Menschen

Zwei sind einer zu viel 10

Was bringt einen Mann dazu, sich so zu verhalten, wie es Herr Leuschner tut?
Sein Verhalten bislang ließ einzig darauf schließen, daß er seine Tochter Leonie einfach nur entsorgen will. Schnell weg, schnell und billig zur Urgroßmutter des Kindes ins Grab, vielleicht nicht einmal ein Nachtrag auf dem Grabstein, das Kind wäre einfach verschwunden und ausgelöscht.

Die Antwort liefert uns seine Mutter: „Der ist völlig überdreht. Ihr kennt den doch alle, Sie natürlich nicht, Herr Wittrock, aber ihr anderen doch. Der war doch schon immer so ein Typ, der alles in sich reinfrißt und dann zu den komischsten Ergebnissen kommt, überstürzt und kopflos handelt und dann den größten Blödsinn verzapft. Bei Leonie und dir war das was anderes…“
Bei den letzten Worten deutete die alte Frau Leuschner auf Leonies Mutter und fährt fort: „Du kennst ihn doch am besten, du weißt doch, daß er mit Leonies Krankheit nie fertig geworden ist. Wie oft warst du schwanger? Wie oft gab es Fehlgeburten? Drei Mal, oder? Und dann klappt es endlich mit Leonie und die kommt schon nach sieben Monaten viel zu früh zur Welt und ist krank. Was hat der kleine Wurm nicht alles gehabt… Geblieben ist die Mukoviszidose und dieser Lernrückstand…“

„Den hat sie ja aufgeholt!“ protestiert Leonies Mutter, doch ihre Ex-Schwiegermutter winkt ab: „Davon hat er ja sowieso nichts mitbekommen, ich weiß das, weil Oma Trude mich auf dem Laufenden gehalten hat. Aber das Kind war eben krank und das hat er nicht verkraftet. Verurteilt ihn deswegen, ist mir egal, aber das müßt ihr mit ihm ausmachen, nicht mit mir.“

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„Ja hat er denn Leonie komplett abgelehnt?“ frage ich dazwischen und die beiden Omas schauen mich kopfschüttelnd an. Dabei schütteln sie so gleichmäßig den Kopf als ziehe da jemand an einer Schnur, an der ihre Köpfe befestigt sind.

„Nein“, sagt Frau Leuschner senior: „Das Hauptproblem meines Sohnes liegt wohl eher da, daß er seit Jahren von einem schlechten Gewissen geplagt ist und nun nicht über seinen Schatten springen kann.“

„Konnte“, verbessert Oma Trude: „Wartet mal ab, wie der Kerl unterwegs ist, wenn er von Leonie zurück kommt!“

„Egal“, sagt die alte Frau Leuschner und der Tonfall ihrer Stimme duldet keinen Widerspruch: „Wir machen jetzt eine anständige Beerdigung für unsere Leonie und wenn ihr das nicht bezahlen könnt, dann lege ich den Rest noch drauf.“

„Ich auch!“ ruft Oma Trude und will gleich aus ihrer Handtasche ihr Portemonnaie herausholen.

„Immer langsam!“ mahne ich und sage: „Wir sollten uns alle, und da meine ich auch Herrn Leuschner, erst einmal an einen Tisch setzen und gemeinsam besprechen, was nun geschehen soll.“

„Das können wir gerne tun“, sagt Leuschners Mutter: „Aber wir machen es anständig und vor allem so, wie es meine Schwiegertochter und ihr jetziger Mann wünschen, die haben das Kind schließlich großgezogen. Wenn DER was anders will, dann hau ich dem…“

„Genug gehauen“, sage ich und muß etwas grinsen obwohl ich das eigentlich vermeiden wollte.

Ein großes weißes Tuch verhüllt die von hinten beleuchteten Buntglasfenster in unserer Trauerhalle.
Davor steht ein weißer Sarg in einem Meer aus roten Rosenblättern. Der Sargwagen darunter ist ebenfalls von einem langen weißen Tuch bedeckt, daß lang in lockere Falten gelegt bis in den Mittelgang zwischen die vorderen Sitzreihen fließt. Auch hier rote Blütenblätter.
Die Sitzreihen sind voll besetzt, hinten stehen sogar Leute. Zwei Schulklassen sind gekommen, das Lehrerkollegium von Leonies Schule und viele Leute von einer Muko-Selbsthilfegruppe.
In der ersten Reihe sitzen vom Rednerpult aus gesehen von links nach rechts Oma Trude, Leonies Mutter, Herr Wittrock und daneben Herr Leuschner. Neben ihm sitzt seine Mutter und die hat ihre Handtasche griffbereit neben sich auf einem leeren Stuhl stehen.
Sie sitzt vor den ganzen Kränzen und Blumengestecken, die die Trauergäste mitgebracht haben und die meisten sind dem Wunsch von Leonies Mutter gefolgt und haben rote Blumen binden lassen.
So herrschen die Farben Weiß und Rot vor. Es ist ein sehr schönes Bild.
Sandy, die ein besonderes Händchen für so etwas hat, hat den Sarg auf einem dicken Bett Rosenblätter gebettet und die Blätter fließen quasi über das weiße Tuch bis zu den Trauergästen und werden immer weniger.

Pastor Schüttner kommt herein, begleitet von Manni und Gregor, die dunkle Anzüge tragen, die beiden halten jeder eine dicke weiße Kerze in den Händen.
Aus den Lautsprechern kommt „Lalelu, nur der Mann im Mond schaut zu, wenn die kleinen Babies schlafen, drum schlaf‘ auch du…“
Während das Lied läuft zündet der Pastor die beiden dicken Kerzen an.
Die Worte des Pfarrers sind wohl gesetzt, er spricht sehr gut und einer Kinderbeerdigung angemessen.
Am Ende seiner Ansprache spricht er gemeinsam mit den Anwesenden ein Gebet und dann bläst er die beiden Kerzen aus.
Im gleichen Moment wird es dunkel in der Trauerhalle, nur die Beleuchtung hinter den Buntglasfenstern bleibt noch einen Moment an und beleuchtet das große weiße Tuch, das die ganze Wand hinter Lenonies Sarg einnimmt von hinten.
Unterdessen nimmt der Pastor in der ersten Reihe Platz und Manni und Gregor gehen hinaus, aber das sieht keiner, denn nun verlischt auch das Licht hinter dem weißen Tuch. Ein kleiner Ventilator reicht aus, um es leicht wehen zu lassen und dann, das Husten, Tuscheln und Füßescharren will gerade einsetzen, erscheint ein kleiner Lichtpunkt auf dem weißen Tuch, das nun zu einer leise im Wind wehenden Leinwand wird, und vergrößert sich langsam zu einem Bild von Leonie, so wie sie vor wenigen Wochen noch in die Kamera gelacht hat.
Zu den Klängen der Mondscheinsonate läuft nun einer Bilderschau ab, die alle Stationen von Leonies Leben zeigt. Es sind die Bilder aus dem kleinen Plastikalbum der Oma.
Während die Bilder ablaufen, verteilen Antonia und Frau Büser an alle Anwesenden kleine Körbchen mit rosenroten Krepp-Papier-Schnipseln, so viele echte Rosenblätter wären dann doch zu teuer gewesen.

Die Musik wird leiser gedreht und verstummt, noch während die letzten Bilder, die ein von Schwäche und Krankheit gezeichnetes Kind zeigen, laufen. Zuletzt bleibt das Bild mit der lachenden Leonie stehen, wird wieder zu einem kleinen weißen Punkt und bei absoluter Stille, niemand wagt es auch nur sich zu rühren, fliegt dieser kleine weiße Punkt, wie ein kleiner hell leuchtender Stern nach oben und verlischt, so als ob er weit in die Tiefen des Alls verschwunden wäre.

Noch zwei, drei Sekunden bleibt es dunkel und dann geht das Licht langsam wieder an.

„Irgendwie, irgendwo, irgendwann“, so beginnt ein Lied von Nena, das Leonie immer so gerne gehört hat und das ist auch das Lied, das nun gespielt wird.

Niemand hat den Trauergästen gesagt, was sie mit den Papierrosenblättern tun sollen. Das ist Absicht.
Ein kleiner Junge, vielleicht aus Leonies Klasse, steht auf und geht nach vorne, er schüttet seine ‚Rosenblätter‘ einfach über den Sarg und als er zu seinem Platz zurückkehrt, kullern dicke Tränen über sein Gesicht.
Der kleine Mann hat kindliche Trauerarbeit geleistet, ein Vorbild.
Manni und drei Kollegen kommen herein, um den Sarg abzuholen und dann in den Aufzug zu bringen. Der Sarg wird dann zum Friedhof gefahren und unterdessen werden wir gemeinsam mit den Trauergästen die kaum 100 Meter zum Friedhof laufen.

Doch es kommt anders.

Herr Leuschner steht auf, flüstert kurz mit Herrn Wittrock und auch der steht auf.
Das paßt mir jetzt nicht so, die Leute sollen sich zwar einbringen, aber bitte nicht den Ablauf verzögern. Wenn die Trauerfeier für eine Erdbestattung bei uns im Hause in unserer Trauerhalle stattfindet, müssen wir pünktlich auf dem Friedhof sein, denn da stehen die Friedhofsarbeiter und wollen ‚amtlicherseits‘ den Sarg zum Grab schieben und in die Grube ablassen. Sind wir nicht pünktlich, ziehen die sich wieder ihre grüne Arbeitskluft an und verschanzen sich, butterbrotmampfend in ihrem winzigen Büro.

Bloß keine Verzögerung jetzt!

Manni und seine Männer stehen schon neben dem Sarg und wollen ihn gerade anheben, da gehen Wittrock und Leuschner zu ihnen.
Ach so, denke ich, die wollen mit anfassen, gut!

Aber nein, die beiden Väter von Leonie sind vorne am Sarg, Leuschner links und Wittrock rechts. Sie heben den Sarg nicht an den Griffen hoch, sondern fassen ihn unter, Manni und seine Männer müssen es ihnen gleich tun, sonst gerät der Sarg in Schieflage.
Die beiden gehen noch einen Schritt weiter und heben den Sarg viel zu hoch. Schließlich kapiere ich, was sie wollen, sie wollen den Sarg auf ihre Schultern heben.
Meine Güte! Ich nicke Manni zu und die anderen tun es Wittrock und Leuschner gleich.
Offenbar haben die keine Ahnung davon, daß wir den Sarg streng nach Gesetz mit dem Bestattungswagen transportieren müssen, denn sie steuern auf den Haupteingang der Trauerhalle und nicht auf den Seitenausgang zu. Manni und seine Männer sind dazu verdammt, mitzulaufen.

So kommt es, daß sechs Männer in dunklen Anzügen einen weißen Sarg über die Friedhofstraße zum Friedhof tragen und der alte Herr Huber mit dem leeren Bestattungswagen im Kriechgang dem Trauerzug hinterher fährt.
Dem Sarg folgen die ganzen Trauergäste langsamen Schrittes. Die Kinder sind etwas aufgeregt, einige streuen Papierrosenblätter, einfach so.
Einer von uns wird später den Besen schwingen müssen…

Eine alte Oma schaut aus dem Fenster eines Hauses, bekreuzigt sich und guckt dann neugierig dem Leichenzug hinterher.

Einige Minuten später treffen wir am Friedhof ein und es ist das eingetreten, was ich befürchtet hatte. Die Friedhofsarbeiter sind schon in ihrem Büro. So bekommen sie aber wenigstens nichts davon mit, daß unser Bestattungswagen diesmal nur Staffage war.
Glücklicherweise haben sie noch ihre Anzüge an und sind bereit, mit zum Grab zu gehen. Sie müssen annehmen, die sechs Männer am Sarg hätten diesen gerade aus dem Wagen ausgeladen.

Leonie kommt zu Leuschners Oma ins Grab, aber eben nicht als Urne. Leuschner wird den Grabstein entsprechend ergänzen lassen. Das ist so besprochen worden.
Das Grab liegt nur zwei Querwege vom Eingang entfernt und ich glaube die sechs Männer sind froh, als sie den Sarg endlich von ihren Schultern auf die beiden quer über dem Grab liegenden Latten stellen können.

Der Pastor macht es kurz und dann lassen die Friedhofsarbeiter den Sarg mit dicken Tauen in das Grab hinab.

Sandy hatte sich vorgenommen, es den anderen vor zu machen und mit einem Körbchen Papierblätter zum Grab zu gehen und die Blätter über den Sarg zu streuen, aber sie muß das gar nicht tun.
Die Kinder sind irgendwie ganz wild darauf, endlich was mit den Blättern machen zu dürfen und ganz anders als sonst gehen die Trauergäste nicht einer nach dem anderen zum Grab, sondern eine ganze Schar von Kindern steht rings herum und wirft rote Rosenblätter aus Papier auf Leonies Sarg. Manche rufen etwas, die Kinder sind aufgeregt und fast ein bißchen ausgelassen, doch keinesfalls albern. „Tschüß“, höre ich ein Mädchen rufen und ein Junge sagt: „Bis denne!“
Die Lehrer sind es, die die Schar dann wie eine Schafherde weiter treibt und dann tun es die Erwachsenen den Kindern nach und in kleinen Gruppen stellen sie sich um die Grube und werfen ihre Rosenblätter hinein. Antonia sammelt die leeren Körbchen wieder ein.

Normalerweise gehen ja die engsten Angehörigen zuerst ans Grab, aber das haben die Kinder eben anders bestimmt. Es ist eben anders, wenn Kinder ein Kind verabschieden…
Ganz zum Schluß gehen die drei Frauen, also Leonies Mutter und die beiden Omas, zu Herrn Leuschner und Herrn Wittrock, die ein paar Schritte vom Grab entfernt stehen geblieben sind und dann endlich ist der Zeitpunkt gekommen, daß alle die Leonies Familie waren, auch der leibliche Vater, gemeinsam und vereint um ihr totes Kind trauern und Abschied nehmen können.

Leonie ist gegangen und jeder, der ihr nahe stand, konnte diesen letzten Weg mit ihr gehen. Für die Lebenden endet er am Grab, an der Stätte der Erinnerung.
Doch wie sage ich immer? Nur der, an den sich niemand erinnert und den niemand in seinem Herzen bewegt, ist wirklich ganz weg.

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(©si)