Geschichten

Hoch hinaus

Himmelbett

Es ist über 25 Jahre her, dass ich Frau Gummerling besuchte. Ich muß durch eine kleine Unterführung, es riecht nach Urin und der Wind treibt eine alte, zerfledderte BILD-Zeitung vor mir her. Am Ende der Unterführung gelange ich auf einen Platz, der einmal schön gewesen sein muß, aber es ist anders gekommen, als man damals dachte.

Diese Reihe mittlerer Hochhäuser sollte einmal das Vorzeigeprojekt der ganzen Stadt werden und manch einer hat sich damals eine der Wohnungen gekauft, nur um heute feststellen zu müssen, daß die von den Mietern gezahlte Miete kaum für die Bankkredite ausreicht.
Das ganze Anwesen ist heruntergekommen, überall fehlt der berühmte Eimer frische Farbe und genau an dem Eingang, an dem ich die Klingelschilder absuche, flackert eine kaputte Neonröhre ein nerviges Stakkato. Gut, daß Bestatter immer eine Taschenlampe dabeihaben. Gummerling, das ist der Name, den ich suche und zwischen vielen fremdländischen Namen finde ich ihn endlich, drücke den Klingelknopf, doch nichts passiert.
Brav warte ich vor der Glastüre auf das erlösende Summen des Türöffners, aber auch da tut sich nichts. Mal vorsichtig probieren, aha, die Tür ist gar nicht zu. Hoffentlich ist der Aufzug in einem besseren Zustand als der Rest des Gebäudes, denke ich und grüble darüber nach, ob ich mich wohl darauf verlassen kann, daß Wohnung 1411 auch wirklich im 14. Stock liegt.

Der Aufzug rumpelt zwar etwas laut und auch in ihm riecht es eher wie in der Fischkistenstapelecke des Großmarktes, aber ich komme wenig später wohlbehalten im 14. Stock an. Nicht auszudenken, wenn das Ding nicht funktioniert hätte, schließlich habe ich den großen Beratungskoffer dabei, denn Frau Gummerling möchte umfassend über eine Bestattungsvorsorge beraten werden.

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Am Ende des Ganges steht eine Tür halb offen, es fällt spärliches Licht auf den Flur und als sich hinter mir die Aufzugtüre schließt, ist es fast stockdunkel. Vorsichtig taste ich mich mit der freien Hand an der Wand entlang, als sich plötzlich die besagte Tür weiter öffnet und eine hohe, etwas brüchige Stimme ruft: „Kommen Sie hierher, hier bin ich!“ Ich beschleunige meinen Schritt und genau das war ein Fehler, denn eben noch höre ich die Stimme sagen: „Und passen Sie auf, die Schluffen stellen immer ihre Latschen vor die Tür“, da stolpere ich über irgendetwas, wäre beinahe gefallen, kann mich gerade noch an der Wand abstützen, schürfe mir aber an dem ekligen Rauhputz die Außenseite meiner Hand blutig auf.

Ein paar Sekunden später sitze ich in der kleinen Wohnküche von Frau Gummerling. Anders als erwartet ist es ganz gemütlich, schön warm und äußerst sauber. Frau Gummerling ist im Stehen so groß wie ich im Sitzen und zierlicher als einst Mahatma Gandhi.
Sie ist sehr besorgt, tupft und wäscht meine kleine Verwundung, sprüht höllisch brennendes Sprühpflaster drauf und ist erst zufrieden, als sie mir dann schließlich noch einen Schnaps aufnötigen kann, gegen den Schmerz versteht sich.
Sie lacht verschmitzt und sagt: „Schnaps hilft immer gegen Schmerzen, und so alte Leute wie ich haben ja immer irgendwo Schmerzen.“ Sie prostet mir zu und ich habe mein kleines Glas kaum zur Hälfte geleert, da schenkt sie sich schon wieder ein Gläschen ein. „Auf den Schrecken“, meint sie und tausend kleine Lachfalten wrinkeln sich um Augen und Mundwinkel.

Ich weiß, was kommen wird und ich lasse es geschehen. Alte Leute und die fehlende Ansprache, ich kenne das…

Sie stamme aus jener Ecke Bayerns in der man eigentlich schon nichtmal mehr Bayerisch spricht und sich im Grunde die Leute selbst nicht verstehen, dort sei sie im Jahr 1900, also damals vor immerhin schon 98 Jahren geboren worden, fühle sich aber höchstens wie 95. Sie lacht lauthals, ich lache höflich mit und bedecke mein Glas schnell mit der Handfläche, denn die trinkfeste Alte hat schon wieder die Flasche in der Hand und will nachschenken.
Schon mit 13 Jahren habe ihr Vater sie in eine gute Stellung gebracht und sie sei als halbes Kind mit dem Zug ins Württembergische gefahren, wo sie „bei Hofe“ zunächst als Küchenmagd und dann als Helferin in der Schneiderei arbeiten musste.

„Damals war es noch wichtig, ob man einen Esser mehr oder weniger am Tisch sitzen hatte und meine Eltern hatten viele Kinder, alle mussten früh in Brot und Lohn, das wenige Milchvieh daheim nährte kaum die Eltern und die Großeltern.“
So kam sie also ins Palais nach Stuttgart. Württemberg war damals noch ein Königreich, sollte es aber nicht mehr lange bleiben.

Noch heute spricht die alte Dame von ihrem ehemaligen Dienstherrn voller Respekt und immer wenn sie von den „hohen Herrschaften“ spricht, senkt sie die Stimme und hebt zur Betonung des hohen Standes ihren rechten Zeigefinger.
In Frau Gummerlings Erzählungen werden aus dem Herrn des Hauses „ihre Durchlaucht“, aus seiner Frau „die gnädige Frau“ und aus der Tochter aus der ersten Ehe seiner Durchlaucht „die Prinzessin“.

„Ich wurde eine ganz respektable Schneiderin und schließlich, ich war kaum 17 Jahre alt, oblag es mir, mich hauptverantwortlich um die Garderobe der Prinzessin zu kümmern. Noch durfte ich nichts Neues schneidern, aber immerhin die Reparaturen und kleineren Flickarbeiten durchführen… Mein Gott, was für schöne Kleider das waren!“

1918 war es dann vorbei. Vorbei mit dem Ersten Weltkrieg, dem Kaiser, den Königen, dem ganzen Adelsstand. Auch ihr Herr kapitulierte vor einer revolutionären Meute und verzichtete 1918 auf die Krone.
Nicht vorbei hingegen war es mit der aufwendigen Lebensweise der Prinzessin, zu deren Leibschneiderin Frau Gummerling einige Monate zuvor aufgestiegen war. Beeindruckend erzählt die alte Frau Geschichten aus einer Welt, die mir so fremd und so fern ist und doch wieder so greifbar nahe vor mir sitzt.
1921 starb ihr Herr und Frau Gummerling war inzwischen bei der längst verheirateten Prinzessin in Dienst und Stellung.
In diesen Jahren muss es gewesen sei, als es ihr ein einziges Mal gestattet war, die ‚Prinzessin‘ in ihrem Schlafgemach aufzusuchen.

„Sie können sich das nicht vorstellen, wie ich da in dem Zimmer stand, dieses Bett, dieses wunderschöne Himmelbett. So ein breites Bett für eine einzige Person, so etwas hatte ich noch nie vorher gesehen. Es war weiß lackiert, mit blauen Verzierungen und der Himmel aus hellblauem Seidentuch wurde von vier blattvergoldeten Säulen getragen. Ein Traum, einfach nur ein Traum!“

Die Augen der alten Frau glänzen und ob der ganzen Erinnerungen, die da wieder hochkommen, muss sie schnell ein Gläschen Schnaps einschenken und ich muss mich wehren, was sie mit gespielt aufgesetztem Schmollmund quittiert.

Ich bin immer wieder fasziniert von den Lebensgeschichten so alter Menschen. Da ist diese Frau bald hundert Jahre alt geworden, hat an königlichem Hofe gearbeitet und sitzt nun hier im 14. Stock eines eher heruntergekommenen Hochhauses. Ich muss allerdings zugeben, daß sie sich ihre kleine Wohnung sehr schön eingerichtet hat und das sage ich ihr auch. „Na hören Sie mal! Das ist ja schließlich auch meine Wohnung, mein Eigentum. Was um mich herum vorgeht, das interessiert mich nicht, ich habe eine dicke Tür, da kann das Gesindel um mich herum hausen, wie es will, ich höre und sehe nichts. Aber die Aussicht von hier oben ist grandios, ich zieh‘ hier nicht mehr weg. Mich können Sie mal eines Tages mit den Füßen voran hier raustragen.“

Damit kamen wir damals dann zum eigentlichen Grund meines Besuches und Frau Gummerling diktierte mir detailliert ihre Wünsche. Da sie nur eine einzige Nichte hat und diese auch schon sehr betagt ist, möchte sie, daß sich dereinst ihr Großneffe um alles kümmert. Damit der Mann keine Arbeit hat, will Frau Gummerling eingeäschert und in einem kleinen Grab mit Abdeckplatte beigesetzt werden. „Die kürzeste Laufzeit, die wo geht“, sagt sie in nicht ganz korrektem Deutsch und fügt hinzu: „Ich bin jetzt schon so lange auf dieser Welt, da muß ich nicht auch noch auf ewig im Grab herumliegen.“
Sie lacht, als habe sie einen grandiosen Witz gemacht und obwohl die Schnapsflasche schon wieder in ihrer Hand ist, macht sie keineswegs den Eindruck als könne der Alkohol ihr irgendetwas anhaben. So als Sahnehäubchen auf meine Beobachtungen sagt sie dann auch noch: „Ich trink‘ ja nie was, aber mit Ihnen ist das so gemütlich.“

Das für die Bestattung benötigte Geld zählt sie mir in bar auf den Küchentisch und ich schimpfe, wie so oft bei alten Leuten, weil sie so viel Geld im Haus hat. Sie versteht nicht ganz, was ich ihr sagen will und erzählt mir, daß sie genug Geld habe. „In jungen Jahren habe ich zwar nur einen Hungerlohn verdient, aber wenn man so lange gearbeitet hat wie ich, dann läppert sich das und schließlich war ich nie verheiratet. Sie wissen ja, ein Mann ist einem immer lieb und teuer, vor allem ist er teuer und nach allem, was ich so gehört habe, sind Männer auch nicht immer lieb.“

Eine weise, kleine, alte Frau.

Nach diesem Gespräch habe ich Frau Gummerling nur ein einziges Mal wiedergesehen. Das war knapp zwei Jahre später und da war sie tot. Ganz die Hundert hat sie also leider nicht geschafft. Ihr Großneffe öffnete mir an diesem Tag die Tür von Frau Gummerlings Wohnung. Er ist auch schon ein Herr in gesetztem Alter. „Sie liegt im Schlafzimmer“, sagte er und ich wollte gerade sagen, daß ich nur das erste Gespräch mit ihm führen möchte und die Träger gleich folgen würden, da öffnet er die Schlafzimmertüre und mir verschlägt es die Sprache.

Da lag diese kleine, magere, alte Frau in einem großen weißen Himmelbett mit blauem Seidenhimmel, blauen Verzierungen und vier blattvergoldeten Säulen. Sofort fiel mir ein, was Frau Gummerling mir zwei Jahre vorher erzählt hatte und ihr Großneffe, der mein Erstaunen bemerkte, nickte und sagte: „Ja, das ist ein Bett, nicht wahr? Da hatte sie so einen Tick. Vor etlichen Jahren hat sie mal auf einer Auktion einen Haufen Geld dafür bezahlt. Sie wollte sich einen Traum aus jungen Jahren erfüllen. Ich meine, die Tante war ja schon ziemlich alt. Am Ende hat sie sich gar eingebildet, daß sei das Himmelbett einer echten Prinzessin. Aber das war bestimmt nur so eine Spinnerei.“
Er machte mit dem Zeigefinger eine kreisende Bewegung an seiner Schläfe, doch ich sah nur eine zufrieden lächelnde Tote und wusste ganz genau, was es mit diesem Bett für eine Bewandtnis hatte.

© 09.12.2008

Bildquellen:

  • himmelbett2: Peter Wilhelm


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Kategorie: Geschichten

Die teils auch als Bücher erschienenen Geschichten von Peter Wilhelm sind Erzählungen und Kurzgeschichten aus dem Berufsleben eines Bestatters und den Erlebnissen eines Ehemannes und Vaters.

Sie haben meist einen wahren Kern, viele sind erzählerisch aufbereitete Tatsachenerzählungen.

Ähnlichkeiten mit existierenden Personen sind zufällig, da Erlebnisse nur verändert-anonymisiert wiedererzählt werden.


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Lesezeit ca.: 12 Minuten | Tippfehler melden | Peter Wilhelm: © 29. Juli 2024

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