mittleren blauen Lattenbau jemand gestorben. Die hatten einen Opa von dem niemand was wußte. Der konnte schon lange nicht mehr aus dem Haus, war zwischendurch auch mal im Heim und ist jetzt gestorben. Die Leute rufen bei uns an, wir möchten den Toten doch bitte abholen, aber ja nicht vor 22 Uhr, denn erst dann seien die Kinder im Bett.
Antonia weist darauf hin, daß unsere Leute immer sehr diskret sind, aber die Leute beharren auf dem späten Abholungstermin.
Thures Mutter ruft auch an. Sie habe davon gehört und 23 Uhr sei ihrer Meinung nach noch viel besser, denn dann sei auch Thure in der Heia und mache Bubu. (Heia und Bubu ist Originalton.)

Leute, Thure geht mit meinem Sohn in eine Klasse und mein Sohn ist 15.
Das Sterben gehört zum Leben ganz normal dazu, es ist vielleicht für mich als Bestatter etwas normaler als für andere Leute, aber es ist dennoch etwas völlig Normales. Eine Leiche gehört zu unserem menschlichen Leben, wir werden alle mal so enden (ja, ich weiß: außer Johannes Heesters, den wird Simone ausstopfen lassen, wenn er es denn nicht schon längst ist).

Da kann es so gefährlich für ein Kind, genauergesagt für einen 15jährigen Jugendlichen, der in drei Jahren wählen gehen darf, gar nicht sein, würde er mal einen toten Opa sehen.
Es geht hier ja nicht um eine aufgeschlitzte Frauenleiche aus den Fängen eines Serienkillers, sondern um einen 87jährigen Greis, der einfach am Ende seines Lebens angekommen ist.

Mein Sohn hat schon häufiger Leichen gesehen, das bleibt in einer Familie mit Bestattungsunternehmen nicht aus. Er spielt auch so ein Spiel auf dem PC wo er Autos klauen, frisieren und aufmotzen muß und wo es dazugehört, andere Leute über den Haufen zu fahren. Ich sag’s nochmal: Der hat in seinem Leben vermutlich schon mehr Menschen umgebracht (virtuell natürlich) als ich es jemals tun werde.
(Und für die, die diesen Satz auch beim zweiten Mal nicht verstehen: Ich habe noch nie jemanden umgebracht und habe es auch nicht vor; dennoch ist dieser Satz logisch und richtig, beherbergt keine Absichtserklärung, sondern geht einfach von ‚Eins ist mehr als Null‘ aus.)
Virtuelle Leichen sind natürlich was anderes als echte. Jeder weiß, daß die Leichen im Tatort nur Schauspieler sind, die hinterher wieder aufstehen, aber jeder weiß doch auch, daß richtige Leichen das nicht tun.
Wir haben früher Cowboy und Indianer gespielt und uns gegenseitig mit Erbsenpistolen erschossen, gemartert, skalpiert, gehäutet und den anderen sogar die Squaws entführt (obwohl wir gar nicht wußten, was man dann mit denen hätte anstellen sollen, aber wir hatten für die Mädchen in unseren Banden keine andere Verwendung, ihnen fiel immer wieder die Rolle der Prinzessinnen oder zu entführenden Squaws zu.).
Trotzdem kannten wir den Unterschied zwischen einer Leiche, die mit Saft aus irgendwelchen (vermutlich giftigen) Beeren blutig gemacht worden war und der toten Frau Krause.
Die war drei Tage zu Hause aufgebahrt und man hat uns auch gesagt, daß wir da nicht gucken gehen sollen. Aber unsere Eltern haben das nicht gesagt, weil sie schlimmen Schaden befürchteten, wenn wir die Leiche der Frau Krause sehen würden, sondern weil sie befürchteten, wir könnten die Andacht und Trauer stören, wenn wir da durchs Wohnzimmerfenster guckten.
Wir haben trotzdem geguckt, sonst wären wir keine echten Kinder gewesen.
Wir haben auch Dreck gefressen, Wasser aus irgendwelchen Bachläufen getrunken, Essen aus Blättern und Würmern ‚gekocht‘ und: Wir leben immer noch, ohne Allergien.
Vor allem haben wir nicht erwartet, daß unsere Eltern den ganzen Tag um uns herumhüpfen und den großen Beschützer spielten. Haben wir von anderen den Hintern vollgekriegt, dann gab es zu Hause noch ein paar dazu, egal wofür, es kann ja nicht schaden. Wildfremde Väter haben uns den Hosenboden gegerbt und keiner hat sie wegen Körperverletzung angezeigt. Sogar der Pfarrer und der Schutzmann durften uns eine kleben, wenn wir Fensterscheiben eingeworfen hatten und nichts ist passiert.
Wir haben keinen Schaden erlitten, liegen nachts nicht wach und brauchen keinen Psychiater.
Müßte ich noch einmal Kind sein, dann lieber wieder in den 60ern und bitte ohne Nasenflötenunterricht und eine Mutter wie Thuremama.

Hashtags:

Ich habe zur besseren Orientierung noch einmal die wichtigsten Schlagwörter (Hashtags) dieses Artikels zusammengestellt:

Keine Schlagwörter vorhanden

Lesezeit ca.: 13 Minuten | Tippfehler melden | Revision:


Hilfeaufruf vom Bestatterweblog

Das Bestatterweblog leistet wertvolle Arbeit und bietet gute Unterhaltung. Heute bitte ich um Deine Hilfe. Die Kosten für das Blog betragen 2025 voraussichtlich 21.840 €. Das Blog ist frei von Google- oder Amazon-Werbung. Bitte beschenke mich doch mit einer Spende, damit das Bestatterweblog auch weiterhin kosten- und werbefrei bleiben kann. Vielen Dank!




Lesen Sie doch auch:


(©si)