Tatsächlich macht Rolli dann in den nächsten Tagen einen wacheren und ausgeschlafeneren Eindruck, zumindest mal ist er nicht mehr so schlafmützig. Doch Sandy zerstört meine Illusionen und erzählt mir an einem Tag nach Feierabend, sie habe Rolli abends zuvor kurz nach Mitternacht im „Folterkeller“ gesehen.
Da Rolli schon nach Hause gegangen ist und mich mein Weg sowieso in die Nähe seiner Wohnung führt, fahre ich mal eben dort vorbei.
Rolli wohnt noch bei seinen Eltern, einer sehr resoluten Mutter und einem etwas schüchternen Vater, der seine Verwandtschaft zu Rolli nicht verleugnen kann.
Die Mutter, mit der wir ja irgendwie weitläufig verwandt sind, öffnet und freut sich, mich zu sehen, sagt aber gleich, mit gespielt vorwurfsvollem Unterton: „Mit Dir muß ich mal ein ernstes Wörtchen reden.“
„Ach was.“
„Ja, doch! Aber nimm erst mal Platz.“
Rollis Vater schlurft kurz schluffelduselig durchs Zimmer und birngt mir ein Glas Wasser. Von Rolli ist nichts zu sehen.
„Nee, der ist ja nicht da“, gibt die Mutter bereitwillig Auskunft: „Aber deshalb will ich ja mit Dir reden. Das geht so nicht weiter, daß der immer so lange bei Dir arbeiten muß. Klar, Lehrjahre sind keine Herrenjahre und wir haben auch nichts dagegen, wenn er etwas länger arbeiten muß, als andere, wir sind ja schließlich verwandt und wenn das so in der Familie ist… Aber meinst Du nicht, daß das ein bißchen viel ist? So mehr als rund um die Uhr?“
„Hä?“ mache ich und dann dämmert es mir. „Rolli ist also jetzt nicht hier?“
„Aber nein, der ist noch in der Firma, aber das müßtest Du doch wissen. Ist ja die reinste Sklavenarbeit. So viele Stunden in Deinem Betrieb und dann so wenig Geld!“
Ich sage nichts dazu und lade den Schluffdusel und seine Frau auf ein Glas ein: „Kommt mit, ich kenne da eine tolle Kneipe!“
Im Folterkeller brauche ich dann alle Kraft, um Rollis Mutter davon abzuhalten, den Räumlichkeiten durch das Austeilen von körperlichen Züchtigungen alle Ehre zu machen.
Denn eins ist ja klar, Rolli hat keineswegs in der Kneipe aufgehört, zu Hause aber erzählt, er müsse immer für mich so viel und lange arbeiten.
„Sofort kommst Du mit nach Hause. Seit Monaten hängst Du rum wie ein Schluck Wasser in der Kurve, seit Monaten hängen Deine Augenlider und Du bist nur noch am gähnen. Jetzt gehst Du sofort mit und wehe ich hör‘ ein Wort!“
Ja, die kann das. Die Mutter als Noch-Erziehungsberechtigte kann natürlich ihrem Filius den vielstündigen Nebenjob verbieten.
Und genau das tut sie auch.
Und auch genau darüber beschwert sich Rolli am nächsten Morgen, als er heulend und wie ein Häufchen Elend bei mir im Büro sitzt.
Dann stelle ich ihm eine ganz entscheidende Frage, nämlich die Frage, wofür er denn das viele Geld brauche.
„Nur so“, sagt Rolli.
„Für den Führerschein bekommst Du doch von mir regelmäßig Geld. Willst Du Dir ein Auto zusammensparen? Wofür brauchst Du das Geld?“
Wieder sagt Rolli nur: „Nur so.“
Aber ich merke, daß er irgendetwas verheimlicht und bohre nach. „Du mußt mir das jetzt sagen, sonst frage ich Deine Mutter!“
„Nee, bloß nicht! Die haut mich windelweich! Ich brauch die Kohle eben, fertig.“
„Und Du sagst mir jetzt wofür! Ich habe doch Verständnis, daß ein junger Mann mit den paar Euro, die er für eine Ausbildung als Vergütung bekommt, nicht weit kommt. Du rauchst, Du willst ja auch am Wochenende weggehen und dir ab und zu was kaufen, da ist das Geld schnell alle. Das weiß ich doch alles. Aber wenn Du in der Woche fast 50 Stunden in der Kneipe jobbst, bekommst Du doch sicher über 1.000 Euro im Monat dafür oder sogar 2.000. Was machst Du damit?“
Rolli druckst herum, starrt auf seine Fußspitzen, rutscht auf dem Stuhl hin und her und beginnt dann wieder zu weinen.
„Ach Mensch, Junge, jetzt raus mit der Sprache! Was ist los?“
„Das ist für die Typen.“
„Was für Typen?“
„Die Typen eben.“
„Typen? Wer ist das?“
„Das sind so Kerle, die hängen immer an der Haltestelle herum, so Typen eben.“
„Und von denen kaufst Du was? Sag mal, nimmst Du etwa Drogen? Kaufst Du das bei denen?“
„Nein.“
„Ja, was denn dann, um Himmels Willen, jetzt sag doch schon endlich, wofür Du den Typen das Geld gibst!“
„Damit die mir nicht auf die Schnauze hauen.“
„Damit die was???“
„Ja, die haben mich verkloppt und die haben gesagt, wenn ich nicht jeden Tag was abliefere, dann schneiden sie mir was ab.“
„Wie bitte?“
„Ja, die wollen mir was abschneiden.“
„Und wegen solcher Typen gehst Du Abend für Abend bis in die Puppen arbeiten und lieferst das ganze Geld bei denen ab?“
Er nickt und scharrt mit den Füßen.
„Wo sind denn die Typen?“
„Die? Die sind immer hinter dem Kiosk an der Haltestelle. Da stehen so ein paar Bierbänke und da hängen die immer herum.“
„Moment, da machen wir was!“ sage ich und rufe Herrn Fuhlst im Keller an.
Man erinnert sich, Fuhlst ist jener Riese, der seit Monaten bei uns als Hausmeister, Faktotum und Helfer in allen Lebenslagen beschäftigt ist.
Wenn ich mit diesem Zweimetermann da hin gehen würde, dann wäre das schnell vorbei mit den „Typen“, die dem Rolli „was abschneiden wollen“.
Aber als ich Fuhlst die Geschichte erzählt hatte, wiegte der seinen Kopf: „Ich weiß nicht. Es ist natürlich kein Problem für mich, da hinzugehen und denen ein paar auf die Mütze zu hauen, aber ob das was bringt?“
„Und was sollte man Ihrer Meinung nach tun?“
„Ich sag es ja ungern, weil ich die nicht ausstehen kann, aber ich meine, man sollte die Polizei benachrichtigen.“
Und so mache ich das, ich rufe bei der Polizeiwache vorne an der Ecke an. Der Wachhabende verbindet mich mit Kommissar Axel. Unter dieser Bezeichnung ist der Jugendsachbearbeiter der Polizei auch bei den Jugendlichen bekannt.
Ich solle ihm das überlassen, er kümmere sich darum, und er wisse auch schon ziemlich genau, um wen es sich bei den Übeltätern handele, meint er nur.
Am nächsten Tag kommt Kommissar Axel auf dem Fahrrad zu uns gefahren. Die Sache habe nun ein Ende.
„Ja und?“ frage ich: „Ist das alles? Gibt es keine Anzeige, Strafe oder sowas? Und was ist mit dem Geld?“
Der Uniformierte hebt nur hilflos seine Schultern und läßt sie wieder sinken. „Es ist niemandem geholfen, wenn man da ein großes Faß aufmacht. Das Geld haben die sowieso schon durchgebracht und wem bringt es was, wenn wir jetzt noch die Staatskasse leeren, indem wir die vor Gericht stellen.“
Ich bin unentschlossen, soll das wirklich alles sein?
Rolli winkt ab, als er zum Feierabend in meinem Büro ist: „Ich will nicht, daß da mehr gemacht wird. Mir reicht es, wenn die mich in Ruhe lassen.“
Okay, ich lasse die Sache auf sich beruhen.
Am nächsten Tag führt mich mein Weg zu dem Kiosk und nachdem ich meinen Handel mit dem Krämer hinter dem Kioskfensterchen getätigt habe, beschliesse ich, mir die bösen Buben auf den Bierbänken etwas näher anzuschauen.
Zwei Bauabsperrgitter hat der Kioskbesitzer aufgestellt und diese mit Schilfmatten verkleidet. Damit hat er die häßliche Rückseite seiner Bude, wo auch die Mülltonnen und das Leergut stehen, den Blicken der Passanten entzogen.
Und inmitten der Mülltonnen und Bierkästen stehen auch besagte zwei Biergarnituren. Auf den Bänken lungern etwa sechs bis acht junge Männer herum, die allesamt so mit ihren Mobiltelefonen beschäftigt sind, daß sie mein Annähern gar nicht bemerken.
Gut, zwei von denen sehen wirklich nicht gerade harmlos aus, aber die anderen sind eher schmächtig und nicht besonders groß.
Aber das hat ja nichts zu sagen, denn oftmals sind es die Kleinen, die besonders gut und hartnäckig kämpfen können. Bei anderen Gelegenheiten hatte ich schon oft beobachten können, daß gerade die, denen man es nicht zugetraut hätte, im Ernstfall ganz besonders aggressiv sein können.
Polizisten können da ein Lied von singen: Wie oft läßt sich der Zweimeter-Hüne ruhig abführen, während so ein kleiner Wadenbeißer von vier Beamten niedergerungen werden muß.
Aber in diesem Fall macht es ja auch die Anzahl der Typen aus. Gegen eine Handvoll Halbwüchsiger machst Du nichts, es sei denn, Du bist in so etwas ausgebildet.
Ich versuche, mich an meine militärische Ausbildung zu erinnern und mir fallen so ungefähr ein Dutzend Methoden ein, wie man solche Gegner niederstrecken könnte, nur bezweifele ich, ob ich fit genug für so ein Unterfangen bin.
Das sind sie also, die Burschen, die dem eigentlich doch sehr harmlosen Rolli auflauern und Geld von ihm erpressen. Und gegen die sollte die Polizei nichts unternehmen?
Irgendwo verstehe ich Kommissar Axel ja. Er kennt die einschlägigen Burschen in seinem Revier und hat ein Auge auf sie. Er will sein gutes Verhältnis zu denen nicht gefährden.
Auf der anderen Seite, was soll es bringen, wenn die Polizei ein gutes Verhältnis zu diesen Straftätern hat, wenn auf der anderen Seite so harmlose Weicheier, wie Rolli, darunter leiden müssen?
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