Geschichten

Der Franzose -6-

Wie wird der Mund einer Leiche verschlossen?

Ich könnte Sandy in den Hintern treten. Da ist sie doch tatsächlich, auch noch mit meinem Wagen, zum Friedhofsamt abgerauscht und hat ausgerechnet die Kopie von Monsieur Gerards Vorsorge liegen lassen.
Die kann sich auf was gefaßt machen! Wenn ich die erwische, erwürge ich sie mit der Totenkopfkette, die sie neuerdings so gerne um den Hals trägt.
Ich kann jetzt mit ihrer kleinen Möhre herumfahren, weil sie -so wie ich sie kenne- ganz bestimmt heute nicht mehr ins Büro kommt.

Ich schimpfe auf ihre Gedankenlosigkeit, ihre Flatterhaftigkeit und die Chuzpe, die sie immer wieder an den Tag legt. Ich kann ja nicht ahnen, daß Sandy einen Plan hat, in dem der Chevrolet Blazer eine Rolle spielt.

Beim Gewerbestammtisch belächeln sie den Firmen-Smart und Optikermeister Jahnert bringt einen Teller mit Brotresten raus: „Dem muß man was zu futtern geben, vielleicht wächst der ja noch.“

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Ha ha ha, was habe ich gelacht.

Gundel vom Kosmetiksalon meint: „Den hättest Du Dir ja auch untern Arm klemmen können und mit reinbringen, so’n süßen Kleinen.“

Ach, laß sie doch ihren Spaß haben.

Am nächsten Morgen kommt Sandy nicht. Sie ruft nicht an, an ihrem Handy meldet sich nur die Mobilbox.
Okay, mir reicht’s, ich schnappe mir am späten Vormittag die Unterlagen von Herrn Frotzek-Gerard und fahre selbst los. Erst zum Krematorium.
Heute ist die Qualle da, der dicke Schwitzepitter ist am frühen Morgen schon ganz fertig und pafft mich hinter seiner Zigarre her an: „Den Frotzek? Frotzek ist gestern untersucht worden und wurde heute Morgen um neun schon eingedost.“
Wow, mein Plan hat funktioniert, Monsieur Gerard ist bereits eingeäschert. Also war die Meldung von Fräulein Hitz vermutlich noch gar nicht bis zum Krematorium vorgedrungen. Okay, dann haben wir halt Tatsachen geschaffen.

Mein nächster Weg führt mich schräg gegenüber zum Friedhofsamt, wo auch Fräulein Hitz ihr Büro hat.
Auf dem Weg dorthin hält mich Herr Thomapyssek auf. Er ist körperbehindert. Er ist bucklig, läuft schräg, spricht schräg und hat einen verkürzten Arm. Normalerweise wäre das keine Bemerkung wert, aber Herr Thomapyssek ist einer von den ganz wenigen Behinderten, die aber auch bei wirklich jeder Gelegenheit auf ihre Behinderung hinweisen müssen und einen spüren lassen, wie schäbig es doch von einem ist, nicht behindert zu sein. Steinigt mich, aber ich mag solche Typen nicht. Es wird ja immer viel davon geredet, wie man falsch oder richtig mit Behinderten umgehen soll, aber daß es Behinderte gibt, die einem den richtigen Umgang und die Inklusion unmöglich machen, das finde ich immerhin mal bemerkenswert.
Herr Thomapyssek kommt nicht an den Schlitz vom Getränkeautomat. Er streckt und reckt sich, kann aber sein 50-Cent-Stück nicht einwerfen.
Ich mache den Fehler und biete ihm meine Hilfe an. „Soll ich?“, frage ich ihn und deute auf das Geldstück.

„Sehe ich so aus, als ob ich Hilfe bräuchte?“, keift er mich aus dem Mundwinkel an.

„Sorry“, sage ich, obwohl ich am liebsten einfach ja gesagt hätte. Ich will meines Weges gehen, da giftet mich der Zwerg von hinten an: „Na, was ist denn jetzt? Wollen Sie mich hier verdursten lassen?“

Also drehe ich mich um, nehme die Münze an und stecke sie in den Schlitz. „Was möchten Sie denn?“, frage ich ihn.

„Kann ich selbst!“, kräht er und kommt aber nur bis Espresso, alles was nicht Kaffee oder Espresso ist, ist zu hoch für ihn, er kann die Tasten nicht erreichen. Also hüpft er, getrieben von dem Ehrgeiz, es mir zu zeigen, daß er höchstpersönlich alleine im Stande ist, sich Hühnersuppe zu ziehen.

„Also dann“, sage ich, tippe mir zum Gruße an die imaginäre Hutkrempe und will gehen.

„Haben Sie mir gerade einen Vogel gezeigt? Machen Sie sich am Ende über mich lustig? Ja, ja, das haben wir gerne. So als großgewachsener Mensch sich lustig machen über jemanden, der vom Schicksal geschlagen ist…“

„Meine Güte, machen Sie doch nicht so’n Gewese! Welchen Knopf soll ich drücken?“

„Sie sind sehr herablassend!“

„Nein, ich bin der, der an den Knopf kommt. Also, was denn jetzt, Hühnersuppe oder was?“

„Hühnersuppe!“

Ich drücke den Knopf und scheppernd setzt sich im Apparat die Suppenzubereitung in Gang. Es gibt ein urksendes Geräusch, ein leerer Becher fällt in den Ausgabeschacht, aber es kommt keine Suppe.
Herr Thomapyssek nimmt den Becher, hält ihn wie eine Handgranate und scheint bereit zu sein, mich damit zu bewerfen: „Das haben Sie für extra gemacht! Sie sind behindertenfeindlich!“ Er zerknüllt den Becher.

Ich ziehe nur die linke Augenbraue hoch und gehe. Im Weggehen höre ich noch, wie etwas verspätet nun doch die Suppe aus dem Automaten sprudelt und Thomapyssek verzeifelt versucht, einen Teil davon mit dem zerdrückten Becher aufzufangen. Dabei schimpft er mich einen Nazi, einen Kriegsverbrecher und einen Euthanasiefreund.

Trotz der Dramatik erzeugt die Situation in mir ein inneres Grinsen. Und das trage ich auch noch in mir, als ich drei Minuten später vor Fräulein Hitz‘ Büro stehe.
Ich klopfe.
Nichts.
Ich klopfe nochmals und nach einer längeren Pause höre ich ein schwaches: „Ja bitte!“

Das ist nicht Silke-Claudia Hitz, die da zurückgelehnt hinter ihrem Schreibtisch sitzt, das ist nur ein Schatten ihrer selbst!

Das sonst stets in einer modischen Frisur getragene rote Haar zeigt deutliche Kampfspuren und die Augen der jungen Schönen sind sehr, sehr klein.

„Moin!“, sage ich und Fräulein Hitz wedelt mit beiden Händen: „Schreien Sie doch nicht so! Mein Gott, mir platzt gleich mein Schädel!“

„Ich komme wegen der Unterlagen des Herrn Frotzek“, sage ich, doch die Ortspolizeioberste winkt nur müde ab: „Hat sich erledigt, ich habe den Leichnam heute Morgen um acht schon freigegeben.“

Ich will gerade fragen, was den Sinneswandel der stacheldrahtgestählten Eisenfrau bewirkt hat, da fällt mein Blick auf die Totenkopfkette um ihren Hals…
Auf einmal fällt es mir wie Schuppen von den Augen und mir wird klar, was passiert ist. Es fügen sich die Puzzlesteine zusammen und ich weiß schlagartig, warum Sandy gestern die ganz langen Stiefel an hatte, warum sie meinen schicken Wagen benötigte und was sie seit dem Feierabend gestern gemacht hatte…


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Geschichten

Die Geschichten von Peter Wilhelm sind Erzählungen und Kurzgeschichten aus dem Berufsleben eines Bestatters und den Erlebnissen eines Ehemannes und Vaters.

Die Geschichten haben meist einen wahren Kern, viele sind erzählerisch aufbereitete Tatsachenerzählungen.

Die Namen, Geschlechter und Berufe der erwähnten Personen sind stets verändert.

Lesezeit ca.: 8 Minuten | Tippfehler melden | Peter Wilhelm: © 25. September 2015

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Hajo
9 Jahre zuvor

Abgründe tun sich da auf bei Bestatters
Sodom und Gomorra 🙁

Chris
9 Jahre zuvor
Chris
9 Jahre zuvor

noch ’n Nachtrag:

Die „Berufsirgendwas“ mag ich auch nicht, die jeden Satz damit beginnen: „Übrigens, ich bin behindert/schwul/lesbisch/transsexuell/etc. und darum…

Sollte doch alles ganz normal sein, nicht?

Jan
Reply to  Chris
9 Jahre zuvor

@Chris: das lustige für mich zb ist es egal wer oder was wer ist.
Es ist mir egal was einer mag. Es ist mir auch egal ob einer nicht mag was ich gern mag. Es juckt micht ob jemand anders gepolt ist als ich. Warum sollte es das auch?

Aber anscheinend ist es so gewünscht das man jedem seine Lebensweise aufs Auge drückt. Und dann erklärt das nur die eigene Lebensweise die einzig richtige ist.

Mic
9 Jahre zuvor

Ach, die gute Sandy, das nenne ich mal Dienst an der Sache :-)!

Lochkartenstanzer
9 Jahre zuvor

Durfte das Sandy als Überstunden abrechnen? 🙂

Gairon
9 Jahre zuvor

@Lochkartenstanzer Besser nicht, dann müsste sie Vergnügungssteuer drauf bezahlen grins
Sandy ist einfach unbezahlbar…lach..ich hätte sie ja mal gern kennengelernt. Und nein nicht mit amurösen oder hormonellen hintergedanken, dazu fühl ich mich auf dem anderen ufer doch zu wohl grins

Georg
Reply to  Gairon
9 Jahre zuvor

@Gairon:

Ufer ist Ufer,Hauptsache es ist schön dort 😉

Winnie
9 Jahre zuvor

Zitat:
„Nein, ich bin der, der an den Knopf kommt…

Der Satz ist der allerbeste. 🙂

nadar
9 Jahre zuvor

Leute, bei denen ich nicht weiß, ob sie Hilfe benötigen oder wünschen, versuche ich zu fragen: „Darf ich Ihnen helfen, xy zu tun?“
Die dürfen dann entscheiden ob ich darf, nicht ob sie etwas benötigen. 🙂




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