Geschichten

Lissa – 4einhalb

Da sitzt Du montags schon um 6 Uhr in Deinem Bestattungshaus, weil es Hochsommer ist und Du einen Teil Deiner Büroarbeit erledigt haben willst, bevor es wieder über 30 Grad werden. Nein, tot wollte ich nicht sein, aber so bißchen beneide ich die drei Verstorbenen, die übers Wochenende hergebracht wurden und jetzt bei kühlen Temperaturen auf ihren weiteren Weg warten dürfen.

Die Haustür steht weit auf, ich gehe herum und öffne alle Fenster, Durchzug ist das Stichwort.

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Und warum ist es so heiß? Es liegt am Wetter, verdammt noch mal. Und warum geht unsere Klimaanlage nicht? Weil Carlos Gastropoda, der langsamste Handwerker der Welt, letzte Woche ein Loch in die Kühlmittelleitung gebohrt hat, noch verdammter, noch einmal.

Der Palme in der Halle gönne ich ein bißchen Wasser. Da hält ein Polizeiwagen vor der Tür.

Ich habe noch nie was verbrochen, hatte nie Ärger mit den Brüdern und trotzdem fährt mir immer ein Schrecken in die Knochen, wenn ein Polizeiauto vor meiner Tür anhält. Hängt vielleicht damit zusammen, dass meine Mutter mir als kleinem Buben, immer wenn ich mal wieder nicht so folgsam war, angedroht hat, mich in eine Besserungsanstalt abholen zu lassen.

Doch diesmal kommen die Beamten nicht, um jemanden zu holen, sondern sie bringen eine Frau und ein Kind.
Eben noch denke ich, wie witzig es wäre, zu den Beamten zu sagen: „Hier seid ihr falsch, ich hab das nicht bestellt, ich habe schon Frau und Kinder“, da wird mir bewußt, dass das der Würde des Hauses nicht gerecht würde.

Das war auch gut so, denn die Frau und das Kind kommen langsam die paar Stufen hoch und stehen mir dann etwas hilflos gegenüber.

Klar, da muss jemand gestorben sein und die beiden sind da, um hier alles zu regeln.
Ich hoffe nur, dass es nicht der Ehemann und Vater ist.

Es ist der Ehemann und Vater.

Okay, damit kann ich umgehen. So etwas passiert, leider. Aber es kommt eben vor und als Bestatter musst Du da auch einen klaren Kopf behalten und die „Angelegenheit abwickeln“. Ja, in Sekunden wird aus einem herzzerreißenden Verlust eine Angelegenheit, die abgewickelt wird.
Empathie hin, Empathie her, letztlich bekommt der Verstorbene eine Nummer, wird zu einer Akte und nach meist zwei Wochen ist die Sache eben abgewickelt.

Die junge Frau ist 31 Jahre als, heißt Ramona und die Kleine ist knapp 5 Jahre alt und heißt Larissa, wird aber Lissa genannt.
„Nein“, sagt Ramona, „das hat sich Lissa selbst so ausgesucht, sie will Lissa genannt werden.“

Ramona ist Halbitalienerin, hübsches Gesicht, schöne, mollige Figur und tolle, kurze schwarze Haare. Sie rollt das R so schön.
Lissa ist ein Engelchen. Kinder mit Locken üben eine besondere Wirkung auf mich aus. Sie ist blond und hat so strahlend blaue Augen, dass man gar nicht anders kann, als immer wieder hinzuschauen.
Doch mit den Augen stimmt was nicht. Die Pupillen sind geweitet und der Blick des Mädchens geht ins Leere.

Inzwischen ist es 7 Uhr, Frau Büser kommt auch früher. Sie bekommt nachmittags dicke Beine, wenn es so heiß ist, und hat beschlossen, jeden Tag um 14 Uhr nach Hause zu gehen. Da muss man als guter Chef mitmachen, sonst läuft man Gefahr, dass die altgediente und nahezu allmächtige Bürodame einen entlässt…

Ich werfe ihr einen jener Blicke zu, die nur dann vielsagend sind, wenn man sich schon so lange kennt, wie Frau Büser und ich es tun.
Sie bringt kurz darauf Espresso und Wasser für alle und dass sie meinen Blick verstanden hat, merke ich, als sie dann zu Lissa sagt: „Komm, wir gehen mal in die Küche, da schauen wir mal nach, was wir für Dich zu trinken haben. Und Spielzeug haben wir auch.“
Lissa folgt ihr, ohne aber zu lächeln, mehr so wie ein Roboter.

Ramona hebt die Schulter und läßt sie, begleitet von einem langen Seufzer langsam sinken.

„Was ist denn passiert?“, erkundige ich mich. Die Frau muss erzählen, der Druck muss raus aus ihr.

„Tobias“, sagt sie, dann muss sie weinen. Wie jeder Mann, kann ich mit weinenden Frauen eigentlich gar nicht umgehen. Das Weinen einer Frau ist ein Argument, dem kein Mann etwas entgegenzusetzen hat.

Doch ich habe gelernt, zwischen Berufstränen und Privattränen zu unterscheiden. Das musst Du als Bestatter können. Sonst gehst Du vor die Hunde. Du hast ja auch nur eine Seele, und die kannst Du nicht mit tausenden von Schicksalen vollpacken. Dein eigenes braucht Platz genug.

Ich lasse Ramona weinen, rühre währenddessen etwas Zucker in meinen Espresso, dann schiebe ich ihr die Box mit den Kosmetiktüchern rüber. Sie zupft eins raus und schnäuzt sich.

Dann erzählt sie.

Tobias und sie sind seit zweieinhalb Jahren geschieden. Es habe einfach nicht gepasst und irgendwann habe es geknallt und sie sei mit Lissa ausgezogen. Trennung, Scheidung, Kampf um das Sorgerecht. Der übliche Scheiß also.
Nein, nein, das dürfe ich nicht falsch verstehen, am Ende sei alles friedlich ausgegangen. Tobias hätte alle 14 Tage sein Papa-Wochenende bekommen, und immer brav den Unterhalt bezahlt. Auch nicht selbstverständlich.

Immer von Freitagmittag bis Sonntagabend wäre Lissa alle 14 Tage bei ihm gewesen. Das Mädchen habe diese Wochenende genossen und Tobias hat alles getan, um es seiner Tochter schön zu machen.

„Am letzten Freitag hat er Lissa vom Kindergarten abgeholt und mit zu sich genommen. Lissa hat noch eine Handynachricht geschickt und zwei Fotos, wie die beiden gerade Pizza belegen. Ich hatte mich übers Wochenende mit Jessica verabredet und wir waren erst im Schwimmbad, dann Samstagabend auf einer Beachparty. Sonntag waren wir zum Frühstück mit zwei anderen Freundinnen verabredet. Da gehen wir immer in so ein schickes Café, die machen Brunch.“

Passend zum Thema bringt Frau Büser zwei kleine Teller mit je einem Croissant herein. Ramona greift ohne aufzublicken zu und vertilgt das Hörnchen in Windeseile. Sie muss eine Weile nichts gegessen haben. Ich schiebe ihr meinen Teller auch noch rüber und sie ißt auch dieses Croissant.

Kauend erzählt sie: „Normalerweise schickt Lissa das ganze Wochenende immer Fotos, schreiben kann sie ja noch nicht. Aber es war seit Freitag nichts mehr angekommen, auch nicht vom Sonntagsfrühstück. Tobias macht immer amerikanisches Frühstück mit Pfannkuchen, Sirup und Bacon. Das liebt Lissa. Aber gestern kam nichts. Ich habe auch nicht weiter drüber nachgedacht. Ich gehöre nicht zu den Müttern, die gleich hohldrehen, wenn sie mal zwei Minuten nichts von ihren Kindern hören.
Aber am Sonntagmittag, da kam mir das schon ein bißchen seltsam vor. Bis dahin hat mir Lissa sonst immer bestimmt fünf Nachrichten mit Smilies und an die 10 Fotos geschickt. Meist blöde Fotos, auf denen sie sich irgendeinen blöden Hut aufgesetzt hat oder das Gesicht mit Nutella bemalt hat.
Es tut mir gut, wenn ich solche Fotos sehe.
Aber da kam nix. Eigentlich hätten da schon die Alarmglocken klingeln müssen. Aber ich war für den Sonntagnachmittag bei Petra eingeladen, um ihre Hochzeit zu planen. Das war mir auch wichtig und ich hatte mich schon so darauf gefreut. Für uns Frauen ist das doch eine tolle Sache, wenn man da alles planen und vorbereiten kann.

Es war so gegen 17 Uhr, da hörte ich aus meiner Tasche den Benachrichtigungston. Lissa hatte was geschickt.
Ein Foto.
Sie hatte ein Selfie von sich und Tobias gemacht. Auf der Couch.
Ich sag Ihnen, mir ist so der Schreck in die Knochen gefahren. Sie lag neben Tobias auf der Couch und man konnte genau sehen, dass Tobias tot ist.“

Am Freitagabend hatte Tobias auf der Couch liegend einen Herzinfarkt erlitten und war in kürzester Zeit daran verstorben.
Das kleine Mädchen Lissa hatte die ganze Zeit mit ihrem toten Vater zugebracht, von Freitagabend gegen 18 Uhr bis Sonntag gegen 17.30 Uhr.
47einhalb Stunden gemeinsam mit dem Tod.

Die Polizei hatte rekonstruiert, dass das Kind ihrem Vater Getränke gebracht und Essen hingestellt hatte. Doch der reagierte nicht mehr.

Durch die offenen Fenster zieht kühle Luft in unser Bestattungshaus. Aber die ist nicht Schuld daran, dass ich eine Gänsehaut habe.

Bild: Gilmanshin / Pixabay

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