Menschen

Walter darf den Krug auslecken

Die Turnerkneipe im benachbarten Stadtteil ist eine ganz typische Vereinskneipe. In den 70er Jahren, als die Gemeinde noch Geld hatte und die Vereinskassen voll waren, ist sie auch mit viel Eigenleistung gebaut worden. Natürlich hatte man nicht nur die Vereinsgaststätte gebaut, sondern gleich auch noch eine Turnhalle, einen Versammlungsraum, einen Saal, eine Kegelbahn, Umkleide- und Duschräume, eben alles, was ein Sportverein so braucht.

Am Anfang war „der Alfons“ der Wirt und unter ihm lief die Gaststätte ganz gut. Als er in den 80ern in den Ruhestand ging und auch noch ein neuer Vereinsvorstand gewählt wurde, begann der Niedergang des Restaurants.

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Die Pachtgebühr wurde auf eine utopische Summe hochgeschraubt und den Wirten immer versprochen, alleine die weit über 400 Mitglieder des Sportvereins seien eine Garantie für einen stetigen Umsatz.
Aber weit gefehlt, denn der Sportverein ist heute nicht mehr der Mittelpunkt des Lebens, die Menschen haben vielfältige Interessen und weil jeder mit dem Auto kommt, trinken die meisten sowieso anschießend nichts mehr.

Jedenfalls herrscht in der Gaststätte seitdem gähnende Leere und die ständig wechselnden Wirte müssen sich mit vereinsfremder Laufkundschaft über Wasser halten.
Ja es kommt sogar vor, daß die Fußballer eine Feier veranstalten und das dann auf der Wiese unterhalb der Gartenterrasse des Lokals tun, ihr Fleisch und ihre Getränke selbst mitbringen und der damals griechischen Wirtsfamilie was vorgrillen.
Die bleiben oben im Lokal auf Gyros und Suwlaki sitzen und unten hauen sich 120 Leute die Bäuche voll…

Seit zwei oder drei Jahren hat nun Hanno die Kneipe. Hanno kommt aus Ostfriesland und ist ein sehr netter Wirt. Seine Frau Tine kocht sehr gut und so ganz langsam haben sich die beiden eine nicht große, aber sehr treue Stammkundschaft aufgebaut.

Vorne im Eingangsbereich haben sie einen Biertisch mit Bänken aufgebaut, da dürfen sich die Raucher in ihren Rauchpausen niederlassen und da sitzt immer der Walter.
Walter ist 71 Jahre alt, hat früher als Gemeindearbeiter bei der Kläranlage gearbeitet und verbringt seit seiner Pensionierung seine Zeit fast ausschließlich vor dem Fernseher und in der Turnerkneipe.
Seine Rente ist nicht besonders hoch, bevor er bei der Kläranlage arbeitete, hatte er bei verschiedenen Bauern gearbeitet, die es mit den Sozialabgaben nicht so genau genommen haben, dann hatte er mal drei oder vier Jahre lang auf selbständiger Basis einen fliegenden Handel mit Kartoffeln und Zwiebeln, der auch nichts zur Rente beigetragen hat.
Die Standardbestellung von Walter ist immer die gleiche: „Drei Bier, aber nacheinander, fünf Zigaretten lose und hinterher zwei Scheiben Graubrot zum Mitnehmen.“

So sitzt er dann tagein tagaus auf seiner Bierbank im Eingangsbereich der Kneipe, raucht, trinkt und jeder weiß, daß die drei Scheiben Graubrot alles sein werden, was Walter an diesem Tag essen wird.

Es ist ja schade, was manche Leute so auf dem Teller lassen, da könnte oft wirklich noch jemand davon satt werden. Aber es hat mich immer gestört, wenn jemand sein Schnitzel komplett aufgegessen hat und ein paar mickrige Pommes und einen Rest Salat auf dem Teller zusammenschüttete und es dann Walter brachte.
„Da Walter, iß Dich mal satt!“ haben die dann gönnerhaft gesagt und sich kaputtgelacht, wenn der kleine alte Mann die Reste hastig in sich hineinstopfte.

Der Hannes fliegt wenigstens zweimal im Jahr mit seiner Frau in Urlaub, das Ehepaar macht immer Fernreisen in exotische Länder, all inclusive und nur am Strand, bloß keine Berührung mit den Kanaken, von denen es ja im Ausland besonders viele geben soll…
Also am Geld sollte es dem Hannes gewiss nicht fehlen und umso mieser finde ich, daß er es sich angewöhnt hat, die Neige seiner vielen Biere in einem Krug zu sammeln, um sie dann dem Walter zu „schenken“.
„Aber Walter, nix umkommen lassen, nachher schön den Krug ausschlecken, Bier is‘ teuer!“
Ach, wie großzügig, du Proletenarsch, du!

Wenn meine Frau und ich dort einkehren, bleiben wir immer kurz bei Walter stehen, ich biete ihm dann eine Zigarette an und vergesse beim Weggehen grundsätzlich die fast noch volle Schachtel. Wenn wir dann unser Essen bestellen, lassen wir dem Walter immer eine Portion von dem bringen, was er gerne mag und selbstverständlich zahlen wir dem Mann auch seinen Deckel.
So dicke, wie manche immer meinen, haben wir es auch nicht, aber es geht uns doch deutlich besser als manchen anderen und ich empfinde die Tatsache, keine Not leiden zu müssen, auch als Gnade und Geschenk und habe das Bedürfnis, auch andere teilhaben zu lassen.
Lange haben wir eine alleinerziehende Mutter und ihren Sohn unterstützt, dann dort aber den Geldhahn zugedreht, weil das Geld nicht für notwendige Dinge genutzt wurde, sondern in immer neue Unterhaltungselektronik und allerlei unnötige Verträge floss. (Handy, nochmals Handy, XXL-Entertainment-Paket, Sky-Abo…).
Wir haben uns gefragt, ob es uns zusteht, darüber zu urteilen und sind zunächst zu der Überzeugung gelangt, daß geschenkt eben geschenkt ist und es uns nichts angeht, was der Beschenkte mit dem Geschenkten macht.
Aber dann haben wir uns gesagt, daß unsere Unterstützung ja eine gewisse Not lindern soll und wenn der Hilfeempfänger aber lieber weiter in der Notsituation verharrt, wieder am Monatsende nichts zu essen hat und seine Miete nicht voll bezahlen kann, und stattdessen die Mittel, die ihm das ersparen könnten, für Kinkerlitzchen ausgibt…
Vielleicht ist das falsch, wir sind keine perfekten Menschen, aber da war uns dann das Geld zu schade.
Passenderweise geriet aber zu dieser Zeit ein anderer Mann mit Frau und drei Kindern in einen Engpass und seitdem bekommt er unauffällig jeden Monat einen Zuschuss.
Klar, man darf sich dann davon auch mal was gönnen, im Grunde genommen ist uns das egal, aber wie gesagt, wenn das Geld nur für Reklamekonsum rausgehauen wird…

Ich kann das überhaupt nicht gut, ich kann gar kein Gönner sein, das ist mir immer peinlich. Lieber ist es mir, wenn das alles wie selbstverständlich läuft und kein Aufhebens darum gemacht wird.
Bei Walter ist das so. Dem kann man schenken was man will, der nimmt es, blitzt einen aus seinen wasserblauen Augen an, sagt brav danke und das war’s. Kein überschwengliches Theater, keine Arien der gespielten Dankbarkeit, sowas hasse ich nämlich.

Ich will um Himmels Willen jetzt gar nicht auf dieser Gönnerrolle herumreiten, ich muß das nur erzählen, sonst wird das Folgende nicht richtig klar. Was ich im Grunde sagen wollte war, daß es für uns einfach selbstverständlich ist, daß wir helfen wo wir können, wenn Not am Mann ist. Dafür erwarten wir nichts und wir sprechen auch für gewöhnlich nicht darüber, schon allein um den jeweils anderen nicht zu kompromittieren.

Nun erzählte uns vor ein paar Wochen der Hanno, also der Wirt der Turnerkneipe, daß er den Walter schon ein paar Tage nicht gesehen habe, vielleicht sei der krank.
Doch Walter war nicht krank. Nach ein paar weiteren Tagen hat Hanno nämlich die Polizei gerufen und die hat Walter tot in seiner Wohnung gefunden. Dort ist er während der ganz heißen Tage einfach so gestorben. Vermutlich sei die Hitze zuviel für sein Herz gewesen…

Walter hatte noch eine Schwester, die lebt irgendwo hinter München, hat selbst nicht viel Geld und vor allem schon seit 20 Jahren keinen Kontakt mit ihrem Bruder gehabt, wie das eben manchmal so ist.
„Ist doch kein Problem“, habe ich zu Hanno gesagt, „Ich gehe morgen zum Bürgeramt und sage denen, daß wir den Walter anständig unter die Erde bringen.“
Und genau so habe ich es auch gemacht. Herr Fürbringer vom Ordnungsamt war sehr aufgeschlossen, er stimmte sofort zu und schlug vor, daß die Gemeinde das kleine Urnengrab stellt, wenn wir den Rest machen. Dann könnte man davon absehen, die Schwester in Anspruch zu nehmen und müsse keine anonyme Sozialbestattung machen.

Viele Leute sind zu Walters Trauerfeier mit der anschließenden Urnenbeisetzung nicht gekommen. Hanno und Tine, die Wirtsleute, Hannes und seine Frau, die Urlauber und meine Frau und ich waren da. Trotzdem hat sich der katholische Diakon, im Rahmen seiner begrenzten Möglichkeiten, ganz ordentlich ins Zeug gelegt und sowohl in der Trauerhalle, als auch am Grab zumindest mal so lange geredet, als wären wesentlich mehr Leute da.

Wie das mit der Beerdigung gelaufen ist, das wußten nur die Leute vom Ordnungs- bzw. Friedhofsamt, die Wirtsleute und die beiden Urlauber.
Die Sache war damit erledigt, jetzt haben wir halt eine Stelle mehr auf dem Friedhof, die wir ab und zu mal besuchen werden. Das Grab wird mit weißem Kies abgedeckt und ein Holzkreuz mit Walters Namen wird es kennzeichnen.

Einige Tage später kommen meine Frau und ich in ein anderes Lokal, in dem Urlauber-Hannes auch verkehrt, und setzen uns etwas abseits, um unsere Ruhe zu haben, an einen Tisch in der Ecke.
Weiter vorne, halb verdeckt durch einen Raumteiler aus künstlichem Buchsbaum, sitzen ein paar Männer, die unser Kommen gar nicht bemerkt haben. Während wir noch auf unser Essen warten, beginnt dort eine Diskussion, bei der wir schnell hellhörig wurden.
Der Hannes habe gestern erzählt, der Bestatter habe die Beerdigung vom Walter ja nur aus Geldgier gemacht. Wegen der kostenlosen Reklame und so. Ein anderer weiß noch zu sagen, daß der Bestatter bestimmt etwas von einem fetten Erbe wisse und vielleicht habe der Walter ja irgendwo einen fetten Sparstrumpf versteckt gehabt.
Und dann kommt die ganze Litanei, jeder weiß was Blödes: Bestatter verkaufen die Gebissprothesen der Leichen nach China weiter, die machen immer ihren Schnitt und wahrscheinlich habe sich der Bestatter die fette Kohle vom Sozialamt eingestrichen und dann den armen Walter irgendwo lieblos verscharrt.
„Na, ob der überhaupt einen Sarg für den Walter genommen hat, vielleicht haben’se den gerade mal so in ein Tuch gewickelt und verbrannt, aber die Kohle für den Sarg abrechnen, das tun die immer.“

Meine Frau mußte mir vor’s Schienbein treten, sonst wäre ich am liebsten hingegangen und hätte denen mal was erklärt.

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