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Heiligabend

Wie wird der Mund einer Leiche verschlossen?

Schnee liegt auf den Flügeln des kleinen Engels und ich finde, die Augen des Engelchen aus Marmor gucken heute noch ein wenig trauriger als sonst. Ich bin auf dem Teil des Friedhofs, auf den ich überhaupt nicht gerne gehe; es ist die Abteilung wo sich die Kindergräber befinden.

Der frischgefallene Schnee hat die Stätte ein wenig mildernd abgepudert, ansonsten finde ich vor allem die vielen bunten Spielzeuge, Fähnchen und Laternchen, die man den toten Kindern mitgebracht hat, nicht besonders schön. Manche dieser Gräber sind geradezu überladen mit buntem Kram. Und überhaupt: Es ist der überflüssigste Platz auf einem Friedhof überhaupt, Kinder gehören zu ihren Eltern und Geschwistern, auf Spielplätze, in Kinderzimmer, in Schulen und Kindergärten, aber doch nicht auf Friedhöfe…

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Das Bunte gefällt mir nicht, der Ort an sich behagt mir nicht und dennoch komme ich nicht darum herum, jetzt ein Grab ausmessen zu müssen. Mit einem Handfeger wedele ich den Grabstein frei von Schnee, fege die Umrandung ab, ich muß feststellen, ob es wirklich das richtige Grab ist.

Katrin 12.1.2002 - 23.10.2004

Ich messe die Breite und die Länge des freien Raumes zwischen der Umrandung aus, notiere die Werte und werfe einen letzten Blick auf das Grab, dann gehe ich.

Etwas später sitze ich wieder im warmen Büro, die Kälte will gar nicht aus meinen Knochen heraus, mich schüttelt es immer wieder, ich bin ziemlich erkältet. Am Gescheitesten läge ich jetzt mit einem Mentholwickel im Bett und würde Kräuterteee trinken, aber als kleiner Selbständiger hast du keine Wahl.

Neulich wollte ich an meinem Auto etwas auswechseln lassen, fuhr in die Werkstatt dieser Marke und bekam zur Antwort: „Vor Weihnachten wird das nix mehr, wir sind zu bis obenhin.“
Die haben mich einfach wieder weggeschickt, obwohl der „Eingriff“ kaum länger als 10 Minuten gedauert hätte.
Als Bestatter kannst du das nicht, da geht es nicht nur um Kapazitäten und Aufträge, sondern da stehen doch Menschen die sich dir anvertrauen, da geht es um mehr.

Natürlich ist der Bestatterberuf ein kaufmännischer Dienstleistungsberuf und es geht ums Geldverdienen, das leugne ich nie, das sage ich stets klipp und klar, aber es geht da um mehr. Sterben, Tod und Trauer machen die Menschen hilflos, es reißt das Herz der Menschen auf und so verwundet stehen sie vor dir und du sollst es richten.
Du weißt, daß du es nicht richten kannst, denn der Tod ist der Vater des Sterbens und die Trauer seine Frau. Man bekommt sie nur zu dritt. Was du als Bestatter tun kannst, ist die Linderung der Trauer, die Erfüllung letzter Wünsche, das Aufzeigen von Wegen; aber du kannst weder das Sterben, noch den Tod ungeschehen machen.
Für viele Menschen ist der Weg zu einem Bestatter zunächst ein notwendiges Übel, ein rein geschäftlicher Gang und sie sind froh, wenn alles reibungslos nach Schema-F gelaufen ist und sie hinterher den Eindruck haben, nicht übers Ohr gehauen worden zu sein.
Doch wenn sie an einen wirklich guten Bestatter geraten, dann wissen sie, daß er das alles macht, weil er davon lebt, denn er spielt ihnen keine falsche Anteilnahme vor; und dennoch werden sie von Fürsorge umfangen und in ihrer Trauer aufgefangen. Wenn die Menschen hinterher sagen: „Mensch, damit hätte ich nicht gerechnet, das war alles richtig klasse“, dann hast du alles richtig gemacht. Wenn Menschen voller Ablehnung, weil sie sich mit Trauer, Tod und Sterben nicht befassen wollen, zu dir kommen und hinterher gehen und sagen: „Man, was war das schön“, dann hast du gezeigt, daß Bestatten auch Kunst und Seelsorge ist.

Doch was sagt man Eltern, die ein Kind verlieren?
Sagt es mir! Auch nach so vielen Jahren habe ich keine Antwort darauf gefunden und ich kann den Eltern auch nichts anderes sagen, als daß ich es Scheiße finde… Glücklicherweise läuft das ja mit der Reihenfolge beim Sterben in den allermeisten Fällen richtig, nur sind es eben manchmal auch junge Menschen und leider hin und wieder auch Kinder, die man zu Grabe tragen muß. Weiß der Geier, was ER sich dabei denkt.

Katrin durfte keine drei Jahre alt werden, was an sich ja schon schlimm genug ist. Es gibt heimtückische Krankheiten, die auch Kinder befallen können und gegen die kein Kraut gewachsen ist. Aber bei Katrin war es einfach nur ein schrecklicher Unfall.

Recht früh im Jahr hatte Onkel Alfred, der Bruder von Katrins Mutter, in diesem Jahr zum Abgrillen gerufen. Es war in seinem Hause üblich irgendwann ganz früh im Jahr, wenn es draußen möglichst kalt ist, die Grillsaison mit einem vielbesuchten Angrillen zu eröffnen und irgendwann im späten November die Grillsaison mit einem Abgrillen offiziell zu beenden. Die ganze Familie kam jeweils zusammen, viele Freunde und Bekannte, es war stets ein großes Fest.
Warum 2004 das Ganze schon so früh im Jahr stattfand, das weiß ich nicht, es tut auch nicht zur Sache. Jedenfalls waren die meisten Gäste schon gekommen, als die ersten langen Bratwürste knusprig vom Grill dufteten und die Kinder als Erste jeweils eine davon bekamen. Ja und die spuckten das Abgebissene wieder aus, die Würste schmeckten ekelhaft. Irgendetwas muß da bei der Produktion schiefgelaufen sein, sie schmeckten nach Schwefel und faulen Eiern.
Man kann sich vorstellen, daß das dem Gastgeber ziemlich peinlich war und er sich darüber fürchterlich ärgerte.
Aber Alfreds Frau winkte nur ab, warf kurzerhand die ganze Ladung Würstchen in die Tonne und schnappte sich den Autoschlüssel. „Der EDEKA hat noch auf, da gibt es eine Super-Fleischtheke, ich hol‘ schnell neue, kein Problem!“

Motor an, Rückwärtsgang… ja und wer rechnet denn damit, daß die kleine Katrin verbotenerweise nach vorne gelaufen ist und ihren Kopf durch die kleine Buchsbaumhecke steckte?
Das Abgrillen fand ein jähes Ende.

Alfreds Frau war kein Vorwurf zu machen, sie hatte wohl ordnungsgemäß geschaut und war nur ganz langsam gefahren, die Frau von gegenüber hatte alles genau gesehen, ob die das jemals aus dem Kopf bekommt?

Man male sich selbst aus, wie schrecklich das alles war, Polizei, Notarzt, Rechtsmedizin, Bestatter, die Zeit der Trauer…

Man hat doch Pläne, man hat doch Erwartungen ans Leben, man hat doch seine Vorstellungen davon, wie alles weitergehen wird, was man noch alles machen will und wie sich alles entwickeln könnte. Und dann? Dann ist von einer Sekunde auf die andere alles vorbei und das dann auch noch auf so eine schreckliche Art und Weise.

Ich habe überhaupt keine Probleme, verstehen zu können, daß die Familie noch heute schwer unter diesem Verlust leidet.

Doch Katrins Eltern haben es nach meiner Ansicht richtig gemacht, haben sich nicht nur hängen lassen und ihr weiteres Leben allein auf das Trauern um die Tochter reduziert, sondern sie haben es geschafft, auf der einen Seite ihrer unendlichen Trauer Ausdruck zu verleihen und einen Raum in ihrem Leben zu geben, aber auf der anderen Seite auch weiter zu leben. Trauerbewältigung heißt ja nicht, irgendetwas einfach abzuhaken, sondern es heißt, daß man mit der Trauer umgehen kann, sie bewältigen kann.
Meine Eltern, liebe Freunde und liebe Verwandte sind gestorben und ich kann, bei passender Gelegenheit enorm um sie trauern, egal wie lange ihr Tod schon zurück liegt. Ich muß aber nicht in jedem Moment meines Lebens diese Verluste in den Mittelpunkt stellen.

Jan tauften sie den kleinen Jungen, der 2006 geboren wurde.
Es wird der Trauer um die kleine Katrin keinen Abbruch getan haben, aber ich weiß aus Dutzenden ähnlicher Fälle, daß es gut und richtig ist, nach so einem Verlust noch ein Kind zu bekommen, wenn es denn geht.
Daß das auch fürchterlich in die Hose gehen kann, davon will ich demnächst mal erzählen.
Doch in diesem Fall war das eine sehr gute und sehr richtige Entscheidung und Katrins Eltern und auch der kleine Jan profitierten nur davon. Sie hatten eine Lebensaufgabe, keinen Ersatz für Katrin, aber doch einen Mittelpunkt in ihrem Leben und Jan bekam die Liebe, die gleich für zwei Kinder ausgereicht hätte.

Vor zwölf Wochen traten Katrins und Jans Eltern dann in mein Leben. Eines Tages machten sie bei Frau Büser einen Termin für ein Informationsgespräch. Entsprechend gut gelaunt ging ich in das Gespräch, es ist immer sehr beschwingt und entspannt, wenn man mit jüngeren Leuten über das Thema Tod und Sterben spricht, alles ist ja noch so weit weg und vorzusorgen kann nicht schaden.
Ich wußte zu diesem Zeitpunkt nichts von Katrin, die damalige Bestattung hatten wir nicht gemacht; ich wußte auch nichts davon, daß Jan krank war.

Was hat Krebs eigentlich in kleinen Kindern zu suchen?

Das Gespräch verlief keineswegs entspannt oder gar beschwingt. Wir besprachen alles und ich saß fast drei Stunden lang mit den Leuten beisammen, wir weinten gemeinsam, blieben gemeinsam ratlos aber sie gingen mit dem Gefühl, gut aufgehoben zu sein.

Gestern war es soweit.

Ich habe ihnen davon abgeraten, habe mit Engelszungen gepredigt, habe geschimpft, gebettelt… Sie wollen tatsächlich die Beerdigung am Heiligen Abend. Wie kann man nur?
Bis vorletztes Jahr ging das gar nicht. Die Friedhofsverwaltung lehnte Bestattungen an Samstagen, Sonntagen, Weihnachten, Pfingsten und Ostern schon aus personellen Gründen ab.
Aber im Laufe der letzten Zeit hat man sich so allerlei Kundenwünschen geöffnet, immer die Angst im Nacken, man könne noch mehr zahlende Friedhofskunden verlieren.

Jetzt gehen Bestattungen auch am Samstag, jedoch nicht an Feiertagen und Heiligabend ist kein Feiertag…

Nein, ich finde das nicht gut, aber ich kann nur beraten.
Machen wir also das Beste daraus.
Ich find’s trotzdem nicht gut.

Hashtags:

Ich habe zur besseren Orientierung noch einmal die wichtigsten Schlagwörter (Hashtags) dieses Artikels zusammengestellt:

#heiligabend

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