Geschichten

Tabak

Jedes Jahr an einem ganz bestimmten Tag im Mai kommt Herr Brander zu uns. Inzwischen ist Herr Brander selbst 74 Jahre alt, aber er kommt nicht wegen seiner Bestattung oder wegen seiner Frau. Herr Brander will immer das Gleiche, er möchte einen Satz roter Friedhofskerzen kaufen, einen fest gebundenen Strauß aus Maiglöckchen bestellen und eine Anzeige in der Zeitung aufgeben.

Die Anzeige lautet immer gleich:

in memoriam!
JURI
1930-1944

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Vor ein paar Jahren habe ich Herrn Brander mal gefragt, warum er das macht. Er stellt die Kerzen auf das Doppelgrab seiner Eltern, legt den kleinen Blumenstrauß genau in die Mitte und steht dann eine Stunde lang auf dem Friedhof und weint.

„Warum ich das mache?“ hatte Brander gefragt, seine Augen blickten durch mich hindurch in die Ferne und aus den Tiefen der Erinnerung holte er eine berührende Geschichte hervor.

„Wir stammen alle aus der Backo Dobro Polje (sprich: Batschko Dobro Polje), das ist eine Gegend im jugoslawisch-ungarischen Gebiet. Dort siedelten meine Vorfahren schon Ewigkeiten und wir hatten wohl das schönste Dorf der ganzen Welt. Ich kann Ihnen heute noch sagen, wo jedes einzelne Haus gestanden hat und wer in welchem Haus gewohnt hat. Es war ein karges Leben, denn die meisten waren Lohnbauern oder kleine Handwerker, aber es war ein schönes Leben dort.
1944 mit dem Vorrücken der Roten Armee begann die Vertreibung. Die die zuerst wegzogen, die hatten noch ganze Pferdewagen voll mitnehmen können, andere glaubten nicht daran, daß wir wirklich weg mußten, wieder andere meinten sogar, man könne sich dem widersetzen.
Doch es half alles nichts. Bald kamen Flüchtlingstrecks von noch weiter östlich gelegenen Dörfern und was die Leute zu berichten hatten, das muß ganz schrecklich gewesen sein. Uns Kindern hielt man oft die Ohren zu oder schickte uns weg, wenn das erzählt wurde, aber es sollte dann nur noch ein paar Wochen dauern, bis auch wir unsere Sachen packen mussten.
Ein kleiner Handkarren voll, das war alles was wir für acht Personen mitnehmen konnten.
Mein Vater, meine Mutter, Opa und Oma, die Omamutter und der Omavater und natürlich mein Bruder Juri und ich.

Mal ging die Flucht zu Fuß, mal standen Eisenbahnwaggons für uns bereit und ab und zu nahm uns jemand auf Pferdewagen mit. Nun darf man sich das nicht so vorstellen, daß man jeden Tag auf Reisen war und sicher und bequem von einem Ort zum anderen kam.
Immer wieder wurden wir unterwegs bei Bauern einquartiert und blieben dort ein paar Wochen als willkommene Arbeitskräfte und als unnötige Esser. Sie können sich nicht vorstellen, wie wir manchmal behandelt wurden.
Unsere Gruppe waren vielleicht 80 Leute, mal mehr mal weniger, mal tat man sich wieder mit anderen zusammen, mal trennte man sich wieder. Und immer lautete die erste Frage: Wisst Ihr was von dem und dem, wisst ihr wo die sind?
Mein Bruder Juri war damals 14, ich selbst war 8. Als der kleine Bruder und der Jüngste in der Familie genoss ich einige Vorzüge, ich mußte nicht ganz so schwer schleppen und bekam manchmal eine Extraportion. Ich erinnere mich daran, wie wir einen Abend von einem Bauern vier Äpfel bekamen. Zwei davon hat der Vater aufgeschnitten und die Stücke an alle verteilt und später als alle schliefen, hat Vater mir und dem Omavater noch einen ganzen Apfel gegeben. Man kann sich nicht vorstellen, wie gut dieser Apfel damals geschmeckt hat.

Immer wenn wir in irgendeiner Scheune übernachteten, schimpften die Bauern, wenn wir Flüchtlinge rauchten. ‚Brennt uns bloß nicht das Heu ab, passt auf das Stroh auf!‘ Und so gingen die Männer abends hinter die Scheune und rauchten dort ihr selbstgedrehtes Kraut. Ich möcht‘ gar nicht wissen, was die da für ein Kraut geraucht haben.
Aber ich hatte einen Lederbeutel gefunden, so einen kleinen, oben zugebundenen Lederbeutel, den ich gut in meiner Hose verstecken konnte; und immer wenn die Männer sich zur Ruhe gelegt hatten, ging ich hinaus und sammelte die kurzen Stummel ihrer Zigaretten ein. Da kratzte ich dann den letzten Tabak raus und sammelte das in meinem Beutel.
Tabak und Zigaretten waren damals unglaublich viel wert. Wenn du Tabak gehabt hast, konntest du fast alles dafür bekommen.
Irgendwann war mein Beutelchen prall gefüllt und ich hatte als kleiner Junge so die Vorstellung, mit diesem Reichtum könnte ich uns eines Tages im Westen ein schönes Haus kaufen. Und weil das so ein wertvoller Besitz war, versteckte ich den Beutel jeden Abend in der Dunkelheit sorgsam irgendwo im Gebälk der Scheunen, in denen wir schliefen. So konnte ihn mir keiner nachts wegnehmen, denn auch das kam vor. Morgens nahm ich den dann unbemerkt immer wieder an mich.

Wir waren schon Monate unterwegs und zu unserem Schrecken sind wir eines Tages sogar ein ganzes Stück mit der Eisenbahn wieder in Richtung Osten, also zurück, transportiert worden. Das gehe nicht anders, denn nur dort gäbe es einen Anschluss.
So saßen wir an diesem Abend wieder in einer Scheune, es war mehr ein Schweinestall und wußten, daß die Russen uns noch nie so nah im Nacken gesessen haben wie an diesem Tag.

Mein Bruder Juri und ich hörten von anderen Buben, daß die Russen sogar schon im Nachbarort liegen würden und so krabbelten Juri, ich und vier andere Buben über eine Anhöhe, um die Russen vielleicht zu Gesicht zu bekommen.
Bald schon kam einer dazu und erzählte uns, die Russen müßten jeden Moment über die Landstraße da hinten kommen und wir starrten im fahlen Mondlicht auf die Baumreihe, wo die Landstraße war.
Ich hatte mir vorgestellt, daß da hunderte von Panzern und tausende von Soldaten aufmarschieren würden, doch zunächst passierte gar nichts.
Dann auf einmal, wir waren schon fast zu müde, um noch länger zu warten, hörten wir ein fernes Brummen.
Doch es kamen keine Panzer und keine ganzen Armeen, es kam nur ein einzelner russischer Kübelwagen. Vorne auf der Haube hatte er ein Maschinengewehr und drei Männer saßen in dem Wagen. Ganz langsam fuhr er über die Landstraße, das war alles.
So hatte ich mir den Einmarsch der angeblich so fürchterlichen Roten Armee nicht vorgestellt.

Wir warteten noch eine Weile ab, dann machten wir uns, fast schon ein bißchen enttäuscht, wieder zurück auf den Weg zur Scheune.
Doch als wir näher kamen, sahen wir das Licht in der Scheune war und hörten laute Stimmen.
Wir wollten uns noch verstecken, doch plötzlich standen wir vier russischen Soldaten gegenüber, die mit ihren Gewehren herumfuchtelten und uns fürchterlich anschrien.
Verstanden haben wir nichts, aber wir wußten, daß das nichts Gutes zu bedeuten hatte.
Sie stießen uns zurück zur Scheune und dort bot sich uns ein Bild des Grauens.
Herr und Frau Kumbat, unsere Nachbarn aus unserem Dorf, lagen mit durchgeschnittenen Kehlen auf ihren Strohsäcken, die anderen Männer standen mit dem Gesicht zur Wand und hatten die Hände hoch erhoben.
Von den Frauen war nichts zu sehen, doch aus dem Getöse und den Schreien aus dem nebenan liegenden Pferdestall konnten wir genau erkennen, was da vor sich ging.
Ein ziemlich dicker Offizier, der seine viel zu enge Uniform bald zu sprengen schien, grinste uns schwitzend an und fragte uns was auf Russisch. Ich wußte nicht was er von uns wollte, doch dann machte er mit zwei Fingern die Bewegungen eines Rauchers nach. Tabak! Er wollte Tabak!
‚Ich habe Tabak!‘ habe ich gerufen, ‚Ich habe viel Tabak!‘
Der Dicke machte eine Handbewegung und ich durfte den Tabak holen, die ganze Zeit ging ein Soldat mit der Pistole in der Hand neben mir her.
In meiner Aufregung fand ich den Balken nicht sofort, wo ich den Tabaksbeutel versteckt hatte. Ich suchte mit meinen Fingern verzweifelt den ganzen Balken ab, nichts!
‚Tabak‘, brüllte der Dicke und zog seine Pistole. Ich tastete den ganzen Balken ab, doch ich fand den Beutel nicht. Vielleicht hatte ich den falschen Balken erwischt, also suchte ich am Balken nebenan und wie ich da so mit den Händen dran entlang fuhr, war ich mir auf einmal sicher, den richtigen Balken gefunden zu haben.
Der Dicke spannte den Hahn seiner Pistole und grinste schon lange nicht mehr. Er brüllte wie ein Ochse und fuchtelte mit seiner Pistole herum. Gleich, gleich würde er mich erschießen.
Endlich hatte ich mit meinen Fingern den Nagel gefunden an dem der Beutel hängen musste.
Unten knackte es nur kurz, der Offizier hatte meinem Bruder Juri die Pistole auf die Stirn gesetzt.
Doch ich fand den Beutel nicht, ich wimmerte, ich weinte, aber so sehr ich auch suchte, an dem Nagel hing kein Tabaksbeutel mehr. Jemand mußte ihn weggenommen haben.
Der Soldat, der mich begleitet hatte, stieß mir die Pistole in die Rippen, doch es half alles nichts, der Tabak war weg.
Ein kurzer, trockener Knall, das Blut spritzte zwei, drei Meter weit und Juri fiel tot zu Boden.
Das war alles.
Die Soldaten verloren sofort das Interesse an uns, von irgendwo draußen rief jemand was auf Russisch und die Soldaten in der Scheune schrien uns nochmals an. Dann gingen sie hinaus.
Ich weiß nicht wie lange wir noch regungslos da gestanden haben und nicht gewagt haben, uns zu bewegen.

Die Russen waren weg, im Pferdestall müssen sich unglaubliche Dinge abgespielt haben, von denen wir Kinder nichts erfuhren. In unserer Scheune lag das Ehepaar mit den durchschnittenen Kehlen und mein Bruder Juri, der nur sterben mußte, weil ich den Tabak nicht finden konnte.“

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