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Endlich

Fehler durch Lektorin Alexandra bereinigt.

Frau Kutscher ist eine sehr schöne alte Frau. Ich finde ja fast alle Frauen schön, jede hat auf ihre Weise etwas ganz Besonderes. Kompliment, lieber Gott, da ist Dir was gelungen.

Aber Frau Kutscher hat es Damenhaftes, etwas Würdiges und aus ihren Augen sprüht Intelligenz und ein wacher Verstand. Schon wie sie ihre Worte zu setzen weiß, zeigt mir, daß ich es mit einem gebildeten Menschen zu tun habe. Sie ist 81 Jahre alt, erscheint vielleicht ein paar Jahre jünger, aber das ist es nicht, was mich dazu bringt, sie schön zu finden. Ich kann es auch nicht näher beschreiben, es ist die Art, wie sie sich gibt, wie sie spricht, wie sie sich bewegt. Wirklich, für so eine alte Frau strahlt sie etwas Besonderes aus.

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Ihr Mann war etwas älter, 85, und jetzt ist er tot.

Ethnologe sei er gewesen, Professor an der Uni, Autor mehrerer Bücher über Völkerkunde und es gäbe kaum einen Flecken auf der Landkarte wo er noch nicht gewesen sei und kaum ein Naturvolk, das er nicht irgendwann besucht habe.

„Aber nachdem er diese Krankheit bekommen hat… Meine Güte, das war schrecklich. Dieser geistreiche Mann, ich habe förmlich an seinen Lippen gehangen… und dann, was ist aus ihm geworden? Ein sabbernder Greis mit weniger Verstand als ein Kleinkind…“

Frau Kutscher wischt sich mit einem Stofftaschentuch eine feuchte Stelle aus dem Augenwinkel, man merkt, daß ein Ruck durch sie geht und sie diesen kleinen Einblick ins Private auf irgendeine Weise bereut. Sie wird förmlicher, möchte jetzt die Formalitäten erledigen, doch eine kurze Weile später, sie hat Kaffee bekommen und wir haben schon über dies und das gesprochen, kommt sie doch noch einmal auf ‚diese Krankheit‘ zurück. Alzheimer, vermute ich, sie nennt es nicht beim Namen.

„Aufgefallen ist mir das zunächst, weil mein Mann mir Sachen zweimal erzählt hat. Das war überhaupt nicht seine Art. Dieser Mann hat jederzeit aufs Wort genau gewußt, was in Gesprächen gesagt worden ist, die schon Jahrzehnte zurücklagen. Er hat es nicht einfach nur so erzählen können, sondern tatsächlich noch den exakten Wortlaut wiedergeben können. Ach, was konnte mein Mann erzählen! Sie können es sich nicht vorstellen, wie er die Menschen fesseln konnte, wenn er von seinen Reisen berichtete. Aber ein überflüssiges Wort? Nein, das hat es nie gegeben. Und dann beginnt er, Sachen doppelt zu erzählen. Ganz banale Dinge, er sagt es zu mir, ich nicke oder sage etwas Zustimmendes, wir sind uns einig, alles ist besprochen und eine Sekunde später sagt er das Gleiche, so als habe er es niemals zuvor gesagt.

Zunächst dachte ich an einen Spaß, den er sich machen wollte, doch er wurde richtig böse, wenn ich sagte, daß er das schon einmal gesagt habe. Ansonsten war überhaupt nichts zu merken, nur dieses Doppeltsagen.
So blieb das auch, es wurde auch nicht mehr, zwei-, dreimal am Tag kam das vor und ich schob es schließlich auf sein Alter und begann mich schon daran zu gewöhnen, da kam mein Mann eines Tages nicht von seinem Morgenspaziergang zurück. Dieser Spaziergang war ein Ritual. Den machte er seit fast 20 Jahren jeden Morgen. Vom Haus aus zum Volksgarten, dort die Enten und Schwäne füttern, dabei eine Pfeife rauchen, das durfte er nämlich nicht, Zigaretten ja, aber keine Pfeifen und Zigarren, die stinken so lange. Auf dem Rückweg holte er Brötchen und wenn ich aus dem Bad herunterkam, war der Kaffee gekocht und die Brötchen lagen im Körbchen. Nur Eier hat er nie gekocht, das bekam mein Mann nicht hin, da hatte er kein Händchen für.“

Sie lächelt, knetet ihr Taschentuch, seufzt und fährt fort:

„Und dann kam dieser Tag, an dem er nicht zurückkam, ich komme herunter, kein Kaffee, keine Brötchen, mein Mann nicht da. Nun, vielleicht ist er aufgehalten worden, dachte ich, aber nachdem dann eine Stunde herum war, habe ich mich fertiggemacht, um nach ihm zu suchen. Ein Handy hatte er zwar, aber das nahm er nie mit, nie! So was von stur!“

Sie klopft mit der Faust auf den Tisch, so als ob die Mitnahme eines Handys an der eingetretenen Situation etwas hätte ändern können.

„Ich will gerade das Haus verlassen, da fährt ein Polizeiwagen vor. Haben Sie dafür Töne? Ein Polizeiwagen! In unserer Straße! Und der hält auch noch vor unserem Haus. Wir haben nie etwas mit dem Büttel zu tun gehabt und das war auch gut so. Mein Mann konnte Polizisten nicht ausstehen. Kanzlerknechte nannte er die Beamten abschätzig, vielleicht zu Unrecht. Aber mein Mann hat sich zeitlebens immer sehr darüber aufgeregt, daß während der Diktatur die Dümmsten und die größten Proleten auf einmal eine Uniform anhatten und die Leute schikanieren konnten. Dann kamen die Besatzer, hier bei uns waren das die Tommies, und ehe man es sich versah, waren die allergrößten Hitlerverehrer über Nacht auf einmal wieder in Amt und Würden. Mein Mann hat immer gesagt, daß die ja nur Glück gehabt haben, daß sie nicht in der sowjetischen Zone gewesen sind, da sollen alle eingesperrt worden sein, die Uniform trugen, Straßenbahnschaffner, Soldaten, eben alles, was Uniform trug.

Na ja, ich will Sie nicht langweilen, jedenfalls hatte mein Mann für Polizisten immer nur so etwas wie Verachtung übrig. ‚Was ist das denn für ein Beruf, bei dem man die meiste Zeit die Leute schikaniert und dann letztlich doch nicht versteht, was die einem sagen?‘ Das hat mein Mann immer gesagt. Und jetzt steht so ein Auto vor unserer Tür und ein Beamter steigt aus. Ich muß ja sagen, daß der sehr nett war. Erst da entdeckte ich, daß mein Mann hinten im Polizeiauto saß, können Sie sich meinen Schrecken vorstellen?

Er sei in den Volksgarten gegangen, habe sich dort seiner sämtlichen Kleidung entledigt und sich dann nackt auf eine Parkbank gelegt, wo ihn dann Leute entdeckt haben.

Ich solle besser auf ihn aufpassen, meinte der Beamte noch zu mir und der andere fragte, ob ich denn meinen Mann und seine Neigungen nicht im Griff habe. Fürchterlich! Neigungen, so eine Frechheit!“

Frau Kutscher ist erregt, stößt beinahe ihre Kaffeetasse um, dann putzt sie sich ihre Nase und stopft das mit Spitze umhäkelte Stofftaschentuch mit einer eleganten Bewegung unten in den Ärmel ihrer Bluse.

„Mein Mann war fix und fertig. Ich weiß nicht, ob er verstand, was da passiert war oder ob er es nicht wahrhaben wollte, ich konnte auf jeden Fall nicht mit ihm darüber sprechen. Er ist dann hoch, hat diese Decke von der Polizei abgelegt, sich geduscht und komplett neu angezogen. Kein Wort über den Zwischenfall und er war vollkommen normal, völlig normal!

Kaum zwei Tage später werde ich in der Nacht wach. Ich schlafe sowieso nicht besonders gut, nehme immer Brom das hilft. Aber in dieser Nacht weckte mich ein Rauschen und ich bin aufgestanden. Mein Mann lag nicht mehr im Bett und ich fand ihn im Badezimmer. Er hatte sein Kopfkissen mitgenommen, die Wanne volllaufen lassen und das Kissen komplett eingeweicht. Er müsse das jetzt waschen, da seien Tiere drin, sagte er. Im ganzen Haus hatte er die Wasserhähne aufgedreht. Ich habe dann alle wieder zugedreht und als ich zurückkam, hatte er sich ins Bett gelegt, ohne sein Kissen und schlief wie ein Engel.

So konnte das doch aber nicht weitergehen und schon am nächsten Tag habe ich einen Termin bei Professor Neumann gemacht. Mein Mann wehrte sich zwar, aber dieses Wehren, das war nur vor der Hand, das war nur vorgeschoben, um sein Gesicht nicht zu verlieren. In Wirklichkeit hatte er ja sehr wohl bemerkt, daß da etwas nicht stimmt. Tja, und in der Röhre wurde es dann offenbar. Ein schnell wachsender, inoperabler Tumor im Gehirn. Professor Neumann hat es mir so erklärt, daß es sich um einen Tumor handelt, der nicht eine feste, kompakte Struktur bildet, die man herausschneiden kann, sondern es seien förmlich lange weiße Fäden, die sich wie Würmer ins Gehirn bohren. Die Prognose war niederschmetternd, ein halbes Jahr, mit viel Glück ein ganzes, hieß es.“

„Ja und ihr Mann, hat der das gewußt?“

„Wir haben es ihm nicht gesagt, nicht die Prognose; die Krankheit ja, das hat er erfahren, aber er war der Meinung, daß die Tabletten, die er ab sofort nehmen mußte, ihm helfen werden. Ich weiß nicht, ob es richtig ist, jemandem so etwas zu verschweigen… Keine Ahnung, aber schließlich war es gut so! Es ging dann so rapide. Das mit dem Wasser hat er noch viele Male gemacht und er ist auch noch einmal weggelaufen. Da haben sie ihn im Zoo gefunden, dort lag er vor dem Schauaquarium auf dem Boden und machte Schwimmbewegungen, wie peinlich!
Die Tabletten haben gar nicht geholfen, obwohl er immer stärkere bekam. Schließlich ist es soweit gekommen, daß er ruhig gestellt werden mußte. Er bekam so starke Mittel, daß er gar nicht mehr aus dem Bett konnte. Fürchterlich!
Wie dieser Mann abgebaut hat, das kann man sich nicht ausmalen, dafür hat man keine Töne. Innerhalb von drei Monaten hat er bestimmt 30 Kilo Gewicht verloren, wenn nicht sogar mehr. Er hatte Phasen, da sprach er ganz klar, dann wieder sabberte er nur, sang Kinderlieder, sprach mit Leuten, die gar nicht da waren oder in Reimen. Dieses Reimen hat mich verrückt gemacht!

Die Prognose von Professor Neumann war falsch, verstehen Sie mich jetzt nicht falsch, seine Diagnose hat gestimmt, nur die Prognose von einem halben bis zu einem Jahr, die hat nicht gestimmt. Zwei Jahre, genauer gesagt 22 Monate, hat es gedauert. Das ganze letzte halbe Jahr hat mein Mann nur noch mit offenem Mund im Bett gelegen, die Augen starr an die Decke gerichtet und alle 30 bis 40 Sekunden hat er ‚Tamata‘ gerufen. Kein Mensch weiß, was dieses Tamata sei soll, vielleicht irgendeine Eingeborenensprache, vielleicht nur eine Fehlzündung im Kopf.

Mir war das egal. Ich liebe diesen Mann doch, ich bewundere ihn doch so…“

Frau Kutscher zückt das Taschentuch und tupft ihre Tränen auf, sie nippt am Kaffee, läßt es sich nicht nehmen, den Kaffee zu loben, und fährt nach einem Seufzer fort:

„Sie müssen verstehen, daß mich mein Mann all die Jahre so beeindruckt hat, wenn er einen Raum betrat, dann war der Raum voll, voll mit Persönlichkeit. Neben ihm konnte keiner bestehen, ich habe niemals einen klügeren und humorvolleren Menschen erlebt, einfach ein wunderbarer Mann. Und dann muß ich ihn da so liegen sehen, so hilflos, wie ein Narr, der mich nicht mehr erkennt.
Als er noch sprechen konnte, sagte er einen Morgen zu mir: ‚Wer sind Sie? Wollen Sie mir meine Wäsche stehlen?‘ Ich sagte: ‚Ich bin’s doch, deine Mimi!‘ Und wissen Sie, was er sagte? Er sagte: ‚Mimi, Mimi ist doch schon lange tot und die war viel schöner als Sie!‘

Ich habe es nicht krumm genommen, am Nachmittag hat er dann meine Hand gestreichelt und so dankbar gelächelt.
So wie er da lag, hätte ich ihn noch gerne behalten, auch mit den ganzen Nebenerscheinungen. Das war mir egal, wenn ich ihn nur hätte noch ein paar Jahre behalten dürfen. Aber ich bin jetzt ganz ehrlich. Als er dann gestern gestorben ist, da hatte ich nur einen Gedanken im Kopf: Endlich!

Darf man so einen Gedanken haben?“

Ich nehme ihre Hand und drücke sie, ja, ich glaube solche Gedanken darf man haben.

Fehler durch Lektorin Anya bereinigt.

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