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Geschichten

Das Tutehorn

In einem Dorf in Süddeutschland lebte Dietmar. Niemand wusste so genau, wie alt Dietmar war. Die einen sagten, er sei ein vorzeitig gealtertes Kind, die anderen meinten, er sei ein kindlich aussehender Erwachsener. Wenn man ihn fragte, dann zeigte er einem immer vier Finger einer Hand, lachte meckernd und rief: „Da, da da!“
Denn richtig sprechen konnte Dietmar nicht. Der Junge war von Geburt an behindert, trug eine dicke Brille, sprach nur unzusammenhängende, guttural klingende Silben und konnte sich auch nicht richtig bewegen.

Deshalb war Dietmar, der im ganzen Dorf und darüber hinaus bekannt war, wie der sprichwörtliche bunte Hund, immer nur auf einem dreirädrigen Fahrrad unterwegs, mit dem er nicht umfallen konnte. Dietmar lebte bei seiner Mutter, die sich als Putzfrau das nötige Geld für sich und ihren Sohn verdiente. Man wußte, dass die Frau ihr Kind abgöttisch liebte und ihm daheim, im Rahmen ihrer Möglichkeiten ein schönes Leben gestaltete.

Tagein, tagaus konnte man Dietmar auf seinem Fahrrad die Hauptstraße rauf und runter fahren sehen. Und immer, wenn er Kinder sah, winkte er ungelenk und drückte ganz oft auf den dicken, schwarzen Gummiball an seinem Tutehorn. „Tutehorn“ war eines der wenigen Worte, die Dietmar sprechen konnte. Und so tutete er, rief immer wieder „Duudehonn“ und winkte.

Die Kinder mochten das und winkten immer zurück, weil sie wussten, dass Dietmar sich darüber riesig freute.
Dietmar kannt mich als Bestatter natürlich, denn einmal hatte ich bei einer besonders feierlichen Beerdigung einen Zylinder getragen, was er ganz toll gefunden hatte.
Seitdem kam er immer ganz aufgeregt angeradelt, fuhr dann neben mir her und klopfte sich mit einer Hand leicht auf den Kopf und lachte. Das mit dem Hut konnte er nicht vergessen. Ich gebe es zu, manchmal war es schon nervend, wenn der Junge da ganze Strecken neben mir her fuhr, ständig mit seinem am Fahrrad montierten Horn tutete und sich dann wieder auf den Kopf klopfte. Aber, was will man machen. Der liebe Gott hat diese Pflanze wachsen lassen, also muss man sie auch gießen. Jedes Geschöpf ist wertvoll.

Eines Tages sah ich Dietmar, und er tutete nicht mehr, er saß auch nicht auf seinem Dreirad, sondern er lag bei mir auf dem Edelstahltisch. Dietmar war in der Nacht zuvor gestorben. Ganz friedlich sei er eingeschlafen und einfach nicht mehr wachgeworden, erzählte seine Mutter.

„Nee, nee, heut‘ bleibt überall ungeputzt“, sagte sie: „Dem Ditemar is‘ mir wischtiger.“ Dann schniefte sie in ihr großes Stofftaschentuch, bei dem es sich auch um eine Tischdecke mittlerer Größe hätte handeln können. Das Lied von der Biene Maja sollen wir bei der Trauerfeier spielen, das mochte er so gerne. Keinen teuren Sarg, nein, dafür hätte sie kein Geld. Aber einen schönen Grabstein wollte die Frau für ihren Sohn, einen, auf dem der Steinmetz das Fahrrad eingravieren sollte. „So hat dem doch jedes hier gekannt, odda?“

Die Trauerfeier war dann doch größer, als die Frau es erwartet hatte. Aus den fünf Leuten, die sie angekündigt hatte, waren dann am Tag der Beisetzung doch fast 50 Trauergäste geworden. Nachdem der Pastor fertig war, wurde das Lied von der Biene Maja gespielt, und so manche Träne kullerte. Im Nieselregen wurde der Sarg ins Grab abgelassen und dann sah jeder zu, schnell wieder ins Trockene zu kommen.

Ein halbes Jahr später war die Erde des Grabes so weit gesackt, dass man hätte einen Grabstein aufstellen können. Doch es stellte sich heraus, dass dies die finanziellen Möglichkeiten von Dietmars Mutter weit überstieg. So steht seitdem, jetzt schon viele Jahre lang nur das schlichte Holzkreuz mit Dietmars Namen und Lebensdaten auf dem schön bepflanzten Grab. Wer nachrechnet, bekommt schnell heraus, dass der „Junge“ tatsächlich schon 51 Jahre alt gewesen ist.
Doch das war nicht das einzige Erstaunliche an diesem Holzkreuz. Viel besonderer ist, dass es wohl das einzige Grabkreuz auf der ganzen Welt ist, an dem der Bestatter ein Tutehorn angeschraubt hat. Und tatsächlich, immer mal wieder wird auf dem Friedhof getutet; und nicht nur Kinder gehen gerne zu Dietmars Grab und drücken auf den dicken schwarzen Gummiball an der Tute.

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Die Geschichten von Peter Wilhelm sind Erzählungen und Kurzgeschichten aus dem Berufsleben eines Bestatters und den Erlebnissen eines Ehemannes und Vaters.

Die Geschichten haben meist einen wahren Kern, viele sind erzählerisch aufbereitete Tatsachenerzählungen.

Die Namen, Geschlechter und Berufe der erwähnten Personen sind stets verändert.

Lesezeit ca.: 5 Minuten | Tippfehler melden | © Revision: | Peter Wilhelm 2. Juli 2022

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4 Kommentare
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Nobody
1 Jahr zuvor

Vermutlich wird den Eltern bei der Geburt prophezeit worden sein „der wird nicht alt“, aber Totgesagte leben länger.

Was ich bei diesen Menschen immer insgeheim denke „gäbe es mehr solcher Menschen, wäre die Welt ein friedlicherer Ort“.

Michael
1 Jahr zuvor

*Snif*
Das sind die Geschichten, für die ich das Bestatterweblog seit langem Liebe.
Die gehen ans Herz und zeigen ein Stück Menschlichkeit in der schweren Zeit der Trauer.
Danke dafür.

nelli
1 Jahr zuvor

einfach wunderbar deine Geschichten.

Red Baron
1 Jahr zuvor

Danke…..
Einfach eine schöne Geschichte in unserer verrückten heutigen Zeit




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