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Der Franzose -2-

Gerhard Frotzek, der lieber Monsieur Gerard genannt werden wollte, stirbt an einem regnerischen Freitagmorgen mitten auf der Straße. Am kleinen Platz gegenüber vom Laden der Gemüsefrau ist eine Straßenbahnhaltestelle und ein Kiosk.
Dort stehen morgens um halb acht sehr viele Leute und warten auf die Straßenbahn in Richtung Stadtmitte, und am Kiosk stehen die Säufer und Tagediebe, die sich dort mit der ersten Flasche Doppelkorn des Tages versorgen, die sie gleich an Ort und Stelle trinken.
Und weil das nicht erlaubt ist und weil er selbst ganz gerne solchen Doppelkorn verzehrt, hat der Kioskbesitzer seitlich am Kiosk ein Schild aufgehängt, auf dem steht: „Polizeiliches Trinken verboten!

Ja und genau schräg gegenüber direkt vor dem noch geschlossenen Jeansladen und direkt vor den Augen von etwa 200 Straßenbahnwartenden und einem Dutzend Polizeitrinkern fällt an diesem Morgen Gerhard Frotzek um und röchelt.
Stimmengewirr macht sich breit, schon nach Sekunden haben alle Anwesenden begriffen, daß da drüben was passiert ist. Handys werden gezückt, Fotos und Videos werden gemacht.
Die Straßenbahn kommt, nimmt aber nur einen kleinen Teil der Wartenden auf, der Rest bleibt stehen und gafft.

Die Gemüsefrau, die immer schon um sieben ihren Laden öffnet, hat die Rettung angerufen und sich auf einem Campingstuhl vor ihrem Laden unter eine schützende Markise gesetzt.
„Do passiert ja nie ebbes, und wonn mal was passiert, donn will isch des a sehe!“

Die zwei Männer vom Unfallrettungsdienst sind mit der Menge der Gaffer überfordert. Die Leute haben inzwischen den erst rot und dann blau angelaufenen Mann umringt und diskutieren, ob der nun besoffen, herzkrank oder schon tot sei.
Nur mühsam können sich die Retter ihren Weg bahnen. Die Umstehenden empfinden es als Zumutung, daß jetzt auch noch zwei samaritische Malteser die Show stören. „Ich will dem Ollen beim Abnippeln zugucken!“, ruft eine grell geschminkte, etwa 16-Jährige und redet dann wieder in ihr Handy.

Der Notarzt kommt mit Getöse und bahnt sich hupend seinen Weg. Mitten auf den Schienen bleibt er stehen, die herannahende Straßenbahn muß stehen bleiben, das macht aber nichts, es wäre vermutlich sowieso niemand eingestiegen, bei so einer „geilen Show“.

menschen-pixabay

Während sich die Rettungssanitäter und der Notarzt um den mit dem Tode ringenden Herrn Frotzek kümmern, kommt auch die Feuerwehr.
„Der Typ brennt doch gar nicht, was wollen die denn hier?“, sagt ein Rentner und schließt etwas dichter auf, damit ja keiner zwischen ihn und die „geile Show“ treten kann. „Ist doch nur ein arbeitsloser Besoffener“, sagt er noch und fügt hinzu: „Früher hätte es sowas nicht gegeben, da sind die alle in den Arbeitsdienst gekommen, ins Lager oder an die Ostfront!“

Ein Jugendlicher nickt dem Alten zu: „Ostfront kenn‘ ich, Mecklenburg, oder?“

Die Männer von der Feuerwehr schieben die Neugierigen weg, unterstützt von der ebenfalls inzwischen eingetroffenen Polizei. Dann werden zwei Bettlaken aufgespannt und einigen der Gaffern wird die Sicht versperrt.
„Ist ja fürchterlich, diese ganzen Neugierigen“, sagt eine Frau, die ihre grauen Haare zu einem dicken Knoten geformt hat und darüber eine gepunktete, durchsichtige Plastikhaube zum Schutz vor dem immer wieder einsetzenden Nieselregen trägt.
„Das ist doch nicht fürchterlich“, entgegnet ein rotgesichtiger Glatzkopf: „Letzte Woche am Oliver-Kahn-Platz, da ist einer gestorben, der hat wenigstens geschrien. Hier passiert ja nichts.“

Herr Frotzek bekommt von alledem nichts mit. Es wäre ihm auch höchst peinlich gewesen, mit nacktem Oberkörper auf dem nassen Pflaster zu liegen und von so vielen Menschen angestarrt, fotografiert und gefilmt zu werden.

„So! Wer jetzt nicht sein Handy wegpackt und sofort verschwindet, den packen wir sofort ein und nehmen ihn mit!“, ruft ein uniformierter Polizeikommissar und schiebt die Menge mit ausgebreiteten Armen ein, zwei Meter vom Unglücksort weg.
Für einen kurzen Moment schauen alle auf den Polizisten und keiner von den Gaffern bekommt mit, daß Monsieur Gerard ein letztes Mal röchelt und dann mit hervorquellender Zunge in sich zusammensackt.
Noch einmal setzen die Retter und der Notarzt medizinisches Gerät an, noch einmal gelingt es ihnen einen piepsenden Hauch von Leben in den dem Tod geweihten Körper des halbnackten Mannes hinein zu elektrisieren, dann endlich nickt der Notarzt und die Retter packen Herrn Frotzek auf eine Trage und schieben diese in den Rettungswagen.
Wahrscheinlich wissen sie, daß ihr Patient die Fahrt ins Krankenhaus kaum überleben wird, aber sie alle wollen nur weg, weg aus dem pissigen Fusselregen, weg von den Neugierigen.

Enttäuschung und Erleichterung macht sich breit, als der Rettungswagen, gefolgt vom Notarztwagen mit lautem Gehupe die Szene verläßt.
Enttäuscht sind die Neugierigen, denen man die geile Show gestohlen hat, erleichtert die Fahrer der inzwischen drei wartenden Straßenbahnen, die nun endlich freie Gleise haben.
Die Feuerwehr und die Polizei rücken ab, zurück bleiben das Dutzend Korntrinker am Kiosk und die Gemüsefrau auf ihrem Campingstuhl. „Frische Äpfel, leckere Kiwis! Kauf leckere Bananen!“


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Die Geschichten von Peter Wilhelm sind Erzählungen und Kurzgeschichten aus dem Berufsleben eines Bestatters und den Erlebnissen eines Ehemannes und Vaters.

Die Geschichten haben meist einen wahren Kern, viele sind erzählerisch aufbereitete Tatsachenerzählungen.

Die Namen, Geschlechter und Berufe der erwähnten Personen sind stets verändert.

Lesezeit ca.: 6 Minuten | Tippfehler melden | © Revision: 21. September 2015 | Peter Wilhelm 21. September 2015

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twl
8 Jahre zuvor

Wenigstens hat die Gemüsefrau die Rettung angerufen… ^^

Red Baron
Reply to  twl
8 Jahre zuvor

@twl: Das kenn ich. Hab das selber schon erlebt.
Ich wollte Erste Hilfe leisten, mit HLW (Herz-Lungen-Wiederbelebung) usw….
Bei der Aufforderung Platz zu machen, „Ich kann helfen. Ich weiß, was zu tun ist.“, sind die noch näher zusammengerückt.
Der darf nicht durch. Wenn der hilft, könnte der uns noch die geile Show verderben.
Erst auf die Androhung von Gewalt: Entweder ihr macht Platz, oder ihr könnt eure Nahrung demnächst aus der Schnabeltasse nehmen, sind sie dann auf die Seite gegangen. Maulend, aber immerhin . Ich war dann sehr erstaunt, daß mir dann einer der
Gaffer sogar fachmännisch geholfen hat. Warum nicht gleich so.
Leider bin ich etwas zu spät gekommen, die Lippen waren schon blau. nach ca. 1 1/2 Stunden hat dann der Notarzt gesagt: Laßt es, der ist mausetot. Und zu uns: Ihr habt als Ersthelfer alles richtig gemacht, wenn alle das so machen, hätten wir weniger Arbeit.
Ist aber leider kein Trost.

Naya
Reply to  Red Baron
8 Jahre zuvor

@Red Baron:
Und ich hatte bis eben noch gehofft, das wäre hier deutlich überspitzt gewesen.

Ekelhaft solche Leute.
Kommt niemandem von denen denn in den Sinn, daß sie selber auch mal irgendwann Hilfe gebrauchen könnten?

8 Jahre zuvor

Bah. Hoffentlich stirbt unsereins nicht so. Dann lieber noch live im TV :-/

Xenaris
8 Jahre zuvor

Gaffer sind was Ekelhaftes. Gesteigert nur noch durch handyfilmende Gaffer.

Hajo
Reply to  Xenaris
8 Jahre zuvor

@Xenaris:
.. und wer fördert das? Das Blatt mit den vier Grossbuchstaben!
Ekelhabt ist viel zu milde!

LeaM.
8 Jahre zuvor

Mir kommt gerade mein Mittagessen wieder hoch…. 🙁 Was fürn Volk….

Hab auch schon ähnliches erlebt….ein grosser Kreis von Menschen um eine verletzte Person und ich war die Erste, die Hilfe gerufen hat…

Was finden viele nur am Gaffen???? Wenn ich beispielsweise irgendwo einen Rettungswagen stehen sehe, mag ich gar nicht sehen, das da wohl jemand leidet und drücke im Stillen nur beide Daumen für die Person

Red Baron
Reply to  LeaM.
8 Jahre zuvor

@LeaM.: Seh ich genauso. wenn irgendetwas passiert ist und ich komme dazu, kontrolliere ich, ob meine Hilfe gebraucht wird.
Wenn da dann vielleicht schon ein RTW steht, mach ich, daß ich weiterkomme. Denn was die Rettungskräfte nicht brauchen können, ist noch ein weiterer Gaffer, der vielleicht dann auch noch im Wege steht.

Jay
8 Jahre zuvor

Das hat Kishon-Niveau…

ein anderer Stefan
Reply to  Jay
8 Jahre zuvor

@Jay: Ich weiß nicht, Kishon war glaube ich nicht so zynisch wie das reale Leben hier ist.




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