Menschen

Rapunzel

Wie sag ich’s meinem Kinde? Manchmal hat man ja irgendwelche unangenehmen Botschaften, bei denen man es sich überlegt, ob man sie überbringen sollte oder nicht und bei denen sich die Frage stellt, wie man sie dann möglicherweise überbringt.

Herr Fischer ist gestern gegen Abend bei uns gewesen und wurde von einer Mitarbeiterin beraten. Ursprünglich wollte die zu ihm fahren, um die Besprechung bei ihm zu Hause durchzuführen, aber dann stand er plötzlich doch im Büro. Er sei ohnehin auf dem nahegelegenen Friedhof gewesen, um sich schon mal die Gräber anzuschauen… Auch gut.

Nebenbei bemerkt: Bei Pietät Eichenlaub gibt es sowas wie Hausbesuche gar nicht. Entweder man kommt zu denen ins Büro oder man hat Pech gehabt. Deren Frage am Telefon lautet: „So, und wann kommen Sie vorbei?“

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Wir hingegen fragen: „Wie sieht es denn mit dem Beratungsgespräch aus? Wann würde Ihnen das passen und würden sie es bevorzugen zu uns zu kommen oder sollen wir zu Ihnen kommen?“

Im Prinzip ist uns beides recht. Wenn die Leute zu uns ins Büro kommen, hat das den Vorteil, daß sie die Waren im Original anschauen können und wir haben das gesamte Büro als Backup, damit wir sofort alle Terminfragen klären können. Andererseits hat das Beratungsgespräch zu Hause den Vorteil, daß der Kunde mal eben aufstehen und an den Schrank gehen kann, wenn irgendwelche Unterlagen (Stammbuch z.B.) fehlen.

Aber zurück zu Herrn Fischer. Das Beratungsgespräch an sich verlief unspektakulär und ist für die weiteren Betrachtungen ohne Belang. Lediglich eine Äußerung ist bedeutsam. Herr Fischer sagte, als ich das Thema offene Aufbahrung ansprach: „Und bitte kämmen Sie meiner Frau ihre langen Haare, sie war Zeit Lebens immer so stolz darauf, hat es täglich gebürstet und ich bin so stolz darauf, dass sie trotz ihres hohen Alters noch immer so pechschwarzes Haar hatte.“

Am heutigen Morgen holte dann einer unserer Männer Frau Fischer aus dem Kühlraum, um sie anschließend zurecht zu machen, damit sie in einer unserer Aufbahrungszellen besucht werden kann. Kurz darauf kam dann der Anruf aus dem Keller: „Wir haben da ein Problem mit den Haaren von Frau Fischer.“

„Ich habe davon gehört, sie sollen sehr lang sein.“

„Zumindest steht es so auf dem Zettel und ich will sie jetzt waschen und kämmen, aber es gibt da ein Problem.“

Ich bin dann runtergegangen und habe mir das Problem mal angeschaut. Tja, so wie es aussieht, hat Frau Fischer keine langen schwarzen Haare, sondern ganz kurze graue.
Im ersten Moment habe ich einen Schrecken bekommen und befürchtet, wir hätten eventuell die falsche Leiche, aber Papiere und Armbändchen stimmen überein. Ich bin also gerade im Keller, da geht schon wieder mein Telefon. Herr Fischer sei jetzt nochmals da, heißt es.
Oben im Gesprächszimmer 2 sitzt er und hat zwei Fotos mitgebracht, die seine Frau mit voller Haarpracht zeigen: „So sollen die Haare bitte liegen. Sie wissen ja, das ist mir sehr wichtig.“

Ganz vorsichtig erkundige ich mich: „Dieses schöne lange schwarze Haar hatte sie bis zuletzt, nicht wahr?“

Mit stolzgeschwellter Brust erwidert Herr Fischer: „Bis zur letzten Sekunde! Kein einziges graues Haar. Und so schön lang….“

Ich hätte die Verstorbene selbst noch nicht gesehen, lüge ich notgedrungen, nehme die beiden Fotos an mich und berufe den großen Kriegsrat ein.
Ganz offensichtlich hat Frau Fischer immer eine Perücke getragen und ihren Mann über ihre wahre Frisur und Haarfarbe im Unklaren gelassen.

So sitzen wir, meine Mitarbeiter, meine Frau und ich um den langen Tisch und überlegen, was wir am Besten machen können.
Die Männer sind sich mal wieder einig: Man müsse das dem Alten klipp und klar sagen, fertig.
Die Frauen, zu deren Fraktion ich dieses Mal dazu gehöre, meinen hingegen: Auf gar keinen Fall, da würde man ihm einiges kaputtmachen.

Nach dem Palaver schicke ich eine Mitarbeiterin los, sie soll im Krankenhaus mal nach der Perücke forschen. Eine andere Kollegin fragt mal bei den einschlägigen Studios nach, was so eine Perücke kostet.

Über eins bin ich mir sicher: Ich werde nur im äußersten Notfall dem Mann seine Illusion rauben.

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(©si)