Menschen

Von Dienstag bis Mittwoch verstorben

Bei dem starken Gewitter musste die Feuerwehr Dutzende von Malen ausrücken und so allerlei abgerissene Äste von den Fahrbahnen holen, Keller leerpumpen und verstopfte Gullis durchstoßen. Menschen sind in dieser Nacht glücklicherweise nicht zu Schaden gekommen, sieht man einmal davon ab, daß der alte Herr Kaufsopp auf dem Nachhauseweg im Gewittersturm „von irgendetwas“ heftig am Kopf getroffen wurde.

Seine anschließenden Schilderungen beim Verpflastern der kleinen Platzwunde ließen aber darauf schließen, daß das „irgendwas“ ein Bürgersteig gewesen sein mußte und sich die Annäherung von Gehwegoberfläche und Kopf doch wohl so vollzogen hat, daß der Gehweg an seinem ihm zugedachten Platz geblieben ist und Herr Kaufsopp aufgrund fortgeschrittenen Alkoholkonsums seine Füße nicht ordnungsgemäß um die Ecke Beethovenstraße/Rathenaustraße gelenkt hatte.

Nun gut, der alte Kaufsopp ist für seine ausschweifenden nächtlichen Heimwärtsversuche bekannt, die nicht immer von Erfolg gekrönt sind, manchmal enden sie auch am Straßenbahndepot, wo er schon mal in einer Sandkiste schlafend vorgefunden wurde.

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Und dennoch mußte unser Bestattungswagen in dieser Nacht ausrücken.

Als nämlich die Feuerwehr eine umgestürzte Pappel aus einem geparkten VW-Golf förmlich herausgeschnitten hatte, wollten die Feuerwehrleute den Fahrzeughalter, einen 81jährigen Rentner, benachrichtigen und sind stutzig geworden, als ihnen der alte Herr nicht öffnete. In seiner Wohnung brannte Licht, im Wohnzimmer flackerte der Fernseher und dennoch sagte eine Nachbarin, der Mann sei wohl verreist.

Das passte dann doch alles nicht so recht zusammen und ein Feuerwehrmann stieg beherzt auf den Balkon im Hochparterre, um einen Blick in die Wohnung des alten Mannes werfen zu können.
Dabei entdeckte er den 81jährigen regungslos und vornüber gebeugt in seinem Fernsehsessel sitzend.

Da zu diesem Zeitpunkt noch nicht abzusehen war, ob der Mann verstorben war oder sich nur in einer hilflosen Lage befand, öffnete die Feuerwehr im Beisein der sowieso anwesenden Polizei die Wohnungstür.

Schon allein wegen des Geruchs in der Wohnung und einer größeren Ansammlung von Fliegen an der Stubendecke war schnell klar, daß der Mann verstorben war. Auch der herbeigerufene Arzt konnte nichts anderes feststellen.

Das war in der Nacht von Freitag auf Samstag und als vermutlichen Todeszeitpunkt gibt der Arzt an, daß der Mann zwischen Dienstagmorgen, da war er zuletzt von einem Nachbarn gesehen worden, und Mittwochmittag gestorben ist.

Nun kommt aber noch in der Nacht, besser gesagt am sehr frühen Morgen, der Sohn des Verstorbenen aus dem weit entfernten Regensburg herbeigefahren und beteuert, er habe noch am Donnerstag morgens mit seinem Vater telefoniert.

Ganz aufgeregt ist er, weil die Daten der Sterbepapiere nicht mit seinen persönlichen Beobachtungen zusammenpassen: „Das kann doch nicht sein, das müssen wir unbedingt ändern lassen.“

Doch der Arzt hat am Wochenende frei und als wir ihn trotzdem auf seinem Handy erreichten, zeigte er sich doch recht unwillig und unwirsch, daß wir seine Feststellungen anzweifeln.

Ich sagte zu ihm: „Das tun wir doch überhaupt nicht, wir sind sogar davon überzeugt, daß Sie besonders gründlich gearbeitet haben, aber der Sohn hat nachweislich am Donnerstag noch mit seinem Vater telefoniert, da kann er also nicht schon am Mittwoch tot gewesen sein.“

„Nach dem Stand der Leichenstarre und als Ergebnis meiner Untersuchung kann ich nichts anderes sagen, wenn Sie das anzweifeln, dann müssen sie den Mann eben sezieren lassen.“

Jetzt befand sich der Sohn in einer Zwickmühle. Denn einerseits wollte er gerne das korrekte Datum aber andererseits nicht, daß der Vater obduziert wird.
Nach einigem Überlegen hatte er dann für sich eine Lösung gefunden: „Okay, dann machen wir das so. Wir schreiben in die Anzeige und auf den Grabstein das Datum vom Donnerstag als Sterbedatum und was in den Papieren steht, das geht doch sowieso keinen was an, oder?“

Ja, kann man so machen. So hat der Sohn seinen Seelenfrieden und es bleibt uns allen eine weitere Untersuchung erspart. Es ist eben ein Märchen aus dem Fernsehen, daß der „Polizeiarzt“ schon am Sterbeort bis auf zehn Minuten genau den Todeszeitpunkt benennen kann. Es sind so viele Faktoren zu berücksichtigen, Lage des Verstorbenen, Vorerkrankungen, Allgemeinzustand, Temperatur der Umgebung, Durchlüftung der Räumlichkeiten, Medikamenteneinnahme und vieles mehr, da kann man weder durch einfache Inaugenscheinnahme, noch durch eine gründliche Untersuchung vor Ort feststellen, wann ganz genau der Tod eingetreten ist.
Manchmal sind die Umstände eindeutiger, manchmal sind sie aber auch so, daß der Arzt sich auf keinen engeren Zeitraum festlegen will.
Hin und wieder kann die Polizei helfen, zum Beispiel deuten auf den Rand der Fernsehzeitschrift gekritzelte Lottozahlen darauf hin, daß der Mensch zum Zeitpunkt der Ziehung noch gelebt haben muß, manchmal findet man Uhrzeiten letzter Telefonate im Speicher des Telefons und seit ein paar Jahren verrät auch der Computer oft, wann er eingeschaltet wurde oder wann die letzte Mail verschickt worden ist.
Aber ganz oft weiß man es einfach nicht genau und es steht zu vermuten, daß genauso oft einfach ein Todeszeitpunkt eingetragen wird, der allen Beteiligten am plausibelsten erscheint.

In diesem Fall mochte sich der Arzt nicht genauer festlegen, immerhin hatte er angekreuzt, daß der alte Herr eines natürlichen Todes gestorben ist.
Der Sohn hatte ja für sich eine Lösung gefunden und so waren alle zufrieden.
Wie gesagt, man kann das so machen, Todesanzeigen in Zeitungen und Grabsteine sind keine Urkunden, da kann man das so schreiben lassen, wie man es möchte.

© 2010


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Lesezeit ca.: 6 Minuten | Tippfehler melden | Peter Wilhelm: © 18. Januar 2018

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