Geschichten

Mit einem Apfel im Maul

Bei Herrn Doktor Schündler ist Literaturabend. Solche Abende veranstalten er und seine Frau zweimal im Jahr und laden sich immer eine illustre Gesellschaft ein. Da kommen sehr viele Liebhaber der schreibenden Kunst, solche die es werden wollen und solche die tun, als ob sie lesen könnten.

Meine Frau und ich, wir können lesen, wir mögen aber meistens die Literatur nicht, die bei Schündlers zum Vortrag gebracht wird, finden aber das Essen dort immer so lecker.

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Gestern hatte Dr. Schündler gleich mehrere Künstler eingeladen. Zuerst bemühte sich ein spindeldürrer Mann mit einer lächerlich kleinen Sehhilfe, die nur noch entfernt etwas mit dem zu tun hatte, was wir so als Brille bezeichnen würden, mit seinen unendlich dürren und langen Beinen, die in einer schwarz und weiß gestreiften Hose steckten, auf einem viel zu kleinen Barhocker Platz zu nehmen.

„Kanuff!“

Ich schrecke hoch, sage „Gesundheit“ und schon habe ich es geschafft, daß nach nur zwei Sekunden künstlerischen Vortrags alle Blicke auf mir haften und meine Frau mir ebensolche zuwirft, die aber nicht, wie die Blicke der anderen, fragen „Was ist das denn für einer?“, sondern sagen: „Benimm Dich, Du Eumel, sonst mach ich Dich tot!“

Der Künstler schließt, entnervt durch meine Unterbrechung, kurz die Augen, atmet hörbar tief durch und beginnt von vorne:

„Kanuff!“

Ich kann nichts dafür, am Liebsten hätte ich wieder „Gesundheit“ gesagt, aber ich beherrsche mich.

„Großwielender Kanuff, sprich aus der Macht.
Flieh Du oh selber, Deine Nacht.
Baff steh o Du Kanuff Du selbst!“

Frau Doktor Schündler, die selbst nie eine Universität von innen gesehen hat, aber fest darauf besteht, seit ihrer Heirat ebenfalls Frau Doktor genannt zu werden, klatscht begeistert Beifall. Die anderen fallen ein und der Dürre springt auf und verneigt sich zollstockartig.

Die Gastgeberin erklärt, es handele sich um den lieben Detlef von Stierhausen, bürgerlich Detlef Bömmel, der uns eine erste Kostprobe seines „Nachtgedanken an Erika“ genannten Lyrikbändchens zu Gehör gebracht habe. Später komme der noch mit einigen weiteren Beispiel seiner großen Kunst, doch zunächst sei er von diesem ersten Vortrag so ermattet, daß er dringend der Rekreation bedürfe und somit der Platz auf dem, vor einem Bechsteinflügel aufgebauten, Barhocker für eine junge Künstlerin aus Kasachstan frei werde.

Ich erwarte jetzt sowas wie Ludmilla Krachnikowa aber die junge und durchaus sehenswerte Frau heißt ganz profan Rosel Sperber. Ihr Deutsch ist etwas hart aber fließend und ihre Stimme ist wohltönend, als sie ankündigt, nun ein Lied von Schubert singen zu wollen. Es gehe um die Forelle…

Jau – Ich weiß ja nicht, ob das allen Leuten so geht, aber bei mir ist das so, daß wenn ich einmal im Text eines Liedes eine Stelle falsch verstanden habe, ich genau dieses Falsche immer wieder höre, egal wie deutlich die Sänger das auch singen mögen.

Für alle, die das Forellenlied nicht kennen, gibt es hier eine Kostprobe zum Anhören.

Und zwar geht es genau um diese Textpassage, gleich am Anfang des Liedes, am Ende der ersten Strophe:

In einem Bächlein helle,
Da schoß in froher Eil
Die launische Forelle
Vorüber wie ein Pfeil.

Ich weiß nicht warum, aber ich höre und verstehe da seit ewigen Zeiten „Da schoß in froher Eil, die launische Forelle vorüber wie ein Schwein.“

Ich weiß, daß das Quatsch ist, ich bin mir meiner Kopfstörung da durchaus bewußt, aber ich kann das Forellenlied sowieso nicht leiden, finde diese flinken, sich immer wiederholenden Fingerläufe auf dem Klavier zum Kotzen und nicht zuletzt geht mir das fischige Gesinge schon deshalb fürchterlich auf die Nerven, weil sich auf nahezu jeder altbiederen Veranstaltung irgendeine fettbusige Tante vor den Flügel wuchtet und diesen doofen Fisch besingt.

Meine Frau weiß, was kommt, ihre Blicke werden warnender, doch ich spüre nur das Brennen ihrer Blicke auf meiner Gesichtshaut, gucke aber nicht wirklich in ihre Richtung. Nein, dieses Mal werde ich mich beherrschen, ich kann das!

Kaum hat die hübsche junge Frau aus Kasachstan das eilfertige Schwein erwähnt, gluckst es in mir hoch. Vor meinem geistigen Auge sehe ich nämlich immer die Birnbaumer-Nüsselschweif mit einem Apfel im Maul, wie sie -Gott sei meiner armen Seele gnädig- nackt durch einen Bach gespült wird.

Das Glucksen kommt so von einer Stelle, die etwa zwei Zentimeter unterhalb meines Zwerchfells und vier Zentimeter innerhalb meiner Leibesfülle liegt. Ich kann diese Stelle also mit bloßen Händen nicht erreichen und das Glucksen auch nicht abwürgen. Schon ist es die Atemwege hochgegluckst und ich muß lachen…

Schnell habe ich mir ein Taschentuch vor den Mund gehalten, tue so, als müsse ich vor Ergriffenheit, ob der tollen Interpretation weinen und nur meine Frau weiß, daß ich schon wieder ein Schwein gehört und gesehen habe, alle anderen müssen denken, Schubert und sein Fisch lägen mir besonders am Herzen.

Nach Frau Sperber, die ich frenetisch beklatsche, kommt Herr von Stierhausen herbeigestelzt, setzt sich auf den Barhocker, schließt die Augen und sitzt minutenlang stumm da, sein Gedichtbändchen aufgeschlagen in den Händen. Die Augen bleiben geschlossen, als er das Bändchen zuklappt und ans Herz hebt. Ein leises Raunen geht durch die etwa 30 Anwesenden; mein Gott, der Künstler rezitiert frei!

Die Lyrikeraugen gehen auf, Tränen stehen in den wassernassen Augenwinkeln und mit nasal quäkender Stimmer trägt der streifhosige Frischling vor:

„Jedweder Schmerz
der Tod!
Er scheidet uns
der Tod!
Hinfort mit ihm
der Tod!
Oh Erika!“

Ergriffenheit herrscht vor, alles ist still, keiner klatscht, vielleicht hat auch bloß keiner gemerkt, daß er schon fertig ist; ich für meinen Teil will gar nicht klatschen, nachher fängt der nochmal an oder liest noch was vor…

Frau Doktor Schündler ist die Erste, die mit dem Klatschen anfängt und pflichteifrig stimmen alle anderen mit ein, Stierhausen zollstockt ein bißchen und stakst weg.

Bevor es gleich nebenan im Salon etwas zu essen gebe, komme noch etwas ganz Besonderes. Frau Luise Scheele-Glotz, die liebe Gattin unseres noch viel lieberen Sparkassendirektors Erwin Scheele-Glotz, habe in vielen Stunden und langen Nächten ebenfalls ein literarisches Werk geschaffen.
In diesem bislang unveröffentlichten, aber immerhin 1.200 Seiten starken Roman, gehe es um die Aufarbeitung der Flucht ihrer Großeltern aus Ostpreußen, die die Bankiersgattin in die Fabelwelt der Tiere transponiert habe und durch die Einfügung biblischer Gestalten angereichert habe. Auch Elemente aus den Grimmschen Märchen würde der geneigte Zuhörer sogleich erkennen können und wer ganz genau zuhöre, der wisse auch sofort, daß dem Roman „Peterchens Mondfahrt“ als Leitmotiv zugrunde liege.

Ich geh gleich kotzen…

Langsam, ganz langsam gehe ich rückwärts, irgendwo hinter mir muß eine Wand sein. Vorne lächele ich und nicke der fetten Bankiersgattin aufmunternd zu, als sie mit Hilfe zweier freundlicher Helfer es fertig bringt, wenigstens ein Drittel der rechten Pobacke auf dem Barhocker zu platzieren.
Wenn ich die Wand erreiche sind es nur noch zwei Schritte seitwärts bis zur Tür…

Glücklicherweise fallen der Dicken ihre losen Manuskriptblätter runter, ein kleiner Tumult entsteht, eilfertige Hände helfen beim Zusammenklauben, die Dicke ist konsterniert, jetzt sei ja alles durcheinander!
Ha! Meine Chance! Ich stoße an die Wand, nur noch zwei Schritte und ich entfliehe dieser Folter.
Die Wand! Nach rechts! Ist das die Klinke? Was ist das? Vorne lächeln, hinten tasten…
Ich weiß nicht genau, was meine Hände da berühren, aber es ist kalt und aus Metall, es muß die Klinke sein.
Doch es ist nicht die Klinke.
Es ist eine Glocke aus Messing, die da in Hüfthöhe an der Wand hängt und vielleicht geläutet wird, wenn das Essen fertig ist.
Jedenfalls läutet sie jetzt, als ich die vermeintliche Klinke herunterdrücken will und es dauert nur den Bruchteil einer Sekunde, da habe ich alle Blicke im Saal auf mich gezogen.

„Huhu! Kuckuck!“ ruft Frau Doktor Schündler und kommte lächelnd und mit ausgebreiteten Armen auf mich zu. Dabei jubiliert sie in die Runde: „Meine lieben Gäste, darf ich Ihnen jemanden vorstellen? Hier ist ein ganz, ganz lieber Künstler unter unseren Gästen, der durch das Läuten sicher zeigen will, daß er für Frau Scheele-Glotz einspringen möchte, bis die ihre Blätter wieder geordnet hat. Einen kleinen Applaus bitte!“

Und während mir alle zuklatschen zieht mich die Doktorenfrau nach vorne vor den Bechstein und fragt leise: „Singen oder vorlesen?“

Ich hab‘ dann doch lieber was vorgelesen.

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(©si)