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Schlehenlikör

Das muß man sich mal vorstellen: Da lädt eine 82jährige alte Dame die ganze Mischpoke, die sich ihre Familie nennt zu sich nach Hause zum Kaffee ein. Etwas Wichtiges will sie mitteilen und da es unter anderem ein Häuschen zu erben gibt, sind sie alle gekommen, obwohl sie sich seit Jahren nichtmal mit der hinteren Sitzrundung anschauen.

Gespannt sitzen sie im Wohnzimmer, doch Oma Lotte läßt sich Zeit, versorgt erst einmal alle umständlich mit Kaffee und Gebäck bevor sie ankündigt, bald zur Sache kommen zu wollen. Während sie immer mal wieder in der Küche verschwindet, liegt leise knisternde Aggression in der Luft, jeder hat dem anderen etwas vorzuwerfen, keiner erinnert sich mehr genau daran, warum man sich eigentlich streitet, aber es ist halt schon lange so und deshalb soll es auch so bleiben. Man redet Belangloses, die drei Ehepaare sitzen jeweils paarweise dicht beeinander, es sind alles Enkel mit ihren Partnern und trotzdem tut Oma Lotte so, als sei alles in Butter und verbreitet aufgesetzte Fröhlichkeit: „Ach, was isset schön, datt alle mal wieder zusammen sind!“

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Mit gequältem Lächeln quittiert die Enkelgeneration die Freude der Alten und da sich die Enthüllung oder Offenbarung wohl noch etwas hinzieht, bricht einer das Eis und wenigstens zum Schein kann man ja so tun, als sei man nicht gekommen, um die Haut des Bären zu verteilen und unterhält sich doch tatsächlich mal ein bißchen.
Oma Lotte verzögert weiter, serviert noch mehr Gebäck: „Greift tüchtig zu, das mögt ihr doch alle so gerne, hab‘ ich selbst gebacken!“
Ganz vorsichtig lockert sich die Stimmung, man erinnert sich an frühere gemeinsame Feiern, bei der es auch immer Kuchen und Gebäck von Oma Lotte gab. Ein erstes, noch etwas aufgesetztes Lachen; Oma Lotte holt nochmal Kaffee und Süßstoff für Inge.

Eine gute Stunde kämpft die alte Dame so gegen die gegenseitige Ablehnung ihrer Enkel an, dann scheint es so, als zeige die großmütterliche Gemütlichkeit Wirkung, die Enkel reden miteinander. Zeit für den nächsten Schritt! Die Alte holt eine Schachtel mit alten Fotoalben aus der großen Schublade des Wohnzimmerschranks und wenig später sitzen alle zusammen, um ihren Partnern die auf Papier gebannten Kindheitserinnerungen der drei Geschwister zu zeigen.

Schlehenlikör ist Oma Lottes Geheimwaffe Nummer zwei. Erst will ja keiner, aber sie schenkt trotzdem ein und vor lauter Bildergucken, nippen dann doch alle und zwei Stunden nachdem alle gekommen waren, fest entschlossen dem jeweils anderen nichts zu gönnen, sitzen sie mit roten Bäckchen um Oma Lottes Bilderschachtel herum, trinken schon die dritte Runde Schlehenlikör und lachen, scherzen und vertragen sich.

Ganz unten im Karton entdecken sie noch einige Blätter und es dauert einen kleinen Moment, bis sie kapieren, daß Oma Lotte über viele Jahrzehnte alle selbstgemalten Bilder ihrer Enkel aufgehoben hat, aus dem Kindergarten, aus der Schule.

„Oma Lotte“, ruft Inge, „komm doch jetzt mal aus der Küche, wir haben die Bilder gefunden, die selbstgemalten, komm doch mal.“

Doch Oma Lotte kommt nicht mehr. Sie sitzt in der Küche auf einem Stuhl und ihre Augen sind starr. Sie kann nicht mehr kommen.

Zwei Stunden später sitzen alle bei mir im Büro, Inge erzählt mir wie es war, Lothar ihr Mann, hat Oma Lottes Dokumentenordner dabei, drei Stück sind es. Da war sie pingelig, alles ist sauber abgeheftet, es gibt keine Telefonrechnung seit 1956, die sie nicht abgeheftet hat. Ich suche nach er Rentennummer, ein Enkel sucht in einem anderen Ordner nach den Versicherungspolicen und die Frauen schauen im dritten Ordner nach dem Stammbuch.

Inge ist immer noch ganz fasziniert von der Situation: „Seit Jahren das erste Mal, daß wir so friedlich zusammen sind.“

Ich hoffe mal, daß das so bleibt.

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Ich habe zur besseren Orientierung noch einmal die wichtigsten Schlagwörter (Hashtags) dieses Artikels zusammengestellt:

#schlehenlikör

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