Geschichten

Wie können Sie das nur von mir verlangen?

Abscheu

Ich hatte gerade etwas gegessen und wie das so ist, eine bleierne Müdigkeit begann in mir aufzusteigen. Doch die musste ich abschütteln, denn Frau Bestenbach kam in mein Bestattungshaus.

Die junge Frau saß mir im Besprechungsraum gegenüber. Sie hatte eine Tasse Kaffee vor sich stehen und rührte gedankenverloren darin herum, obwohl sie weder Milch noch Zucker genommen hatte.
Die Formalitäten hatten wir erledigt, der Sarg war ausgesucht und trotzdem schien die Frau noch etwas auf dem Herzen zu haben.

„Ich… ich weiß nicht, wie ich das sagen soll“, flüsterte sie mit bebender Stimme.

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„Was denn? Was bewegt Sie?“, erkundigte ich mich.

„Ach, wissen Sie, ich hatte ein gutes Verhältnis zu meinem Vater. Aber die letzten Jahre hatten wir nur ganz wenig Kontakt. Ich habe keine Zeit mit ihm verbracht. Mein Beruf, verstehen Sie?“

Ich nickte nur und hörte weiter zu.

„Jetzt ist mein Vater gestorben. Das kommt für mich plötzlich und überraschend. So alt war er ja noch nicht. Ich meine, mit 70 Jahren muss doch heute keiner mehr sterben… Ich hatte gar keine Chance, richtig von ihm Abschied zu nehmen.“

„Ich verstehe, Frau Bestenbach. Der Verlust eines geliebten Menschen ist niemals leicht“, antwortete ich sanft. „Aber es gibt eine Möglichkeit, die Dinge ein wenig anders anzugehen, wenn Sie möchten.“

Frau Bestenbach hob den Blick, ihre Augen suchten nach einem Fünkchen Trost. „Anders? Wie denn anders?“

Ich setzte mich neben sie. „Es gibt die Option, sich aktiv am Abschied von Ihrem Vater zu beteiligen. Sie könnten mir helfen, ihn für die Bestattung vorzubereiten. Das mag zunächst eigenartig klingen, aber es könnte Ihnen helfen, Frieden zu finden.“

„Frieden? Hier? Mit all dem? Mit einer Leiche? Wie können Sie das nur von mir verlangen?“, entgegnete Frau Bestenbach etwas aufgebracht und schüttelte heftig ablehnend den Kopf. „Niemals!“

Ich nickte verständnisvoll. „Ich weiß, es scheint ungewöhnlich. Aber das, was ich vorschlage, könnte Ihnen die Möglichkeit geben, eine andere Art von Abschied zu nehmen. Eine, die sich nicht nur auf den Verlust konzentriert, sondern auch auf die Liebe und die Erinnerungen, die Sie mit Ihrem Vater geteilt haben.“

„Sie meinen, ich soll wirklich bei der Vorbereitung mithelfen?“, fragte Frau Bestenbach und schaute mich mit offenem Mund an, ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen.

„Ja, genau das meine ich. Es könnte schwierig sein, aber es könnte Ihnen auch eine Chance bieten, sich von Ihrem Vater auf eine Weise zu verabschieden, die tiefer geht als das, was wir normalerweise mit dem Tod assoziieren.“

Frau Bestenbach blickte auf den Boden, ihre Gedanken wirbelten in einem Strudel aus Trauer und Abscheu. „Ich kann das nicht. Das ist einfach zu viel.“

Ich legte meine Hand auf ihre Schulter. „Nehmen Sie sich Zeit, Frau Bestenbach. Diese Entscheidung ist etwas, über das Sie nachdenken sollten. Der Prozess der Trauer braucht Zeit, und es ist wichtig, dass Sie auf Ihr eigenes Herz hören.“

Die Frau ging und ließ mich nachdenklich zurück. War ich zu weit gegangen mit meinem Vorschlag? Oder war diese spontane Idee von mir vielleicht genau das Richtige?

Am nächsten Tag, so gegen elf, kam Frau Büser, die Chefsekretärin, zu mir ins Büro und sagte, dass Frau Bestenbach gekommen sei.

Sie stand in der Eingangshalle und sagte zu mir: „Ich habe die ganze Nacht wachgelegen, in einem ständigen Wechsel zwischen Erinnerungen an meinen Vater und der beängstigenden Vorstellung, Ihnen bei der Versorgung zu helfen. Aber dann habe ich die alten Briefe nochmal durchgeblättert, die er mir während meines Studiums in Tübingen geschrieben hatte. Und dann war es irgendwie anders, ich kann die Vorstellung nicht ertragen, dass mein Vater allein in einem kalten, trostlosen Keller liegt. Wenn es eine Möglichkeit gibt, ihm in irgendeiner Weise noch einmal nahe zu sein, würde ich es versuchen.“

„Sie haben es sich also anders überlegt“, stellte ich fest.

Frau Bestenbach nickte, ein Hauch von Entschlossenheit in ihren Augen. „Ich will es versuchen. Für meinen Vater.“

Ich führte sie durch die schlichten Gänge des Instituts, vorbei an kühlen Stahltüren und unzähligen Blumenarrangements. Als wir vor dem Raum standen, in dem ihr Vater aufgebahrt war, zögerte sie noch einmal.

„Wir werden behutsam vorgehen“, versicherte ich und öffnete die Tür.

Der Raum war ruhig und gedämpft beleuchtet. Ihr Vater lag friedlich auf einem weißen Leinentuch, als würde er schlafen. Frau Bestenbach zögerte wieder, doch dann trat sie näher. Gemeinsam begannen wir, ihren Vater zu waschen und anzuziehen. Anfangs waren ihre Hände zittrig, aber nach und nach wurde die unmittelbare Nähe zu ihrem Vater für sie immer selbstverständlicher.

Während wir gemeinsam diesen schmerzlichen Prozess durchliefen, begannen in der Frau Erinnerungen an glückliche Momente, gemeinsame Abenteuer und liebevolle Gesten aufzusteigen. Sie redete mit mir darüber, sie redete mit ihrem Vater. Frau Bestenbach fand sich in einer Welt wieder, in der der Tod nicht nur das Ende, sondern so etwas wie ein Zeitpunkt war, an dem Erinnerung und Liebe eine Rolle spielten.

Sie sprach leise über ihren Vater, erzählte von gemeinsamen Begebenheiten und von früheren Gesprächen mit ihm. Allmählich begann sie zu lächeln und erkannte, dass das, was wir taten, nicht nur ein Akt der Verabschiedung war, sondern auch eine Feier der Liebe, die sie für ihren Vater empfand.

Nach einer Stunde, als die Vorbereitungen abgeschlossen waren, war klar, dass Frau Bestenbach sich nicht mehr von Abscheu erfüllt fühlte, sondern von einem tiefen Gefühl der Dankbarkeit. Dankbar dafür, dass sie die Möglichkeit hatte, ihren Vater auf eine so intime Weise zu verabschieden. Der Tod wurde zu einem unvergesslich schönen Abschied, der Frau Bestenbach eine neue Perspektive auf das Leben und die Liebe schenkte.

Als sie das Bestattungsinstitut verließ, da war ich sicher, lag ein Gefühl der Leichtigkeit in ihrer Brust. Ihre Trauer war nicht verschwunden, aber sie hatte einen Weg gefunden, mit ihr umzugehen, der ihr Herz mit warmen Erinnerungen erfüllte.

Bildquellen:
  • abscheu: KI generiert Peter Wilhelm

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Die Geschichten von Peter Wilhelm sind Erzählungen und Kurzgeschichten aus dem Berufsleben eines Bestatters und den Erlebnissen eines Ehemannes und Vaters.

Die Geschichten haben meist einen wahren Kern, viele sind erzählerisch aufbereitete Tatsachenerzählungen.

Die Namen, Geschlechter und Berufe der erwähnten Personen sind stets verändert.

Lesezeit ca.: 7 Minuten | Tippfehler melden | © Revision: 4. Februar 2024 | Peter Wilhelm 4. Februar 2024

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4 Kommentare
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Juergen Laabs
2 Monate zuvor

Wunderbarer Bericht! Erinnert mich an die besten Zeiten des Blogs. Eine Geschichte die zeigt das Du mit Herz und Seele Bestatter warst. Aber die auch zeigt wie belastent der Job als Bestatter ist. Es war eine gute Entscheidung von Dir aufzuhören (solange man noch die Kraft dafür hat).

lotte
2 Monate zuvor

ddd

Hella
Reply to  lotte
2 Monate zuvor

Ich liebe diese etwas mythischen Geschichten.




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