Geschichten

Frühbier -V-

Wir tippen uns alle an die Stirn. Hallo? Wir haben den Frühbier gekannt, das ist der lustige Mann mit dem Besen und den unmöglich bunten Hawaiihemden! Klar, man kann keinem hinter die Stirn gucken und daß so mancher ein dunkles Geheimnis aus einer noch dunkleren Vergangenheit hat, das wissen wir ja alle. Oft, und ich muß sagen ganz besonders oft, kommen solche Geheimnisse beim Tod dieser Menschen heraus, sie werden dann von irgendeinem Verwandten aufgewärmt.

Meist geht es darum, wer nun warum was zu tun oder zu lassen hat oder wer was zu bezahlen hat. Dann sind die zu Lebzeiten begangenen Freveltaten des Verstorbenen oft die Begründung für eine persönliche, insbesondere aber finanzielle Zurückhaltung.

Mit anderen Worten: Keine Wäsche ist so schmutzig, daß sie nicht anlässlich solch großer Familienfeiern gewaschen würde. Dabei spielt es keine Rolle, wie alt diese Wäsche ist.

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Ich habe alte Leute erlebt, die seit 40 oder 50 Jahren friedlich in zwei Doppelhaushälften nebeneinander gewohnt und nahezu alle Urlaube gemeinsam verbracht haben. Lass es zwei Geschwister mit ihren Ehepartnern sein, die nach dem Krieg gemeinsam gebaut haben.
Ja und dann stirbt ein Elternteil oder sonst ein naher Verwandter und nun will man sich vor der Übernahme der Kosten drücken oder die Verantwortung für die Ausrichtung der Trauerfeierlichkeiten von sich abwälzen.
Da sind dann ruck zuck auch Schwarzmarktgeschäfte von 1947 mal wieder ein Thema, wo der eine Bruder die eine Schwester um ein halbes Eisbein betrogen haben soll…
Ja, sowas sind so schwere Vergehen, daß über diese ruchlose Tat auch nach über 60 Jahren noch kein Gras gewachsen ist. Das heißt, 60 Jahre lang war das alles vergessen und in die Rubrik des längst Vergangenen und Verjährten eingeordnet worden, aber jetzt kommt es einem ganz gelegen, das mal wieder aufzuwärmen, nur um sich im Streit, der immer auch auf die Nachkommen übergreifen muss (!), auseinanderzudividieren und danach nie mehr miteinander zu sprechen.

Bei den Frühbiers ist das aber anders. Nicht das Geld spielt hier eine Rolle, sondern jeder hat offenbar das Bedürfnis, seine Sichtweise der Dinge noch schnell zu erzählen und die Geschehnisse aus seiner Sicht ins richtige Licht zu rücken, um damit den jetzt sicherlich aufkommenden Gerüchten und Erinnerungen aus dem Munde Dritter zuvorzukommen.

Wir haben da also die alte Frau Frühbier, die Mutter des Verstorbenen, die ihn -so ist jetzt der Stand der Dinge- am liebsten auf dem anonymen Gräberfeld des hiesigen Friedhofs bestattet wissen will. Einmal hatte sie ihn im Grab ihres Lebensgefährten beisetzen lassen wollen, dann wieder wollte sie ihm ein eigenes Urnengrab bstellen und dann wiederum hatte sich sich was ganz anderes überlegt und es hieß es aus ihrem Mund: „Am Besten ist es, wenn da Gras drüber wächst, ich mein‘ jetzt so in Wirklichkeit, ohne Stein und großes Trara.“

Ich hatte innerlich lachen müssen, als sie das sagte, denn sie sagte nicht Trara sondern Tatütata und ich sah uns vor meinem geistigen Auge in einem Bestattungswagen mit Blaulicht und Martinshorn am Friedhof vorfahren.

Dann haben wir da noch Frau Frühbier, die Jüngere, die Witwe des Verstorbenen, die ihren Mann aber viel lieber in einem Bestattungswald bestattet wissen möchte und inzwischen diesbezüglich auch alles in die Wege geleitet hat. Als Bestattungsberechtigte, Bestattungspflichtige und Totenfürsorgeberechtigte kann sie entscheiden, was passiert und die alte Frau Frühbier wird sich fügen müssen, was sie ganz offensichtlich auch tun wird, wenn auch nicht hocherfreut.

Ja und dann gibt es da noch die Töchter des Herrn Frühbier, die sich bisher in kühler Zurückhaltung geübt haben.
Ich hatte ja…, nein, ich muß schreiben: Wir hatten ja alle gedacht, die Töchter und ihre Männer, sowie die ganze Schar der kleinen Schantalls, Sharona-Emilys und Käwwins wären ständig bei den Frühbiers aus und ein gegangen. Jedenfalls hatte man den Eindruck, irgendeine der dauerprägnanten 1 Schwestern sei immer da gewesen. Aber das war nur unser Eindruck gewesen. In Wirklichkeit, und das erzählte mir die Witwe, kamen die Töchter nur, wenn der Vater nicht zu Hause war. „Die hatten offiziell gar keinen Kontakt mehr zu dem. Wenn der weg war, dann bin ich sofort an das Handy und hab‘ die angerufen und eine oder alle kamen dann immer mitti Kinder zur Omma und zur Uromma. Wenn der da war, dann sind die nur unten bei die Uromma gegangen.“

Der Sonnenwirt mußte erst auf die Bühne des Geschehen treten, damit man etwas klarer sah. Seine Gaststätte „Zur Sonne“ hieß früher einmal „Gasthof Sonnentau“ und gehört zu den Lokalen, die ich freiwillig nicht betreten würde. Die Gaststätte hatte einmal bessere Zeiten gesehen und früher einmal konnte man dort sogar gut essen und viele Ältere berichten von schönen Abenden in der „Sonne“. Aber seit mindestens 20 Jahren ist die „Sonne“ nun in fester Hand von Trinkern und Gesocks und allenfalls die üppig aufgestellten Spielautomaten locken mal hin und wieder einen weniger der Trunksucht wie der Spielsucht verfallenen Gestrauchelten an.
Die „Sonne“ ist die Kneipe, bei der sich Taxifahrer gerne weigern oder es mal „vergessen“ Fahrgäste abzuholen und von wo immer wieder taumelnde, ältere Frauen in viel zu hochhackigen Schuhen nach Hause wanken und unterwegs hinter irgendwelchen Hecken die Contenance und oft genug auch einen der hochhackigen Schuhe verlieren.

Nun, der Sonnenwirt selbst ist das, was man hier in der Gegend als „klaren Kerl“ bezeichnet. Er heißt Dragan, kommt aus dem, was man früher als Jugoslawien kannte, und hat sich irgendwann vor dreißig Jahren an einer filterlosen Roth-Händle festgesaugt, die er nicht mehr von der Unterlippe kriegt.
Manchmal treffe ich ihn, wenn ich mit dem Hund spazieren gehe, denn er hat auch einen Hund, einen uralten Schäferhund, vermutlich auch vor 35 Jahren aus Jugoslawien eingewandert…, so könnte man wenigstens glauben.

Aber viel zu erzählen haben wir nicht, wir reden übers Wetter, er redet immer über Fußball und ich nicke dann oder schüttele den Kopf, so als ob ich eine Ahnung davon hätte wo die Wolfsburger gerade in der Tabelle stehen. Manchmal streue ich fußballwichtige Begriffe wie Videobeweis, Foulelfmeter oder Schiedsrichterbetrug ein und er gerät dann in Extase und ist wohl davon überzeugt, ausgerechnet mit mir könne man sich über Fußball ganz besonders gut unterhalten. Am Ende sage ich immer: „Jaja, so einen wie den Herberger, so einen kriegen wir nie wieder“, und habe damit jenen Satz abgesondert, den mir jeder Fußballkenner immer sofort unterschreiben würde und mit dem ich mich seit nunmehr fast 50 Jahren fußballthematisch über Wasser halten kann.

Dragan macht nur eine wegwerfende Handbewegung und sagt in seinem äußerst schlechten Deutsch: „Der ware eine grrrrossse Abfall, der Frihbia.“
Ich gebe im Folgenden sein schlechtes Deutsch, der Lesbarkeit halber, nicht wieder. Dragan selbst sagt dazu: „Uns hat doch keiner Deutsch beigebracht, als wir zum Schaffen in die Stahlhütte kamen. Da zählte nur, was man in den Armen hat, daß man die Klappe hält, daß man billig arbeitet und daß man wenig krank war. Ob wir Deutsch lernten, ob wir bleiben oder wieder nach Hause gehen, Mann, das hat doch keinen interessiert. Irgendwann hattest Du Dir vom Zuhören selbst soviel Deutsch beigebracht, daß Du Dich verständigen konntest und dann war es gut. Dann mußte man nichts mehr dazulernen. Ich kann alle Wörter, ich kann alles verstehen, ob das nun richtig gesprochen ist oder richtig ausgesprochen ist, das interessierte nie jemanden. Und heute kommen sie und sagen, wir seien nicht richtig integriert und könnten unseren Kindern nichts bieten. Arschelöcher, das alles sind! Meine Marjanna hat Jura studiert und mein Juri ist Meister. Was ist das Problem?“

Aber den „Frihbia“ den hält er für das größte Arschloch der Welt, erzählt mir Sonnenwirt Dragan.
Er ist offensichtlich einer der wenigen Menschen, die sich an Frühbiers Geschichte erinnert und der Näheres weiß.
„Ist doch klar, in meiner Kneipe hat er ja damals alles erzählt, da wo die noch ‚Sonnentau‘ hieß.“

Ob Dragan damals schon der Wirt gewesen ist? ich weiß es gar nicht, ich muß ihn mal fragen, wenn ich ihn mal wieder treffe; jedenfalls ist er aufgrund dieser Zusammenhänge mit seiner Kneipe sehr gut informiert, wobei auch eine Rolle spielt, daß ein direkter Nachbar der Frühbiers bei ihm verkehrt und ihn immer mal wieder mit neuen Geschichten versorgt.

Der Frühbier habe zwar das behinderte Mädchen vergewaltigt, aber dafür habe er ja gesessen und das sei damit, nach Dragans Ansicht, völlig gesühnt und abgegolten. Viel schlimmer sei doch, was das ‚Arscheloch‘ alles gemacht habe und wofür ihn hoffentlich jetzt der „liebe Gott zur Verrechnungschaft zieht und gleich mit dem Expressaufzug in die schwärzeste aller Höllen sausen läßt.“

Der habe nämlich nicht nur seinen Bruder auf dem Gewissen, sondern der habe immer auch an seinen Töchtern rumgemacht, seine Frau geschlagen und dem alten Dr. Landski seinen Hund vergiftet.

Nachdem Dragan das gesagt hat, steht mir der Mund offen und Dragan nickt nur bestätigend und sagt: „Das arme Tier!“

Das mit dem Bruder, das seien die alte Frau Frühbier und ihr Sohn gemeinsam gewesen. Die beiden hätten den Bruder, der Michael oder Hans geheißen haben soll, auf jeden Fall so ähnlich wie Wolfgang (Originalton Dragan), systematisch in den Wahnsinn gerieben und so verrückt gemacht, daß der sich eines Tages auf dem Dachboden aufgehängt habe. „Dann mach’s doch endlich, nehm dir einen Strick und häng dich endlich auf! Sollen wir dir zeigen wie das geht?“ Das soll der Frühbier zu seinem Bruder gesagt haben und angeblich hätten die alte Frau Frühbier und der jetzt verstorbene Herr Frühbier sogar tatsächlich mitgeholfen, daß es mit dem Aufhängen dann auch wirklich klappt.
„Der war ein bißchen behindert, der hatte einen zu kurzen Fuß und hinkte und dann sprach der irgendwie auch komisch, ich weiß nicht mehr, aber die wollten den los werden, weiß auch nicht genau warum. Die Polizei hat den damals abgeschnitten und die alte Frau hat ganz viel geweint und ist schreiend hinter dem Sarg her, als die den abgeholt haben. Dabei hat sie mitgeholfen, das weiß doch jeder. Und hinterher hat sie so getan, als sei das alles nur die Schuld von ihrem Sohn. Die sind alle krank! Alles nur Lug und Trug, alles nur Schau, die Alte ist genauso böse wie ihr Sohn. Von nix kommt nix, kannste mir glauben.“

Harte Worte und eine noch härtete Anschuldigung, aber letztlich nur das Gerede eines Wirtes, der sich bislang nur durch Kettenrauchen und das Führen einer der übelsten Säuferkneipen der Gegend qualifiziert hat.

Gerede also, nichts als Gerücht und Gerede. Wenn so dramatische Sachen passieren, dann finden sich immer welche, die da irgendwas hineingeheimnissen, die da noch mehr draus machen wollen, die irgendeinem was anhängen wollen. Die Schwätzer sind da unerbittlich…

…doch sollten keine zwei Stunden vergehen, da sitzt mir Frühbiers Witwe gegenüber und bestätigt Dragans Schauergeschichten Wort für Wort.

„Ich will, daß mein Mann eine anständige Trauerfeier bekommt, ich will, daß er ordentlich unter die Erde kommt und zwar im Wald. Da hab‘ ich dann eine schöne Stelle, wo ich immer hinfahren kann und ich weiß auch wo er liegt. Ich will nicht, daß der einfach so verscharrt wird, weil er dann für immer weg ist und keiner weiß genau wo. Ich will aber auch nicht, daß der hier auf dem Friedhof ein Grab kriegt, wo jeder hingehen kann.“

Sie will, ja gut, dann ‚kriegt‘ sie.

Dann meint sie, sie müsse mir eine Erklärung dafür geben, daß sie so und nicht anders entschieden hat und zu allererst erklärt sie mir, daß sie ihren Mann geliebt hat. Dann sagt sie, daß er sie geschlagen habe, dann sagt sie wieder, daß sie ihn geliebt habe und dann sagt sie, er habe jahrelang die Töchter befingert und sie habe ihn doch so geliebt. Das seien ja auch irgendwo die Mädchen selbst „in Schuld“ gewesen, das sei doch immer so, da gehörten doch immer zwei dazu und sie sei ja auch lange krank gewesen, „mit Migräne und so“. Sie habe ihrem Mann dreimal mit Scheidung gedroht und immer habe er dann aufgehört „mit die Mädchen“ und sei dann ganz besonders lieb und fürsorglich gewesen. Sie habe ihn eben geliebt und es sei gut, daß er jetzt tot ist.

Ich presse die Lippen aufeinander, mache ein irgendwie bewußt unbeteiligtes Gesicht, ich kann die Frau nicht verstehen, ich kann es einfach nicht. Tut mir leid.

Ich weiß nicht, ob das zu hart ist, aber ich sage immer ziemlich polemisch, solchen Tätern müsse man Finger, Nase und Ohren abschneiden und ihnen auf die Stirn schreiben, was sie gemacht haben und sie dann einfach laufen lassen. Aber das ist vorsintflutlich, mittelalterlich und das spontane Gerede eines Mannes, der seine Kinder liebt und der nicht das geringste Verständnis für die Erwachsenen hat, die Kinder zu sexuellen Handlungen bringen oder diese an ihnen vornehmen.

Auf einmal sehe ich die Schackeline-Mütter mit anderen Augen. Aus so einem Elternhaus wäre ich als Mädchen vielleicht auch früh in die Ehe geflohen und hätte gekalbt was das Zeug hält, nur um selbst soviel Familienheil und -glück wie möglich zu produzieren…

„Nein, der war ein anständiger Kerl, man kann ihm ja viel nachsagen, aber der war ein guter Mensch“, sagt Frau Frühbier und dann sagt sie wieder: „Aber jetzt isser tot und kann nix mehr machen, das ist auch wieder gut.“

Ich verstehe sie wirklich nicht.

(1) hier im übertragenen Sinne von: prägnant = „randvoll gefüllt“ oder „strotzend vor Inhalt“.

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(©si)