Menschen

Unvergessenes Zack-Zack

Ein österreichischer Vertriebsfachmann, der im gleichen Hotel wie ich wohnte, sagte letzte Woche zu mir: „Geben Sie mir doch mal Ihren Xing!“
Er lächelte und überreichte mir als intertelemediale Morgengabe eine einlaminierte Selbstdruckvisitenkarte.
Ich betrachtete die Karte kurz und war ob der vielen Kontaktmöglichkeiten schwer beeindruckt.

Fon hat er, also kann man ihn zu Hause anrufen, Office-Fon hat er auch, ich habe nichtmal einen Fön. Auch unterwegs ist er erreichbar, denn als dritten Eintrag findet man sein „Mobile Fon“; immerhin weiß ich da immer auf Anhieb, was das sein soll, auch wenn „Mobile Fon“ nun nicht besonders typisch österreichisch ist, immerhin ist es weniger verwirrend als der Schweizerische Begriff NATEL. Tut mir leid, liebe Schweizer, aber NaTel klingt eher wie eine der Wortschöpfungen aus unserer bösen Zeit: „Nationales Autotelefon“, obwohl man sich damals bei uns wahrscheinlich auf NaKraTel oder so eingelassen hätte.

Bei Xing ist der Österreicher auch und bei Facebook, MySpace, Wer-kennt-wen, und gleich bei mehreren VZ…
Auch hier bekomme ich immer einen kaum zu bändigenden inneren Drang, strammzustehen und die Hacken zusammenzuschlagen: StudiVZ! Zack-Zack!

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Alles in allem bringt es der Mann auf fast zehn Zeilen Kontaktmöglichkeiten auf der linken Seite und nochmal so vielen inkl. Mail-Adresse, Twitter, Fax, ICQ und Skype auf der rechten Seite seiner Visitenkarte.

Ich drücke ihm meine Visitenkarte in die Hand, er guckt etwa enttäuscht, denn außer der ganz normalen Adresse, einer Telefonnummer und einer Mail-Adresse habe ich keine weiteren Kontaktmöglichkeiten angegeben.
Wozu auch?
Will einer herkommen, so braucht er die Adresse, am Besten nachdem er mich vorher angerufen hat, dazu hat er die Telefonnummer und wenn er auf der Höhe der Zeit ist, kann er mich auch anmailen; und damit er nicht vergisst um wessen Kontaktdaten es sich handelt, steht auch noch mein Name drauf. Fertig.

„Kein XING?“

Nee, hab ich nicht, brauch ich nicht, weiß ich gar nicht wofür das gut sein soll. Habe auch kein MySpace, einen Facebook-Account nur aus Versehen, bin in keinem VZ (Zack-Zack!), in keinem Kochclub und chatten tue ich auch nicht.
Chatten raubt mir zuviel Zeit. Dieses Hin und Her, das zwischenzeitliche Abwarten bis der andere wieder was getippert hat… Nein, ist nichts für mich, hat mir noch nie gefallen.

Der Mann ist erstaunt, schaut mich an als sei ich direkt aus der römischen Antike in sein spaciges Leben gehüpft und schüttelt verdutzt den Kopf.

Ich sage zu ihm: „Da steht doch alles auf der Karte. Wie sie mich besuchen können, wie sie mit mir telefonieren können und wie sie mich im Web erreichen… Mehr braucht man doch nicht.“

„Ich schon! Ich wickle einen Großteil meiner Geschäfte über das Web ab, ich habe im Web einen gewissen Bekanntheitsgrad, den ich nur aufrechterhalten kann, wenn ich überall präsent bin.“

Er weiß nicht, daß ich hier blogge und ich zucke nur mit den Schultern und sage: „Mich kennt da keine Sau, vielleicht sollte ich doch mal ins VZ (Zack-Zack!).“

Mal sehen wann seine Freundschaftseinladung kommt.

Nee, jetzt aber mal wirklich Kutter bei die Fische und frank und frei die Netze ausgeworfen:
Irgendwann meldet man sich aus Neugierde bei den meisten dieser Dienste mal an, dann dümpelt der Account so vor sich hin und man ist nur zu faul, sich wieder abzumelden. Den einen oder anderen Dienst nutze ich gelegentlich, aber die allermeisten jedoch brauche ich nicht.
Twitter beispielsweise: So ab und zu schreibe ich da mal meine 140 Zeichen mit dem Handy, ansonsten überlasse ich es der Blogsoftware, dort die Blogeinträge anzukündigen.
Ich habe ehrlich gesagt genug damit zu tun, etwas zu tun und finde gar nicht die Zeit, neben dem Tun auch noch jeden Furz in 140 Zeichen zu kolportieren.
In diversen Wiederfindesystemen bin ich hin und wieder sogar schon mal fündig geworden und habe Schulkameraden oder alte Freunde wiederentdeckt.
Ha, was hat man sich gefreut, daß man Bruno Kosmalski endlich wiedergefunden hat. Jenen Bruno Kosmalski, mit dem man vor mehreren Dutzend Jahren zusammen die Schulbank gedrückt hat.
Wie es mir denn jetzt so gehe, will Bruno wissen; ich schreibe es ihm und dann gehen noch zwei Mails hin und her, das war’s.
Ich habe Bruno Kosmalski noch nie leiden können, er war ein Raufbold, als Kind schon ein unangenehmer Geselle und nur im Fußball wirklich gut. Norbert Röttgenshuber hat mich auch gefunden! Er ist ganz aus dem Häuschen, schreibt er, daß er mich endlich wiedergefunden hat. Ob ich mich denn noch an die vielen schönen Abende während unseres Studiums in Göttingen erinnere?
Ich war letztes Jahr das erste Mal in meinem Leben in Göttingen und habe nicht die geringste Ahnung, wer Norbert Röttgenshuber ist, aber inzwischen haben wir 43 gemeinsame Bekannte und ich bin nächstes Jahr zu seinem Fünfzigsten eingeladen.
Clarissa Sweetheart hat mich auch angeklickt. Wespenstichtittchen unter schmalem Top, nackter Bauchnabel und ein höchstens zehnjähriges Gesicht unter einer Schicht Schlecker-Make-Up…
Ich klicke nicht zurück, am Ende ist das noch so eine Kinderschänder-Lebendfalle…

Nein, die meisten, die ich auf diese Weise wiedergefunden habe, die hatte ich ja gar nicht verloren, die habe ich ganz genau deshalb nicht in meinem Freundes-Portfolio, weil ich sie da nicht haben wollte und ich will sie auch jetzt nicht, auch nicht aus sentimentalen Gründen, da haben.
Mit denen habe ich als Kind und Jugendlicher schon nichts anfangen können und warum sollte ich mich jetzt mit Bekanntschaften und pflegebedürftigen Kontakten mit Menschen belasten, die viele hundert Kilometer weg wohnen?
Von all denen, die ich wiedergefunden habe, ist mir so insgesamt betrachtet, Norbert Röttgenshuber noch am allerliebsten. Wir haben keinerlei negative Erinnerungen aneinander, bei vermeintlichen gemeinsamen Erlebnissen aus der Vergangenheit kann ich jetzt aktuell entscheiden, ob ich mich noch daran erinnere oder nicht und bin mir sicher, daß Norbert eines Tages der Einzige von allen „Wer-kennt-wen? VZ Stayfriends“ sein wird, der einen Kranz zu meiner Beerdigung schicken wird. Auf der Schleife wird vielleicht stehen: „Unvergessen! Dein alter Freund Norbert!“

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(©si)