Geschichten

Ich kenne mich ja schon aus

Wir haben ja früher noch Lehrling gesagt. Offiziell hieß das schon Auszubildender oder Auszubildende, aber irgendwie rutschten mir immer wieder noch die Worte Lehre und Lehrling über die Lippen.
Es war im Juni und somit die Zeit, daß sich wieder einmal massenhaft junge Leute bei uns bewarben. Die meisten Bewerbungsmappen kamen mit der Post. Per E-Mail hat sich zu dieser Zeit noch keiner beworben.
Ein paar Leute kamen auch einfach vorbei, das habe ich immer nicht so gerne gehabt.

Und wenn ich mich bei den Spontanvorbeikommern erkundigte, warum sie denn nicht vorher einen Termin ausgemacht haben, bekam ich zur Antwort, das habe ihnen ihre Lehrerin Frau Soundso beigebracht. Spontanes Vorbeikommen zeuge von Initiative und verbessere die Chancen.

Aha! Gut, daß Frau Soundso das weiß. Ich wußte das nämlich bis dahin nicht. Mir waren die jungen Leute, die unangemeldet Einlaß in mein Refugium begehrten, ehrlich gesagt immer nur lästig; und ich ließ sie meistens von unserer ersten Bürodame, Frau Büser, abwimmeln.

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Die Mappen, die sich neben meinem Schreibtisch auf dem Computertischlein stapelten, glichen sich wie ein Ei dem anderen. Gekaufte Hochglanzmappen mit den immer gleichen Bewerbungstexten, nichtssagenden Anschreiben und glattgebürsteten Einheitsfotos.
Sie alle wollten „was mit Menschen machen“ und alle gaben an, gerne zu schwimmen, zu lesen und „was mit Freunden zu machen“.
Es war nicht ganz einfach, aus diesem doch recht unpersönlichen Gematsche die geeigneten Kandidaten herauszufinden.
Wahrscheinlich haben ganz tolle junge Leute keine Lehrstelle bei mir bekommen, weil sie auf Frau Soundso und Frau Wieauchimmer gehört haben.

Immer wenn ich in einem Bewerbungsschreiben mal ein Fünkchen Individualität entdeckte, reizte mich das, und ich lud die Betreffenden ein.
Manchmal, und das gebe ich auch unumwunden zu, entschied ich auch allein anhand des Fotos, das war vor allem bei Mädchen so.

Doch an diesem Tag kam kein Mädchen, sondern Declan Storp.
Declan hatte irgendetwas in seiner Bewerbung erwähnt, das mich neugierig gemacht hatte. Was das war, das weiß ich nicht mehr.

Der junge Herr Storp erschien in einer Kombination aus Kammgarnsakko und gebügelten (!) Jeans. Dazu trug er spitze Maruccini-Schuhe und über einem kleinkariert-grünen Hemd eine gelbe Häkelkrawatte.
Hätte es damals schon Outfittery.de gegeben, hätte ich drauf geschworen, daß er sich da von einem Internetfernshopper hat beraten lassen. Aber da es das noch nicht gab, tippte ich darauf, daß ein farbenblinder Mann von Samoa ihm diese Sachen zusammengestellt hatte.

Trotz alledem wirkte der Junge nicht wie der berühmte kleine bunte Königspapagei, sondern trug diese Klamotten mit einer gewissen Würde.
Er betrat mein Büro, als habe er einen Stock im Hintern, neigt zum Gruß nur sein Haupt und hatte ein etwas herablassendes Lächeln auf den Lippen.
Ohne meine Aufforderung abzuwarten, nahm er Platz, legte die langen Beine weitläufig übereinander, klatschte kurz in die Hände und sagte: „So, da wär‘ ich dann.“

„Da ist unzweifelhaft was dran“, entgegnete ich und fügte noch hinzu: „Platz nehmen müssen Sie ja nicht mehr, Sie sitzen ja schon.“

„Dafür sind Stühle da“, grinste Declan zurück. Dann lehnte er sich weit zurück, reckte sich ausgiebig und fragte: „Käffchen da?“

„Wie bitte?“

„Ob ein Käffchen da ist. Ich meine ihr Büroleute trinkt doch den ganzen Tag Kaffee, da ist doch bestimmt auch für mich ein Täßchen da, oder?“

‚Der kriegt die Lehrstelle niemals‘, dachte ich, war aber noch zu neugierig, um den Spitzbeschuhten gleich wieder fortzuschicken.

„Wir Büroleute? Das klingt nicht gerade nach Identifikation, was würden Sie denn für sich als Bezeichnung in Anspruch nehmen wollen?“

„Ich? Ach Gott, ich bin ein Suchender.“

„Sie suchen scheinbar schon ziemlich lang, nicht wahr. Wie ich Ihren Unterlagen entnehme, sind Sie schon 22 und haben seit Ihrem Realschulabschluß noch nichts gemacht.“

„Doch, doch, ich habe schon viel gemacht. Ich mache Fotos, ich fahre Motorrad und ich habe auch schon hier und da eine Ausbildung angefangen.“

„Ach was? Davon steht aber nichts in Ihren Unterlagen.“

„Ist nicht der Rede wert. Ich wollte mir mein Portfolio nicht verderben, nur weil in einigen Firmen die absoluten Luschen regieren. Mobbing hat da auch immer eine Rolle gespielt.“

Ich hob nur die linke Augenbraue und zwar in der Weise, von der meine Mitarbeiter sagen, das käme dem Daumenrunter im römischen Kolosseum sehr nahe, zumindest von der Wirkung her.

Er gähnte und aus dem Gähnen heraus sagte er: „Ach ja, Sie kennen das doch. Da übernimmt der Sohn oder die Tochter vom Papa den Betrieb und hat keine Ahnung. Sohn von Geburt, sage ich immer. Der Vater, der hatte alles noch von der Pike auf gelernt, aber die jungen Leute, die haben keine Ahnung und wollen bloß das Geld aus dem Unternehmen ziehen. Ist für unsereins ja auch eine Zumutung, solchen Nichtskönnern gegenüber zu sitzen.“

„Sehr interessante Ansichten…“

„Schlimmer war ja das Mobbing. Kaum hatte ich eine Ausbildungsstelle, habe ich mir immer die Mühe gemacht und im Betrieb nach Schwachstellen gesucht. Das habe ich in einer Liste notiert, auch zum Beispiel Leute, die meiner Meinung nach überflüssig sind oder nicht effektiv arbeiten. Diese Liste habe ich dann nach einer Woche dem Chef gegeben. Ich kenne mich ja aus. Und dann ging es immer los mit dem Mobbing.“

„Sie kommen also als Auszubildender neu in einen Betrieb, der vielleicht schon 50 Jahre besteht, und schreiben in der ersten Woche schon eine Liste mit Vorschlägen für Personalentlassungen?“

„Neue Besen kehren gut.“

„Ja, aber Sie kommen doch in den Betrieb, um etwas zu lernen, nicht um großartige Umstrukturierungsmaßnahmen vorzunehmen.“

„Man muß in der Probezeit gleich ein Glanzstück abliefern, sonst kriegt man keinen Fuß auf den Boden; die Konkurrenz ist hart. Ich schreibe den Chefs auch abends immer E-Mails mit meinen Verbesserungsvorschlägen.“

„Sie sind ja jetzt schon 15 Minuten hier. Was würden Sie denn hier verbessern?“

„Zum Beispiel, daß Sie mir immer noch keinen Kaffee gebracht haben. Und die alte Frau da vorne, die ist ziemlich arrogant. Die hat mich geschlagene drei Minuten im Stehen warten lassen.“

„Unerhört!“

„Ja, finden Sie auch, oder? Ich sehe, wir verstehen uns.“

„Ja, wir verstehen uns. Und wissen Sie was? Sie haben von sich gesagt, daß Sie ein Suchender sind.“

„Genau!“

„Und ich finde, das sollten Sie auch bleiben.“

Hashtags:

Ich habe zur besseren Orientierung noch einmal die wichtigsten Schlagwörter (Hashtags) dieses Artikels zusammengestellt:

#frau #leute #lippen

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