Geschichten

Zucker

Wenn man an Diabetes leidet, also volkssprachlich Zucker hat, ist man im täglichen Leben mehr oder weniger eingeschränkt.
Man muß Medikamente nehmen, aufpassen was und wie viel man ißt und wann und wie viel man sich bewegt.
Außerdem ist man immer dem Irrtum seiner Mitmenschen ausgesetzt, man könne mit einer Spritze Insulin schnell bei allen vorkommenden Situationen Abhilfe schaffen.
Die allermeisten Mitmenschen können Geschichten von Zuckerkranken erzählen und in den meisten Geschichten kommt eine Pointe vor, die so ähnlich geht wie: Und dann ist der auf einmal eingeschlafen oder war ohnmächtig oder so. Und dann hat der seine Insulin-Spritze bekommen und war ganz schnell wieder fit.

Aber das ist in den allermeisten Fällen dummes Zeug.
Diabetiker leiden ja darunter, daß sie Zucker nicht ordentlich verstoffwechseln. Sie haben per se zu viel Zucker im Blut. Und das ist gefährlich, das schädigt die Nerven, die Nieren und was weiß ich noch alles.
Nur, davon merkt man nichts. Das tut weder weh, noch macht es müde oder schwindelig und führt (abgesehen von ganz krassen Fällen der Überzuckerung) auch nicht zur Ohnmacht.

Und da Insulin dafür da ist, einen zu hohen Zuckerspiegel zu senken, nimmt man das, um einen hohen Zuckerwert zu senken.

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Viel dramatischer und schneller verläuft die Unterzuckerung. Sie tritt ein, wenn zu viel vom Diabetesmedikament oder Insulin genommen wurde, wenn zu wenig gegessen wurde oder wenn der Diabetiker durch Bewegung, Aufregung und überhaupt durch Anstrengung sehr viel Zucker verbraucht hat.
Und da hilft die Insulin-Spritze herzlich wenig. In einem solchen Fall muß der Diabetiker, wenn er das noch selbst kann, Zucker zuführen. Zu diesem Zweck haben Diabetiker meist Süßigkeiten, z.B. Traubenzucker, dabei.
Die Zuckergabe hilft dann schnell über das „Loch“ hinweg, das sich durch Zittern, Kälte und Schwäche bemerkbar machen kann.

Tut er das nicht, nimmt er also nichts zu sich, dann droht das Unterzucker-Koma, ein durchaus lebensbedrohlicher Zustand. Hier sollte man als Laie auch nicht versuchen, dem Diabetiker nun auf Teufel komm raus Süßigkeiten in den Schlund zu stopfen!
Der Rettungswagen ist der einzig richtige Weg!
Die Retter werden dem ohnmächtig Gewordenen dann Zuckerlösung als Infusion geben und er wird bald wieder auf die Beine kommen.

So schnell eine Unterzuckerung eintreten kann und so schnell sie auch behoben werden kann, so wenig harmlos ist sie.

Soviel vorab, um die folgende Geschichte richtig verstehen zu können.

In dieser Geschichte spielen eine Apotheken-Verkäuferin und Herr Warnacz eine Rolle.
Herr Warnacz war 67 Jahre alt, sah aus wie der Förster vom Silberhirsch, und betörte auch in diesem Alter noch so manche Frau. Groß, breitschultrig, weißes volles Haar, immer braun gebrannt und adrett gekleidet, mochte man gar nicht annehmen, daß Herr Warnacz ein kranker Mann war. Er litt an Diabetes, so wie viele Menschen es tun, und kaum einer fand das bemerkenswert, wenn er das mal erwähnte, weil jeder noch einen Diabeteskranken kennt und es denen ja augenscheinlich sehr gut zu gehen scheint, mit ihrer offenbar ja so harmlosen Krankheit.

Doch diese harmlose Krankheit sollte Herrn Warnacz als Dreitagesgast in unser Bestattungshaus bringen.
Mit anderen Worten: Eines Tages lag er kalt und tot auf unserem Präparationstisch und wurde für den Sarg vorbereitet. Den Auftrag hatte seine Tochter erteilt, bei einem kurzen Besuch bei uns hatte sie alles unterschrieben und sie würde dann mit ihrer Mutter kommen, wenn die Urnenbeisetzung vorbei wäre, dann würde man auch alles bezahlen.

Herr Warnacz kam dann ins Krematorium und drei Tage später setze die Familie seine Urne bei.

Einige Tage zuvor war Herr Warnacz von zu Hause aufgebrochen und wollte nur mal eben kurz was aus dem Zoogeschäft holen. Seine Frau drückte ihm noch einen kurzen Einkaufszettel in die Hand und einen Kuß auf die Wange.

Zuerst besuchte Herr Warnacz eine Apotheke, um sich das Insulin zur Behandlung seiner Diabeteskrankheit zu besorgen.
Gegen den Unterzucker kaufte er dort stets einige der wohlschmeckende Bonbons, wie sie vorwiegend in Apotheken angeboten werden.

Dieses Mal entschied er sich für leckere Halsbonbons einer Marke, die er schon seit seiner Kindheit kannte.

„Ich hätte gerne noch ein Döschen Hustenbonbons, ich habe immer gerne Bonbons dabei, wenn ich mal unterzuckere“, sagte er.

Die junge Frau hinter der Theke legte ihm eine der bekannten weißroten Dosen hin und meinte: So, bitteschön, die gibt’s jetzt auch mit Kirsch und Cassis!“

„Was ist denn Cassis?“, erkundigte sich Herr Warnacz: „Ich kenn nur Chassis, das ist der Unterbau von einem Auto.“

Die Apothekenfrau lachte und erklärte: „Cassis ist schwarze Johannisbeere.“ Mit diesen Worten legte sie ihm eine Dose mit den Bonbons hin.

„Na klar, warum denn nicht“, sagte Herr Warnacz, bedankte sich noch für die nette Beratung und verließ die Apotheke.

Vor dem Gartencenter, in dem er in der Zooabteilung Fische für sein Aquarium kaufen wollte, stand für gewöhnlich um diese Zeit ein Bratwurst-Verkaufswagen und Herr Warnacz hatte vor, dort eine Bratwurst oder eine Frikadelle mit Weißkrautsalat zu essen.
Im Wagen setzte er sich schnell seine Insulin-Spritze und spritzte sich so viel von dem Hormon, daß es die anstehende Mahlzeit gut neutralisieren würde.

Auf dem Weg zum Gartencenter muß Herrn Warnacz aufgefallen sein, daß die Tanknadel seines Wagens gegen Null tendierte. Ich schreibe „muß aufgefallen sein“, da es niemanden gibt, der all diese Vorkommnisse bestätigen kann, die Geschichte fußt allein auf den Rekonstruktionen, die die Familie im Nachhinein angestellt hat.

So bog er also an einer Tankstelle ab, füllte den Tank seines Wagens und entschied sich nach einem prüfenden Blick auf den Lack seines Fahrzeugs, auch noch eine Wagenwäsche in der Autowaschanlage vorzunehmen.

Die Frau, die vor ihm in der Waschanlage war, stellte sich etwas unbeholfen an und Herr Warnacz half ihr noch beim Einschieben der Waschkarte.

Das alles dauerte eine gewisse Zeit und in dieser Zeit tat das Insulin schon seine Wirkung.

Nach der Wagenwäsche fiel Herr Warnacz dann der Einkaufszettel seiner Frau ein und er entschied, zuerst einkaufen zu gehen, damit später die neu gekauften Fische nicht zu lange in den Plastikbeuteln bleiben mußten.
Schon im Supermarkt bemerkte Herr Warnacz, dass es ihm schummerig wurde. Also nahm er drei, vier Bonbons gegen den Unterzucker kaufte ein paar Sachen und stellte sich in der Schlange an der Wursttheke an.
Nochmal nahm er einige Bonbons und meinte, der Zucker darin würde ihm jetzt über das kleine Zuckerloch hinweg helfen, bis er nachher die Bratwurst essen würde.

Doch Herr Warnacz hörte nicht einmal mehr, wie der Wurstwarenfachverkäufer fragte, ob es etwas mehr sein dürfe.
Direkt nach Aufgabe seiner Bestellung verdrehte der weißhaarige Mann seine Augen und fiel im Supermarkt einfach um.

Sofort eilten einige Verkäufer und Kassenkräfte herbei und auch der Geschäftsführer des Supermarkts sowie der Abteilungsleiter von Obst und Gemüse brauchten nicht lange, um am Ort des Geschehens einzutreffen.
Die Augen des Geschäftsführers wanderten zu Warnacz‘ Einkaufswagen, entdeckten dort zwei Flaschen Pott-Rum, die für den Rumtopf von Frau Warnacz gedacht waren, und meinte zum Obst-Gemüse-Mann: „Der ist bestimmt besoffen! Los, den schaffen wir in mein Büro. ‚Ne Tasse Kaffee und der ist wieder fit.“

Im Büro versuchte man dann, den alten Herrn wieder zu sich zu bringen.
„Vielleicht ist der gar nicht besoffen“, meinte der Geschäftsführer, doch der Obst-und-Gemüse-Leiter winkte ab: „Ach was, unsere Frau Riedinger hat gesehen, daß der mehrmals Hustenbonbons gegen seine Alkoholfahne genommen hat.“
Zwanzig Minuten brauchten die beiden Supermarkt-Helden, bis sie begriffen, daß Herr Warnacz nicht bloß betrunken war, sondern daß irgendetwas anderes nicht mit ihm stimmte.

Nochmals zehn Minuten dauerte es, bis die Rettungssanitäter da waren und weitere drei Minuten später traf auch die Notärztin ein.
Die Diagnose war schnell gefällt, vor allem weil man beim Personalausweis einen Diabetikerpass gefunden hatte: „Unterzucker!“

Mit einem Zuckertropf am Arm wurde Herr Warnacz in die Klinik gebracht. „Der wird wieder“, hatte die Notärztin noch zu den Supermarkt-Leuten gesagt, doch sie hatte sich getäuscht.

Trotz intensiver Behandlung ist Herr Warnacz nicht mehr zu sich gekommen und in der darauffolgenden Nacht gestorben.

„Ei, wenn er bloß nicht die zuckerfreien Bonbons gekauft hätte“, jammerte seine Frau später bei uns im Bestattungsinstitut.

Wer hat Schuld?
Wen will man anklagen?
Wen will man verurteilen?

Ich persönlich finde, daß die Apothekenverkäuferin einen großen Fehler begangen hat. Sie hätte genauer zuhören müssen und heraushören müssen, daß der Mann die Bonbons wegen ihres Zuckergehalts haben wollte. Stattdessen hat sie ihm zuckerfreie Bonbons verkauft.

Ach ja, ob da jemals etwas untersucht wurde?
Nein, Herr Warnacz ist eingeäschert worden, seine Asche wurde im Grab seiner Eltern beigesetzt und Frau Warnacz und ihre Tochter Rita haben später aus den Kassenzetteln mit den aufgedruckten Uhrzeiten und dem was die Leute an der Tankstelle und im Supermarkt erzählten, alles rekonstruiert.
Wir konnten auch nichts mehr machen, als wir davon erfuhren, war der Leichnam längst eingeäschert.
So steht auf dem Totenschein „Organversagen nach hypoglykämischen Koma“.

Wollt’s nur mal erzählen, weil gestern wieder einer zu mir meinte, seine Erkältung sei schlimmer als meine Zuckererkrankung.

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