Mitarbeiter/Firma

Tinnitus

„Du Chef, wie heißt das, wenn’s einem im Ohr so pfeift?“ fragt mich Sandy, bohrt mit einem ihrer langen Finger im rechten Ohr und schüttelt den Kopf, so als habe sie Wasser im Ohr.
Ich schaue sie nur etwas verständnislos an und schon kommt aus dem Büro gegenüber, wo man ihre Frage auch hören konnte, die Antwort von Antonia: „Tyrannus!“

„Was ist los?“ frage ich und Sandy legt den Kopf auf die andere Seite und schüttelt ihn wieder: „Wenn’s so im Ohr pfeift, das ist doch irgendeine Krankheit, oder? Bei mir pfeift es.“

„Das weiß ich.“

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„Ach komm, mach jetzt keinen Scheiß, sag doch mal, was ist das wenn’s so pfeift?“

„Tinnitus.“

„Ehrlich?“

„Keine Ahnung, aber Leute die so ein Dauerpfeifen oder Klingeln in den Ohren haben, die haben oft Tinnitus.“

„Und was soll ich jetzt machen?“

„Normalerweise geht so ein Ohrgeräusch von alleine wieder weg. Das hat doch jeder mal.“

„Ja, jetzt ist es ja auch gerade wieder weg.“

„Dann ist es ja gut.“

Sandy ist nicht so ganz befriedigt, sie hatte sich mehr medizinische Hilfe versprochen und geht mit vorgeschobener Schmoll-Lippe wieder in ihren kühlen Keller.
Kurz darauf ist sie wieder da: „Chef, jetzt hat’s wieder gepfiffen, so ein ganz hohes Pfeifen, ich werde bald verrückt.“

„Du hast ’nen Knall“, lautet mein Kommentar, denn unser amerikanisches Frauenwunder leidet immer ganz besonders und jeden Tag an was Neuem. Mal sind es so gravierende Verletzungen wie ein abgebrochener Fingernagel, mal ist es Spliss an den Haarspitzen und wenn es ganz hart kommt, stirbt Sandy so zwei, drei Tage an einer Blase am Fuß leidend vor sich hin.

Ich messe also ihrem Kopfpfeifen keine besondere Bedeutung bei und wende mich wichtigeren Dingen zu. Ich versuche nämlich gerade aus einer alten 9-Volt-Blockbatterie und einigen Büroklammern die Lösung für das Weltenergieproblem zu basteln.

Etwa zehn Minuten später steht Antonia an der Tür und sagt: „Die Sandy hat Recht! Da unten kriegt man das Pfeifen im Ohr. Ich hab das jetzt auch.“

Gut, ich unterbreche die Ausübung meiner Ingenieurskünste und erhebe mich in aller Allmacht aus meinem bequemen Sessel. Gemeinsam mit Frau Büser und mit Antonia im Schlepptau begebe ich mich in den Keller. Unterwegs stoßen Manni und ein weiterer Fahrer dazu und so sind wir mit Sandy insgesamt sechs Leute, die nun unten im Keller stehen und andauernd „Pscht“ machen. Jeder will ganz genau hören und jeder fühlt sich durch die anderen beim Lauschen gestört. „Pschschscht!“

Eins ist klar, Sandy hat keinen Tinnitus, sondern irgendein Gerät da unten pfeift, das ist mir klar geworden, als sich Antonia bei ihrem kurzen Aufenthalt im Keller unverzüglich mit dem Kopfpfeifen „infiziert“ hat.

Endlich ist es ruhig, man könnte unsere Herzschläge und Antonias Verbrennung hören, doch man hört nur das Gluckern aus den Rohren der Kühlanlage. Von einem Pfeifen keine Spur.

Wir gehen auf Zehenspitzen herum, spitzen außer den Zehen auch die Ohren und auf einmal sagt Frau Büser: „Pssssst! Ich hör‘ was!“

Ich höre nix, Manni hört nix, doch Antonia und Sandy, die Frau Büser auf dem Fuße gefolgt sind, stimmen ihr zu. Ja, da wäre was, man könne es ganz genau hören.
Es käme aus dem Präparationsraum, jenem gekachelten Raum mit Edelstahlinterieur, in dem wir die Verstorbenen hygienisch versorgen, herrichten und einkleiden.
Außer Herrn Wagenmacher (89, Herz), der da ebenso friedlich wie tot in seinem besten schwarzen Anzug vor sich hin liegt, ist da nichts und niemand, alle Geräte sind abgeschaltet.
Doch tatsächlich, wenn man sich eine Weile in dem Raum aufhält, hat man auf einmal ein ganz hohes, kaum wahrnehmbares Dauerpiepsen im Ohr. Wo kommt das denn her?

Manni tippt auf die Neonröhren, die würden so was manchmal machen, der Fahrer meint, das sei irgendein Handy und Antonia macht eine beschwörende Handbewegung und glaubt, das sei so was wie eine Geisterbotschaft und sie komme vom alten Wagenmacher (89, immer noch Herz).

Damit könnte sie Recht haben, denn nun höre ich es auch ganz deutlich, irgendwie bringt es der kalte, alte Mann fertig ganz hoch zu piepsen.

„Das kommt aus dem raus!“ sagt Frau Büser, schlägt die Hände vors Gesicht und weicht drei, vier Schritte zurück, Antonia folgt ihr vorsichtshalber und reibt sich die feucht gewordenen Hände.

„Quatsch“, sage ich, „so etwas gibt’s doch gar nicht. Tote piepsen nicht.“

„Handy, ich sach‘ bloß mal Handy“, meldet sich der Fahrer zu Wort und schon hat Manni ein Paar Gummihandschuhe an und beginnt Herrn Wagenmacher (immer noch 89 und herztot) zu untersuchen. In den Innentaschen hat er nichts, in den Jackentaschen auch nicht, die Hosentaschen sind schnell abgeklopft: nichts!

Es pfeift weiter, kaum wahrnehmbar, mal meint man es sei weg, dann hört man es wieder…

Manni will sich die Handschuhe schon wieder ausziehen, da macht er „Ah!“ und geht hin und untersucht auch die kleine Tasche für das Einstecktuch vorne auf der Brust des Anzugs. Und siehe da: In der Tasche findet sich ein kleiner, schwarzer Gegenstand von der Größe eines Lippenstifts. Schwarzes Plastik mit sechs oder sieben kleinen Löchern auf der Oberseite.
Und eindeutig – das Piepsen kommt aus diesem Ding.

„Was ist das denn?“ will Frau Büser wissen und Antonia nickt: „Hab ich doch gleich gesagt, das ist so’n Ding.“

„Was für’n Ding?“ will Manni wissen und spielt an dem schwarzen Plastikzylinder herum, dabei dreht er ihn, drückt hier und da und auf einmal – das Geräusch verstummt.

Sandy weiß auch nicht, um was es ich handelt, kann sich aber daran erinnern, daß die Witwe Wagenmacher (83, lebendig) den Anzug vorbeigebracht und an dieser Brusttasche hantiert habe. Sandy hatte dem keine Bedeutung beigemessen, aber nun ist uns klar, daß nur die Witwe Wagenmacher Auskunft darüber geben kann, was das piepsende Ding sein und bewirken soll.

Fünf Leute stehen in meinem Büro um mich herum, als ich bei der Wagenmacherin anrufe. Was es denn mit dem Piepser auf sich habe, erkundige ich mich und höre dann: „Das ist eine elektronische Mückenscheuche aus dem Drogeriemarkt. Die läuft mit einer Batterie vierzehn Tage und sorgt dafür, daß keine Mücken und Fliegen an meinem Mann gehen, hat 3 Euro gekostet.“

Na, wenn das so ist…

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(©si)