Geschichten

Opa Gleisberg -IX-

Eine Stunde später ist Herr Böttcher da. In seiner weiß-grünen Pflegekleidung hatte er anders ausgesehen, ich erkenne ihn in seiner Freizeitkleidung gar nicht sofort.

Er bringt ein kleines Sträußchen Blumen für den toten Opa Gleisberg, es scheinen selbst gepflückte Blumen zu sein.

Antonia nimmt ihm die Blumen ab und verspricht, sie dem Verstorbenen auf die Trage zu legen. Dann drückt sich Böttcher herum, druckst herum, geht nicht, verabschiedet sich umständlich, bleibt…
Ich nicke ihm zu, was bedeutet, er soll sich in den dicken Ledersessel in der Halle setzen. Das tut er auch. Ich selbst nehme auf dem Sofa Platz, lehne mich zurück und schlage die Beine übereinander.

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Das tue ich bewußt, weil ich weiß, daß meine Gegenüber mir stets in Sitzhaltung und Bewegung folgen; sie tun das unbewußt, doch sie tun es. Und so gibt auch Böttcher die vornübergebeugte Haltung auf, nimmt die auf den Knien aufgestützten Ellenbogen hoch und lehnt sich ebenfalls im Sessel zurück. Ich kann insgeheim zählen, zehn, neun, acht… bei sieben hat auch er seine Beine übereinander geschlagen.

Nun sitzt er bequem und entspannt da und als Frau Büser uns wortlos nickend ein Tablett mit einer Kanne Kaffee, zwei Tassen, Milch und Zucker hinstellt, mache ich eine einladende Handbewegung und gieße mir und dem Gast eine Tasse ein.
Als Böttcher sich Zucker in den Kaffee rührt, habe ich ihn aufgetaut und er beginnt zu sprechen.

Dieser Job in der Pflege sei kein leichter.
Er habe ja auch lange in einem Heim gearbeitet, doch dann sei dieses Heim von einem Konzern gekauft worden und man habe bei fast halbiertem Personal und einer um die Hälfte gestiegener Bewohnerzahl erwartet, daß dann auch noch doppelt so viel gearbeitet wird.
„Wissen Sie, wozu das führt?“ fragt er mich und weil es eine rhetorische Frage ist, fährt er gleich fort: „Das führt dazu, daß Du die Schlüsselzahlen auf dem Patientenbogen hinschreibst, ohne daß du da was gemacht hast.“
Er nickt und atmet erleichtert durch, so als habe er mir gerade ein ganz wichtiges und großes Geständnis gemacht.
Dabei weiß ich, daß in manchen Heimen das Personal für wenige Sekunden, bestenfalls Minuten im Zimmer der Bewohner war und dann anschließend eine ganze Batterie von in Zahlen verschlüsselten Leistungen eingetragen wird, die man angeblich in der kurzen Zeit alle erbracht haben will oder haben muss.

Das ist so, als wenn ich zu einem Arzt gehe, ihm schildere, daß ich da und dort Schmerzen habe und er mit ohne weitere Untersuchung das Medikament aufschreibe, um das ich ihn bitte. Hinterher steht immer eine eingehende Beratung und eine ausführliche Untersuchung auf dem Zettel.
Noch schlimmer ist das bei Tierärzten; oder zumindest wird das da offensichtlicher, weil man die Rechnung direkt mitbekommt.
Fünf Minuten mit der Katze im Sprechzimmer gewesen und die Rechnung ist zwei A4-Seiten lang.
Das nenne ich Multitasking; die müssen sich schneller bewegen können, als es das menschliche Auge wahrnehmen kann, da stehen Sachen auf der Rechnung von denen ich gar nicht gesehen habe, daß die gemacht worden sind.

„Wir haben doch einfach keine Zeit“, reißt mich Böttcher aus meinen Gedanken und erklärt mir, daß er und seine Kolleginnen netto irgendwas um die drei bis fünf Minuten pro Patient haben. „Dauert das bei einem mal etwas länger, ich meine, wir nehmen uns ja die Zeit, dann müssen wir aber beim nächsten schon hoppla-hopp machen.“

Er sagt zunächst nichts Konkretes zu Herrn Gleisberg, aber ich verstehe seine Botschaft. Er will mir sagen, daß es da wohl auch Versäumnisse des Pflegedienstes gegeben hat. Die Umstände waren eben suboptimal, aber nicht katastrophal, zumindest das, was der Pflegedienst zu sehen bekam und da war man einfach froh, daß sich überhaupt jemand um den Alten gekümmert hat.

Dann hebt Böttcher auf einmal die Arme und lässt sie kraftlos wieder fallen. „Wir sind schuld! Ja, ich selbst bin schuld am Tod von Herrn Gleisberg…“

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(©si)