Geschichten

Der Schrei

Ein gellender Schrei hallt durch die hohe Eingangsloggia unseres Bestattungshauses. Mord! Oder doch Totschlag?
Noch eine weibliche Person schreit. Spitz und lang anhaltend, auf und abschwellen wie eine altersschwache Feuerwehrsirene.
Meine Güte, was ist passiert?

Die beiden schreienden Frauen müssen etwas ganz Schreckliches gesehen oder erlebt haben – etwas, das ihnen das Blut in den Adern gefrieren und ihnen vermutlich die Haare zu Berge stehen läßt.

Zur gleichen Zeit im Chefbüro:
Ich sitze, ein Laugenbrötchen mit Goudakäse (nicht fettreduziert, der schmeckt nicht) essend, kaue genußvoll vor mich hin und nippe Gedanken auf die Reise schickend an einer Tasse schaumfreien, nicht ganz heißen Kaffees.
Wieder ertönen spitze Schrei, jetzt kurz und abgehackt. Es scheint sich eine dritte Frau dazugesellt zu haben, die Schreiarie ist vom Duett ins Trio gewechselt.
Ich lege die Füße auf den Rand des Papierkorbs, wische mir die letzten Krümel des Laugengebäcks vom Mund und schaue den Wolken draußen am Himmel beim langsamen Ziehen zu.

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Noch ein spitzer Schrei, schlimmer als im spannendsten Gruselfilm oder Thriller.
Doch immer noch regt mich das kein bißchen auf.
Warum soll ich rennen? Rennen strengt an, Rennen macht müde, Rennen regt mich sowieso auf. Mein Wahlspruch, inzwischen zig-mal kopiert, lautet ja: Wer weiter läuft, als sein Auto lang ist, der ist ein Jogger.
Nein, ich bleibe da sitzen und setze der Unsportlichkeit noch die Krone auf, indem ich mir eine Zigarette aus der Packung klopfe und mit einem Zippo-Feuerzeug entzünde.

„Cheeeeeheffffff!“ ruft eine der Frauenstimmen. Man kann nicht genau sagen, ob es Frau Büser, Praktikantin Nadine oder Antonia war. Wenn die Hühner ihre Schreie aufs achtfach gestrichene C geschraubt haben, verkommen ihre Stimmen zur kakophonischen Zwölfton-Wolfsquinte und ich kann sie nicht mehr auseinanderhalten.

„Hilfeeeeee!“

Noch ein Schrei.

Ich muß da gar nicht hingehen, ich weiß auch so, was da ist.

Obwohl… ich muß doch hingehen, denn sonst passiert im Unternehmen den restlichen Tag gar nichts. Die bleiben da wie angewurzelt stehen, schreien, regen sich auf und am Ende bekommt eine noch einen Herzinfarkt.

Ich rauche erst fertig, unterdessen immer mal wieder ein spitzer Schrei, dann nehme ich noch einen „wönzögen Schlock“ Kaffee und mache mich auf den Weg; auf einen Weg, den nur ein Mann gehen kann und an dessen Ende jemand sterben wird.

In der Halle erwartet mich genau das, was ich bereits vor meinem geistigen Auge gesehen hatte.
Frau Büser, Nadine und Antonia stehen da, dicht nebeneinander und deuten mit je einem ausgestreckten Arm auf das Objekt des Grauens.
Ihre Gesichter sind verzerrt vor Angst, Panik umspielt ihre Antlitze.

Das Objekt des Grauens? Es ist eine Spinne.
Eine winzige Spinne von vielleicht einem halben Zentimeter Durchmesser, inklusive Beinen.

„Chef! Machen Sie die weg!“ ruft Frau Büser und hält sich mit der anderen Hand den Mund zu. Wahrscheinlich hat sie Angst, die Spinne könne sie anspringen und direkt in ihrem Mund landen.
Antonia macht einen Schritt zurück, als ich mich dem Tier nähere, sie befürchtet sicherlich, die Spinne könne giftig sein und wolle sie stechen.
Nadine reißt ihre an und für sich schon großen Augen noch weiter auf und trippelt von einem Fuß auf den anderen, so als ob sie ganz dringend auf die Toilette müßte.

„Ach, das liebe kleine Tierchen. Laßt es doch!“ sage ich und grinse.

„Machen Sie das Vieh tot!“ ruft Frau Büser und ihr Blick verheißt nichts Gutes.

Jetzt gibt es ja Leute, die holen in solchen Situationen aus Achtung vor der Kreatur ein Glas und eine Postkarte, stülpen dann das Glas über die Spinne, schieben danach vorsichtig die Postkarte zwischen Wand und Glasöffnung und haben das Ungetüm so gefangen; transportieren es dann ins Freie und lassen es dort frei.
Vielleicht würde ich das auch so machen, keine Ahnung. Aber man läßt mich nicht.

Ich will gerade die Situation noch etwas auskosten, noch ein wenig mit dem Schrecken der drei Grazien spielen, da stupst mir von hinten jemand in den Rücken. „Mach sofort das Viech tot!“ Es ist meine Frau, die das sagt und sie sagt es so, daß ich weiß was mir blüht, wenn ich ihr nicht gehorche. „Los!“ kommandiert sie, drückt mir eine zusammengerollte Zeitung in die Hand und weicht einen Schritt zurück. Ja, auch die Allerliebste, die ein ausgewachsenes Kamel nur durch bloßes Hinschauen zum Sterben bringen kann, hat Angst vor Spinnen.

Einmal saßen wir in einer Kneipe und ließen den Feierabend so dahin plätschern, da betraten vier große Kerle in Lederkluft die Gaststätte. Sie benahmen sich sehr rüpelhaft, pöbelten die Gäste an und der recht jugendlich wirkende Mann hinter der Theke hatte ganz offensichtlich Angst vor den Typen.
Die Allerliebste mußte natürlich genau in diesem Moment mal auf die Toilette und es kam, wie es kommen mußte.
Als sie wieder zurück kam, verstellte einer der Kerle ihr den Weg und fragte sie irgendwas, in dem das Wort „Süße“ vor kam.
Ich glaube, das Einzige, was die Allerliebste zu den Typen gesagt hat, war so etwas wie „Was is‘ ’n los?“ und ich erinnere mich nicht daran, daß sie ihre Hände auch nur gehoben hat, allein der böse Blick und das vorgeschobene Kinn reichten aus, um die Typen aus der Kneipe zu vertreiben. Ja, so ist sie, meine Allerliebste.

Nur…
Nur wenn eine Spinne im Spiel ist, dann ist die Rockervertreiberin auf einmal ganz Mäuschen, ganz Weibchen und ganz ängstlich. „Mach sofort das Viech tot!“ wiederholt sie und diesmal kassiere ich nicht nur einen kleinen Stupser sondern einen heftigen Stoß in den Rücken.
Sagte ich schon mal, daß meine Frau mir ganz oft weh tut? Vor allem dann, wenn sie meint, das sei doch gar nicht so fest gewesen?

Okay, ich nehme also die zusammengerollte Zeitung und versetze dem armen Tier einen Schlag ins Genick. Also jetzt mal so grob an die Stelle, von der ich annehme, da könnte das Genick der Spinne sein, wenn sie denn eins hätte.
Die Spinne reagiert wie erwartet, sie stellt das Leben ein und fällt von der Wand. Dann liegt sie da auf dem Boden und ist tot.

Ich muß das nochmal erzählen:
Ich schlage also mit der Zeitung das Tier tot. Es fällt nun von der Wand, aber nicht senkrecht nach unten, sondern durch die Wucht des Schlages in einem Bogen und landet…
…genau vor den Füßen der inzwischen vier Frauen.

Vierfaches Schreien, acht Füße springen aus dem Stand zwei Meter zurück.

„Die lebt noch! Die beißt bestimmt! Die können stechen! Die sind giftig!“

„Nein, die lebt nicht mehr, die ist tot – mausetot“, sage ich und will das kleine Tier am toten Beinchen fassen und nach draußen bringen.

„Wenn Du die anfaßt, bis Du tot!“ sagt die Allerliebste und ihre Augen funkeln schon wieder so kameltötend.

Also gut, ich hole ein bißchen Handtuchpapier aus einem der Waschräume, greife damit das tote Tierchen und trage es raus.
Die Quadriga folgt mir.
„Schmeißen’se die bloß nicht in den Vorgarten, die krabbelt sonst wieder rein“, ruft Frau Büser.

„Die ist tooohooot!“ sage ich und will ihr die Spinne zeigen. Sie rennt weg.

Nun gut, ich werfe das Stückchen Papier mit der Spinne in den Gulli.

„Da kommt die wieder raus“, behauptet meine Frau.

„Ja und? Erstens kommt die nicht mehr da raus, weil die tot ist, und dann findet sie den Weg bestimmt nicht mehr.“

„Aha, Du gibst also zu, daß die doch noch leben könnte, sonst hättest Du das mit dem Weg nicht gesagt.“

„Nein, die ist tot.“

„Ach komm, Du tust nur immer so, als ob Du die tot machst und dann betäubst Du die nur und keine zehn Minuten später sind die wieder im Haus“, schmollt meine Frau und kamelfunkelt.

„Kochendes Wasser“, sagt Antonia und Nadine nickt zustimmend: „Ja, wenn man einen Eimer kochendes Wasser hinterher gießen würde, würde die in die totgebrüht und in die Kanalisation gespült.“

„Wo krieg ich jetzt bitteschön einen Eimer kochendes Wasser her?“

„Aus der Kaffeeküche“, tönt es unisono.

Wenn meine Frau nicht so gucken könnte, hätte ich mich nicht hingestellt und mit einem 1-Liter-Wasserkocher einen ganzen Eimer heißen Wassers produziert.
Aber sie kann eben so gucken.

Hexe!

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(©si)